Lilly Bacher (11)

Schlingalgen

Wütend warf Miriam die Füllfeder in den Sand. Warum musste sie für die Schule einen blöden Aufsatz schreiben, wenn es so heiß war und sie heute schwimmen wollte? Sehnsüchtig blickte sie hinüber zum blauen in der Mittagssonne glitzernden Meer. Sie stellte sich vor, wie sie in das schäumende Wasser lief, in die Wellen, und Muscheln aus dem Wasser holen würde …

»Miriam!« Miriams Mutter war aus dem Wasser gekommen und legte sich auf das Strandtuch. Miriams Strandtuch!

Sie schnappte nach Luft, sagte jedoch nichts.

»Miriam, ich sage es dir, du wirst nicht schwimmen, bevor du den Aufsatz geschrieben hast!«, schimpfte ihre Mutter und schloss die Augen. »Aus. Fertig. Punkt. Ich will keine weiteren Diskussionen!«

Miriam antwortete nicht, sondern setzte sich mit dem Schreibheft so nahe zum Wasser, das die Wellen ihre Füße gerade berühren konnten. Irgendwie würde ihr schon etwas einfallen, bestimmt. Und plötzlich, wie sie so über das Meer blickte, kamen ihr tausende Ideen zum Thema »Unterwasser«: von Meerhexen, Schlingalgen, die Menschen erwürgten, von entführten Nixen, von Schiffbrüchigen …

Sie musste das alles jetzt nur noch ordnen, das ging sicher schnell. Obwohl Miriam noch eine ganze Stunde brauchte, um die direkten Reden, die Füllwörter, die Beschreibungen zu finden, nun machte es ihr Spaß, nach den Wörtern zu greifen, Welten zu erfinden. Als sie fertig war, dachte sie an den lustigen Streich, den sie Valerie in der Schule gespielt hatte und dem sie das Aufsatzschreiben verdankte.

»Auf Zehenspitzen schlich sie sich an. Sie stand nun direkt hinter Valerie. Hinter der größten Zicke und Tussi der Welt, Miriams Meinung nach. Schnell zog sie ein kleines Säckchen aus der Hosentasche, öffnete es und schüttete den Inhalt in Valeries Hemdkragen. Als Valerie bemerkte, dass sie Pulver im Rücken hatte, war es schon zu spät. Miriam saß längst wieder brav in der Klasse.

Während der Matheschularbeit musste Miriam höllisch aufpassen, dass sie nicht dauernd zu Valerie sah, denn sonst könnte die Lehrerin merken, dass sie die Sache mit dem Juckpulver war, und außerdem würde sie bestimmt eine schlechte Note schreiben, wenn sie ihre Aufmerksamkeit nicht der Schularbeit schenkte. Es flog trotzdem auf, dass sie es war, weil Pauline, die Klassenpetze, es gesehen hatte und ihren Mund nicht halten konnte. Es hatte sich dennoch gelohnt, den es war witzig mitanzusehen, dass Valerie sich immer verrenken musste, wenn sie sich an der richtigen Stelle kratzen wollte.«

Und dem Aufsatz verdankte sie auch so einiges … sie wusste nun, wie toll das Geschichtenschreiben war, es machte so viel Spaß, es brauchte nur so lange, bis man endlich merkte, wie toll es war …

»Bist du jetzt fertig?«

Miriam hob den Kopf und blickte ihrer Mutter in die Augen.

»Ja, ich bin fertig«, sagte sie langsam und reichte ihrer Mutter den Text, »kann ich jetzt schwimmen?«

»Warte, erst will ich deine Geschichte lesen, mit einem dahergeschmierten Irgendetwas schick ich dich nicht zur Lehrerin. Das mit dem Juckpulver ist echt nicht witzig, und das weißt du.«

»Nein, weiß ich nicht«, wollte Miriam schon sagen, doch sie machte es dann doch nicht.

Ihre Mutter überflog den Text, und als sie fertig war, steckte sie die Zettel in die Badetasche und meinte: »Na gut, du kannst jetzt schwimmen.«

»Danke«, sagte sie fast verächtlich und lief ins Wasser. Sollte sie doch schimpfen, hier im Wasser konnte ihr niemand etwas anhaben außer den ekligen Algen. Miriam kicherte. Niemand außer den Algen. Ihr fielen wieder die Schlingalgen aus ihrer Geschichte ein.

»Liliam spürte etwas Schleimiges, das sich um ihre Füße schlang und sie fest packte. Erschrocken wollte sie wegschwimmen, doch das schleimige Etwas hielt sie fest, und sie zappelte nur hilflos. Im selben Moment wurde ihr klar, dass sie hier nicht mehr wegkommen konnte. Sie würde den Strand nie mehr erreichen. Sie begann zu weinen, die salzigen Tränen vermischten sich mit dem salzigen Wasser, Liliam schrie, und die Algen zogen sie langsam hinunter in die Tiefe, schlangen sich um ihre Beine, ihren Körper, ihren Hals. Sie drückten immer fester zu, Liliam spürte den stechenden Schmerz in der Brust, und dann war es vorbei. Die Algen ließen sie los, sie kam an die Wasseroberfläche, wurde von den Wellen an Land getrieben, und bald konnte man einen kleinen, leblosen Körper sehen …«

So hatte sie es geschrieben. Sie erinnerte sich an jeden Satz.

Miriam schwamm immer weiter hinaus. Ihr fiel wieder ein, woher sie die Idee mit den Schlingalgen hatte: Ihr Opa hatte ihr immer von ihnen erzählt, die grässlichen Würgealgen, denen er angeblich entkommen war. Niemand hatte ihm geglaubt, nur Miriam, die damals erst fünf Jahre alt gewesen war. Es war ihre Lieblingsgeschichte. Sie hatte sich immer so schön gegruselt dabei. Plötzlich bekam sie Angst. Sie wollte umkehren, so schnell wie möglich zu ihrer Mutter, doch im selben Moment spürte sie, wie sich etwas Schleimiges um ihre Füße schlang …