Pauline Eichstedt (13)

Ein Vogel im Regen

»… Und ich flog über Berge und Täler mit dem Wind und durch die Wolken. Die samtene Nacht war dunkel, doch der Mond schien, und ich konnte alles sehen, in einem silbrigen Licht.

Doch wo ist sie geblieben, meine strahlende Sonne? Sie ist von einem schwarzen Vogel gestohlen worden, er erstickt ihr Licht mit seinen dichten Schwingen.

Ich kann sie nicht finden.

So muss ich weiter wandern, über Berge und Täler, und der Wind jagt mich durch die Wolken.«

Japan, 1627, frühe Edozeit, die Zeit des Friedens. Hokkaido, nahe Kushiro

Lasst mich euch eine Geschichte erzählen. Von einem Wanderer, der sein Glück suchte. Sein Name war Hitaku Hisataka.

Seine Hände sind rissig, seine rechte Hand hält seinen Wanderstab fest umklammert. Seine Linke gebraucht er bloß, um sich das Klettern ein wenig zu erleichtern, indem er sich an Felsen abstützt. Der kleine schlammige Pfad windet sich mit Tausenden von Biegungen an der Bergflanke, er kriecht wie eine Schlange immer höher. Hitaku hält kurz an und richtet sich auf. Die Luft ist feucht, und der Nebel verschlechtert die Sicht zusehends. Doch es sieht wunderschön aus, wenn die blassen Schwaden zwischen den Baumwipfeln schweben oder an einer Bergflanke. Solch ein Bild strahlt tiefen Frieden aus. Man glaubt dann die Geister des Waldes wispern zu hören, ganz leise, ihre Stimmen mischen sich ins Vogelgezwitscher, und es klingt wie das Flüstern des Windes.

Hitaku ist ein Fischer, aus einem Fischerdorf in der Nähe von Kushiro. »Mein Schwert ist das Netz«, sagte er immer, »und meine Väter waren seit Generationen Fischer. Wie unwohl würd’ ich mich fühlen, könnt’ ich nicht die Gischt des Meeres auf meinem Gesicht fühlen und bei Sonnenaufgang meinen Fang zum Fischmarkt schleppen.«

»In einem bestimmten Sinne bin auch ich ein Fisch, ein Raubfisch, Ujio«, hatte er einmal zu seinem Neffen gesagt, »ich fange den Fisch, ich esse den Fisch, ich lebe von ihm.« Warum es ihn aber immer tiefer ins Landesinnere von Hokkaido zieht, erzähle ich noch. Denn es ist doch seltsam, ein Fisch in den Bergen.

Es fällt Regen in jener Nacht, als Hitaku zum ersten Mal seit langem Pause macht, kräftiger, rauschender Regen. Er prasselt auf die Blätter, und die Wege werden noch schlammiger, und wieder glaubt man sie sprechen hören, die unzähligen Stimmen der Götter und Dämonen, sie alle lachen in den Regen hinein. Doch Hitaku hat einen Schirm mitgebracht, und der Stab aus Bambus lässt sich leicht in die weiche Erde rammen. Jetzt legt er noch eine Bastmatte auf den Boden, denn er will Rast machen und etwas essen. Mühsam kramt er aus seiner schwarzen Leinentasche ein kleines Bündel hervor, einen gewürzten, getrockneten Fisch mit Reis, eingeschlagen in ein wächsernes Tuch. Er holt ebenfalls zwei rot lackierte Stäbchen aus seiner Tasche, und er isst, während der Regen immer noch unablässig auf den Schirm prasselt. Irgendwo hat er auch ein Loch gefunden und tropft hartnäckig neben Hitaku auf die Bastmatte.

Nun müsst ihr wissen, dass er nicht allein war, in den abgeschiedenen Bergen, auf den gewundenen Wegen. Immer wieder waren die Geister des Waldes ihm gefolgt, hatten ihn beobachtet, und nun sahen sie ihm beim Essen zu. Hitaku hatte, bevor er zu seiner Reise aufgebrochen war, eine Schüssel mit Reis und Nüssen vor den Tori gelegt, der am Anfang seines Weges vor einer großen Zeder gestanden hatte. Auf diese Weise hatte er die Geister des Waldes und der Berge um Erlaubnis gebeten, diesen Weg zu betreten. Sie waren nicht zornig auf ihn, sie waren neugierig, und sie spürten seinen unruhigen, flatterhaften Geist, der unermüdlich auf der Suche war.

Schließlich gab es einen Geist im Wald, der ihm helfen wollte, die Familie Hisataka kannte er, und er belächelte den Mut, mit dem der Fisch den Wald durchquert und den Berg erklommen hatte, bloß um sein Glück zu suchen. Und er wusste um den Traum, den er gehabt hatte, er hatte ihn gespürt, wie er sich durch den Wald geschlichen hatte, er hatte gehört, wie er mit dem Wind über die Berge geflogen war.

