Ulrike Brykczynski (13)

Im Bann der Wörter

Kim saß vor einem dicken Stapel Bücher und starrte auf die bunt bedruckten Einbände. Er wusste nicht, ob er es wagen sollte, eines von ihnen anzufassen, aufzuschlagen, zu lesen. Er hatte Angst, wieder in diesen Bann gezogen zu werden. Vorsichtig hob er das oberste Buch an. Es war in rotes Leder gebunden und hatte einen Umschlag aus Papier, auf dem Kamele mit ihren Reitern in einer gelben Wüste abgebildet waren. Der Titel war in verschnörkelter hellblauer Schrift darüber gesetzt. Es sah hübsch aus. – Nur bedrucktes Papier. Wörter, die ein anderer Mensch geschaffen hatte, über eine Welt und über Personen, die es gar nicht gab. Wieso sollte er nicht einfach anfangen zu lesen?


Es war nicht immer so gewesen, dass Kim Angst vor Büchern gehabt hatte. Als er kleiner gewesen war, hatte er sehr viel gelesen. Jede Woche war er in der Bibliothek gewesen und hatte sich alle möglichen verschiedenen Bücher ausgeliehen: Fußballbücher, Abenteuerbücher, Tiergeschichten, Märchen, Science-Fiction-Romane, Detektivgeschichten, Bücher über Erwachsene und Kinder, über reale Wesen und Außerirdische, über Feen und Trolle, über Reisen und Dinge, die zu Hause geschahen.

Kim war immer ein ruhiger, zurückhaltender Mensch gewesen, der auch in der Schule nicht auffiel. Er brachte weder gute noch schlechte Leistungen, war weder totaler Außenseiter noch einer der Anführer der Gemeinschaft. Er war immer freundlich, doch drängte sich nie auf. Und am liebsten träumte er sich in Fantasiewelten. Nicht in Welten, die er sich selbst ausgedacht hatte, sondern in diejenigen aus den Büchern, die er gelesen hatte. Er wollte zu gerne als Sherlock Holmes in England sein, als kleiner Hobbit in Mittelerde oder als Ronja Räubertochter auf der Mattisburg.

Sein Vater sagte immer: »Junge, sei doch nicht immer so ein Träumer. Benimm dich doch mal ein bisschen mehr wie die anderen auch: Spiel Fußball, lad dir mal ein paar Freunde nach Hause ein oder geh abends ins Kino!«

Doch Kim las lieber über andere Jungen, die Fußball spielten, sich mit ihren Freunden trafen oder spannende Filme sahen.

Seine Mutter forderte ihn immer auf: »Sei nicht immer so faul, Kind, hilf mir im Haushalt – trag doch heute wenigstens den Müll ’runter – und wenn du nicht willst, spiel wenigstens mit deiner Schwester!«

Doch Kims Lieblingsbeschäftigung war es, sich mit seinem Meerschweinchen aufs Sofa zurückzuziehen und mithilfe der Bücher all jene Wünsche zu ignorieren.

Er hatte keine Probleme damit, von den Eltern deswegen ständig ermahnt zu werden. Er lernte es, die Umwelt aus seinem Kopf fern zu halten – mal kürzer, mal länger, je nachdem, wie lange es dauerte, bis ein Buch ausgelesen war. So verschwand er jeden Tag aus seiner eigenen Welt, nur sein Körper blieb auf der Couch zurück, und mit seinem Verstand erlebte er in anderen Welten die tollsten Abenteuer.

So geschah es auch an jenem Tag, der alles veränderte. Seine Eltern gingen mit der kleinen Schwester zum Kindergartenfest. Er hatte es schon gewusst, er hätte ja mitkommen sollen. Doch am Tag zuvor hatte er sich einige Bücher besorgt, die er noch nicht gelesen hatte, und lag, mit dem Meerschweinchen auf dem Bauch, auf seinem Lieblingsplatz. Draußen regnete es ohne Pause, schon den sechsten Tag, und der Regen wurde immer stärker. Kim merkte es aber nicht, denn er war gerade als Ritter im Mittelalter, wo er seine größte Schlacht erlebte, mit Schwert und Lanze bewaffnet. Sein prachtvoll geschmücktes Schlachtross schnaubte, und schon ging er auf den nächsten Gegner los. Er wurde in einen heißen Kampf verwickelt, der sehr kräfteraubend war.

Mit einem lauten Quieken sprang das Meerschweinchen vom Sofa. Als es landete, platschte es, und das eben noch warme, glänzende Fell wurde nass und rau. Ängstlich sprang es durch das Wohnzimmer und suchte nach einem trockenen, sicheren Schlupfwinkel, doch es fand keinen. Es sprang auf das Sofa und schrie. Doch das Wasser kam ihm immer näher.

