Annick Geissbühler (12)

Veränderungen

Es war ein seltsames Gefühl, wieder zurückzukehren. Etwas in ihrem Innern, das sich dagegen sträubte. Aber etwas Bekanntes lag in der Luft, das von Erinnerungen überfüllt war. Wie mochten die anderen jetzt aussehen.

Vier Monate vergingen.

Vier Monate, die sie immer mehr entfernt hatten, vergessen ließen, wie ihre Vergangenheit gewesen war.

Wer sie selbst gewesen war.

Das Vibrieren des Busses erinnerte sie an ein einst tägliches Gefühl. Es war wieder da und lag zusammen mit ihrer Umgebung fest in ihrem Herzen. Eingebrannt. Spuren schienen sie zu begleiten. War diese ferne Stimme nicht die des Scherzkekses? Und dieses Mädchen dort schien ihr bekannter zu sein, als sie es sich eingestehen wollte. Erinnerungen, gute und schlechte, geisterten irgendwo herum und warteten darauf, ihre Funktion zu erfüllen. In Verbindung gebracht zu werden. Zu leben.

Nein, die anderen hatten sie am Ende der dortigen Schulzeit ausgeschlossen. Und trotzdem waren es beinahe drei Jahre an der Schule gewesen, die ihrem Handeln wieder einen Sinn gaben. Freunde. Zum ersten Mal in ihrem Leben waren da einzelne Freunde gewesen. Sie hatte sich seit vier Monaten nicht gemeldet und die anderen auch nicht. Tolle Freundschaft. War das ihre Schuld? Sie wollte es nicht wissen.

Die Kopfhörer an ihrem Ohr. Viel zu laut. In der Musik verschwinden. Nur vermeiden, über das bevorstehende Treffen nachzudenken.

Die Erinnerungen in ihrem Kopf drängten, beachtet zu werden. Was würden sie sagen? Das war schwer einzuschätzen. Hatten sie sich verändert? Etwa alles vergessen? Oder nur im Alltag verdrängt, wie sie, die sich heute erinnerte. Dieselbe Straße, dieselbe Nummer am Bus. Derselbe Fleck Himmel. Die gewohnten Graffitis in der Unterführung.

Die mussten sie einmal abzeichnen. Sie hatte Zeichnen gehasst. Sirius stand an der Wand. Mit Knochen verziert. Es hatte für sie keinen Sinn ergeben. Ihre Zeichnung war hässlich geworden. Aber nur ihre, fand sie. Neid. Neid hatte sie schon immer verschlungen.

Es war ihr danach plötzlich egal. Ein schneller Wandel zur Resignation. Es war kein Wunder, musste sie von ihren jetzigen Freunden immer zu Selbstvertrauen ermutigt werden. Es war in ihr verkümmert. Sie kam sich hintergangen und bestohlen vor. Dazwischen jähe Schuldgefühle. Ihr hatte es an Mut gefehlt, nicht den anderen.

Diesen Jungen, der neben ihr herging, kannte sie nur zu gut. Und obwohl sie sich innerlich dagegen sträubte, wollte sie auf sich aufmerksam machen.

»Hallo, Marc.« Es war ein unsicheres Grüßen.

Er drehte sich erstaunt um. »Hi.«

Gewohnte Fragen: »Wie geht’s dir?«

Gleichgültige Feststellung: Er hatte den Stimmbruch, und sie sprach noch immer mit ihrer Piepsstimme. »Ich bestehe in der Schule; diesmal«, bemerkte er nebenbei.

»Ich auch.« – »Eine Ahnung, wer kommt?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er abwesend.

Ihm war das auch egal, das spürte sie.

Dieses Herzklopfen. Nur eine Kurzmitteilung auf dem Handy von der Wahrheit entfernt. Ist das nicht etwas plump:

»Hallo, ich liebe dich. Sag es niemandem. Willst du mit mir gehen?«

Diese Frage war ihr eigentlich zu wenig, um ihre Gefühle auszudrücken. Zu spät.