Ja, Hitaku hatte sein Glück verloren, seine Unbeschwertheit, als Fisch im Wasser zu schwimmen, und er sehnte es sich zurück. Er hatte einen Traum gehabt, der hatte ihn sehr nachdenklich gemacht. Seine Sonne war gestohlen worden, dem Fisch war sein Wasser gestohlen worden, und er lebte seitdem mit einer ständigen Unruhe. Der Traum hatte ihm seine wachsende Langeweile bewusst gemacht, seine Lustlosigkeit, mit der er vorher schon gearbeitet hatte. Irgendwie war dem Fisch mit der Zeit sogar das Schwimmen langweilig geworden. Seit er den Traum gehabt hatte, war alles in Frage gestellt worden. Die Langeweile verwandelte sich in Unruhe und Unzufriedenheit, er wurde zerstreuter, und immer wieder blickte er zu den Bergen hoch und träumte von fernen, exotischen Orten und vernachlässigte seine Arbeit. Er vergaß, das Netz am Bootsrand zu befestigen, sodass sein älterer Sohn hinterher schwimmen musste, und er ließ durch Unachtsamkeit einen großen Tintenfisch zurück ins Wasser gleiten, für den er am Fischmarkt sicher einen hohen Preis erzielt hätte.

So war er aufgebrochen, um in den Bergen in sich hineinzuhorchen, und ihm fehlte das Meer nicht, denn er sah neue Orte. Doch nie hielt es ihn lange am selben Platz, ständig ging er fort, er ging immer weiter.

Der Name des Waldgeistes ist Mishu, und er lässt sich neben Hitaku auf die Bastmatte sinken. Hitaku spürt wohl, dass er da ist, obwohl er ihn nicht sehen kann.

»Wanderer«, fragt Mishu, »warum bist du gekommen?«

Hitaku antwortet nicht sofort, sondern stellt erst einmal seine Reisschale ab und verneigt sich in die Richtung, wo er die Stimme vernommen hatte. »Ach weißt du,« sagt er nun. »Ich habe einen Traum gehabt, er hat mich sehr verändert. Ich bin ein Fisch, und nun ist aus mir ein Vogel geworden, unablässig fliege ich durch die Berge und suche mein Glück.«

»Hitaku!«, erwidert Mishu streng, »Dir fehlt nicht das Glück. Du hast eine Frau und fünf Kinder. Du hast ein Haus und ein Boot und ein Netz, mit dem du fischen gehen kannst. Du bist gesund, und deine Liebsten sind es auch.«

»Verzeih«, murmelt Hitaku, der jetzt Angst hat, den Waldgeist zornig gemacht zu haben, »Ich bin undankbar. Aber ich fühle mich wie ein Fremder in meinem Dorf, und ich weiß nicht, warum.«

Mishu nickt nachdenklich. »Ja, auch ich habe diesen Traum gesehen, sicher anders als du. Aber weißt du, vielleicht hat es ja auch sein Gutes. Dieser Traum hatte die Fragen gestellt, die du dir nicht eingestehen wolltest.«

Hitaku nickt langsam.

Er sagt nichts, also fährt Mishu fort: »Der Traum spricht auch über deine eigene Unsicherheit. Du weißt nicht, wohin du gehörst, und diese Frage beschäftigt dich mehr als alles andere. Aber gehört der Fisch nicht ins Meer? Vielleicht müsstest du das Meer wiederentdecken, es gibt noch so viele andere Fische, die du fangen kannst, Hitaku. So viele Tintenfische, um deren Preis du dich streiten kannst.«

Hitaku bekommt etwas Sehnsucht nach seinem Dorf. Er schließt die Augen, und hört das Rauschen des Meeres und das Geschrei der Möwen. Und er sieht den beruhigenden Anblick des Wassers, mal türkis und durchsichtig, dann wieder schiefergrau und aufgewühlt. »Soll ich einfach zurückgehen?«, fragt er vorsichtig. Denn nun sehnt er sich wirklich, denn er ist ein Fisch und will ins Wasser zurück.

Nun lacht Mishu mehr als am Anfang. Er lacht und lacht, und der Regen scheint Hitaku freundlicher zu werden, das Grün strahlender, und selbst der Nebel scheint zu tanzen, und er tanzt um die Bäume. Mishu lacht immer lauter. »Hitaku!«, gluckst er. »Zweifel sind das Vorrecht jedes Wesens. Nur weil du an dir selbst gezweifelt hast, bedeutet das nicht das Ende. Im Gegenteil. Das bedeutet eine Wendung. Und du hast gelernt, dass auch ein Fisch sich unwohl fühlen kann, selbst im Wasser. Suche nicht nach deiner Sonne, denn du trägst sie im Herzen. Und die Wolken sind jetzt weg. Und sorge dich nicht weiter. Du bist ein Fisch, und nun kehrst du ins Meer zurück.«

Hitaku denkt lange über die Worte nach, auf seiner Wanderung nach unten. Er freut sich, seine Familie wieder zu sehen, und darauf, mit seinen Söhnen fischen zu gehen. Und er nimmt sich vor, nicht mehr klein beizugeben, in Feilschereien um Tintenfische. Er ist ganz in Gedanken versunken, sodass er gar nicht bemerkt, wie sich auf seine Hand ein kleiner Vogel gesetzt hat, denn er hatte Schutz vor dem Regen gesucht. Nun blickt ihn das kleine Rotkehlchen erschrocken aus seinen Knopfaugen an. Doch da lacht Hitaku, erst kichert er leise, und dann schüttelt er sich so sehr, dass er sich auf einen Stein setzen muss. Was kümmert es ihn, dass er spitze Kanten hat.


Mishu sah ihm wohlwollend zu, von oben, oben in den dichten Bäumen, und er schmunzelte.

So kehrte Hitaku Hisataka zu seinem Dorf zurück, denn der Fisch wollte ins Wasser. Und seine Frau und seine Kinder sahen ihn kommen, und sahen, wie auf seiner Schulter ein Rotkehlchen saß, zwitschernd und beschützt vom Schirm. Und, glaubt ihr, dass Hitaku sein Glück wieder gefunden hat?