Was das Meerschweinchen nicht wusste, war, was passiert war: Die Wasserleitung der Kanalisation, die vom Gulli unter dem Haus entlanglief, hatte dem Druck des immer wieder neu hinzuströmenden Wassers nicht mehr standgehalten und war geplatzt. Das Wasser war ausgeströmt und hatte den Boden des Kellers gesprengt, sodass dieser vollgelaufen war. Nun kam es auch im Erdgeschoss an …

Kim kämpfte noch immer gegen die feindlichen Ritter. Nicht mehr gegen den gleichen Mann, der war längst erledigt, doch die anderen waren in der Übermacht. Trotzdem kämpften Kim und seine Männer ohne Pause, sodass die Zahl der Feinde immer übersichtlicher wurde. Obwohl die Sonne schien, wurde ihm kalt und er fühlte sich nass. Er bekam keine Luft mehr und sah alles ein wenig verschwommen, was er auf die Erschöpfung zurückführte. Der Kampf neigte sich dem Ende zu.

Kim blätterte die letzte Seite seines Buches um und seufzte. Das heißt: Er wollte seufzen, doch atmete dabei einen ganzen Schwall Wasser ein. Schlagartig wurde er in seine eigene Welt zurückversetzt. Er setzte sich auf und hustete, bis alles Wasser aus seiner Lunge verschwunden war. Er sah, was passiert war: Das Wasser stand ihm buchstäblich bis zum Hals und stieg noch immer. Dann schaute er sich um. All die alten Bücher im Bücherregal der Eltern waren aufgeweicht und bewegten sich nun sanft auf der Wasseroberfläche. Die Tapete schälte sich von den Wänden. Die Wohnzimmertür war von den hereinströmenden Wassermassen aufgedrückt worden und zersplittert. Ein schreckliches Szenario! Doch als er sich ein Stück drehte, sah er etwas, was noch viel entsetzlicher war: Direkt neben ihm trieb das Meerschweinchen. Es atmete nicht mehr.

Kim konnte es nicht fassen. Wieso hatte denn keiner das kleine Tier gerettet? Dann wurde ihm klar, dass er hätte retten müssen. Er war schuld am Tod des geliebten Haustieres – nein, der Bann war es, in den das Buch ihn gezogen hatte. Und in diesem Moment schwor er sich, nie wieder ein Buch anzurühren.


Die auf diesen schrecklichen Tag folgenden Jahre hatte er sich Mühe gegeben, sich so zu benehmen, wie die anderen Jungen aus seiner Klasse. Er ging nachmittags mit ihnen in den Park zum Fußballspielen, kloppte sich ab und zu mit den Kerlen aus der Parallelklasse und gewöhnte sich an, zu allem dumme Bemerkungen zu machen. Seine Leistungen in der Schule hatten sich nicht gerade verbessert, und die Bewertung seines Arbeits- und Sozialverhaltens wurde von Zeugnis zu Zeugnis schlechter. Seinen Eltern gefiel es, dass er sich Freunde zugelegt hatte und sich nicht mehr immer so absonderte, doch sie fanden es nicht gut, dass er so rüpelhaft geworden war – manchmal vermissten sie den Träumer, der er früher immer gewesen war. Auch seine Schwester litt darunter, und um das neue Meerschweinchen kümmerte er sich nicht. Kim fand sich selbst auch nicht besonders vorbildlich, und er vermisste die fernen Welten, doch er musste immer daran denken, wie viel ihn der Bann dieser dummen Wörter gekostet hatte. Er durfte ihm nicht wieder verfallen.


Und nun saß er dort auf dem neuen Wohnzimmerteppich, der inzwischen fast genauso alt war, wie es der alte gewesen war. Er hatte in einer Fußgängerzone, als er gerade auf einer Bank gesessen und Musik gehört hatte, die Bibliothekarin getroffen, die ihm früher immer die schönsten Bücher zurückgelegt hatte. Sie war immer noch so nett wie damals und schaffte es tatsächlich, ihn trotz seines Schwures zum ersten Mal seit fünf Jahren in die Bücherei zu locken. ›Ich muss mir ja nichts ausleihen‹, dachte er noch auf dem Weg dahin, doch als er endlich die langen Bücherregale sah, schmolz auch dieser letzte Vorsatz dahin. Einen ganzen Stapel hatte er unter dem Arm nach Hause getragen. Er hatte einfach nicht widerstehen können …

Zweieinhalb Stunden später kam seine Mutter nach Hause. Erstaunt stellte sie fest, dass es leise im Haus war, wie schon lange nicht. Keine Stereoanlage dröhnte, keine lauten Stimmen drangen aus dem Zimmer ihres Sohnes, und auch ihre kleine Tochter schrie ausnahmsweise einmal nicht beleidigt. Diese fand sie zufrieden schmatzend in der Küche sitzend, in einem Berg von Eispapier, und an einem Eis lutschend.

»Wo ist Kim?«, fragte sie, Böses ahnend. »Er war doch nicht schon wieder so lange in der Stadt geblieben…?«

Die Kleine schüttelte den Kopf, zeigte aber mit einem Finger aufs Wohnzimmer.

Die Mutter steckte ihren Kopf durch die Tür und sah ihren Sohn wie früher lesend auf dem Sofa sitzen, zum ersten Mal seit Jahren wieder mit einem vollkommen glücklichen Ausdruck im Gesicht.