Zittern, bangen. Bitte, flehte sie dieses Gerät an. Aber das Gerät hatte keine Emotionen. Mach schon! Piepen: Ein kaltes Zeichen für eine gute Nachricht. »Ich dich auch.«

Stilles Jubeln im Bus, aber sie hätte vor Freude kreischen können.

Fast zwei Jahre lang hielt die Beziehung. Sie hatten sich nie mit Worten getrennt.

Das war wohl wahr … Aber sie hatten sich auseinander gelebt.

Ein bisschen hilflos stand sie vor dem großen Gebäude. Es herrschte reger Betrieb auf dem Schulhof. Der alljährliche Weihnachtsmarkt fand statt. Gelangweilte Schüler saßen am Computer und glotzten. Das war schon letztes Mal so gewesen. Mit ihr. Erinnerungen verfolgten sie immer wieder. Allgegenwärtig, mit Marc. Die Treppe glich einem Bergstieg in die Vergangenheit.

»Hallo, wer ist denn das?«, tönte eine Stimme hinter ihr. Sie dreht sich um. Das war Andrea, die mit ihr in die Klasse gegangen war.

»Schön, dich zu sehen!«, sagte sie, sobald sie Andrea bemerkt hatte.

»War das eine Lüge gewesen?«, fragte sie sich selbst.

Sie fand keine Antwort, stattdessen musterte sie Andrea. Sie trug einen schwarzen Pulli und bekritzelte Jeans, die hatte sie seit langem nicht gewaschen.

»In welche Stilrichtung gehst du?«, fragte sie jetzt.

Sie in der Klemme. Achselzucken. Ein Nuscheln, das wie »neutral« klingen sollte.

Was bist du? Die Frage brannte sich ein. Ein langsamer, schmerzvoller Vorgang für sie. Eine Art Blockade schien sie innerlich einzuengen.

Herbst. Die Blätter waren rot und gelb, aber trotz aller Farbenkraft schienen die Bäume krank. Geschrei. Sie jagten ihn, erneut. Sie wollte etwas dagegen tun, sie hatte es sich immer vorgenommen, wenn es passierte. Doch das nächste Mal lachte sie wieder mit. Das Opfer, ein unscheinbarer Junge, hatte gewartet. Die ganze Schulzeit. Vergebens. Die Bemerkungen waren Eisblöcke, die sich in ihm auftürmten. Es sei ihm alles egal, er brauche sie alle nicht. Dabei wollte er nichts sehnlicher. Sie ließen ihn verrückt werden. Verachtung. Er kam zum falschen Zeitpunkt. Die Gruppe war zu stark. Er sah diese Einheit wohl eher als Verschwörung an, doch sie war notwendig. Um zu stärken, etwas aufzubauen.

Und zu zerstören.

»Gehen wir etwas essen?«

»Ja«, brummte sie. So eine Veränderung zu erleben machte Hunger. Noch andere aus der früheren Gruppe kamen. Sie hatten Spaß miteinander, doch sie selbst fühlte sich immer noch fehl am Platz. Die anderen hatten sich ans Stadtleben gewöhnt und tranken auch schon viel Alkohol. War sie etwa ein Weichling? Das konnte doch nicht alles im Leben sein! Ihre ehemaligen Freunde machten ihr jetzt beinahe Angst.

Sie war es leid, sich immer nur anpassen zu müssen, um dazu zu gehören.


Sie wollte sich nicht länger bei ihnen aufhalten, sie fühlte sich so müde.

Das, was sie sich nie hätte träumen lassen, war wahr geworden: Sie gehörte nicht mehr zu ihrer Vergangenheit, dieses Kapitel in ihrem Leben war endgültig abgeschlossen. Ein für sie nun versperrter Teil ihres Lebens.

Als sie mit ihrer Mutter in den Bus stieg, fragte diese sie nach ihren Freunden.

»Sie sind kein Teil mehr von mir«, sagte das Mädchen schlicht und verunsicherte ihre Mutter damit.

»Warum denn nicht?«

Die Mutter sollte es nie erfahren. Es hatte einfach keinen richtigen Grund.

Es war nur die Konfrontation mit der Veränderung gewesen, die das Mädchen so denken ließen.

Nur die Begegnung mit einer jetzt sinnlos gewordenen Vergangenheit.