Irene Diwiak (13)

Es kommt

In dieser Geschichte kommen drei wichtige Begegnungen vor: Die vom Bügler und der Birgit, die vom Bügler und der Simone Wind und die von den Büroarbeitern und dem »es«.

Der Bügler redete sich ein, dass es so was wie Selbstmord war. Oder besser, es lag nur an seinem edlen Gemüt, er war der Kapitän, der mit seinem Schiff unterging. In diesem Fall der Chef, der sich samt seinem Büro vernichten ließ.

Das war natürlich völliger Blödsinn, der Bügler war ein recht umgänglicher Mensch, aber ein solch edles Gemüt, wie er sich weismachen wollte, hatte er auch nicht. Es lag am Rhythmus, dass er das Büro betrat, obwohl er wusste, dass es das letzte Mal war. Der Rhythmus ließ den Bügler auch Tag für Tag hingehen, er akzeptierte keinen Widerstand. Wer einmal drinnen war, im Rhythmus, der kam nicht mehr raus. Der musste ins Büro gehen, der hatte keine Wahl, jeden Tag zur selben Zeit. Sogar wenn er wusste, dass es kommen würde, was den sicheren Tod bedeutete. Der Bügler und seine ganzen Angestellten waren allesamt dem Rhythmus verfallen, und der Bügler erwartete, dass sie alle da sein würden. Außer der Birgit vielleicht.

Übrigens war der Lift kaputt. Der Bügler musste zu Fuß gehen, bis unters Dach des Wolkenkratzers. Die Stufen waren nass, gerade erst geputzt. Wenn man alleine sehr lange geht, dann denkt man sehr viel. Der Bügler dachte zu erst an die Birgit. Sie war früher einmal Krankenschwester gewesen. Sie war eine gute, das sah man ihr an. Nur lange Finger hatte sie gehabt. »Elster« war ihr Spitzname, denn sie ließ nicht nur einmal die glitzernden Gegenstände ihrer Patienten mitgehen. Dann wurde sie rausgeschmissen beim Krankenhaus, nur eine kleine Geldstrafe hatte sie der Polizei zahlen müssen. Zeitgleich eröffnete der Bügler ein Büro, da stieg sie sofort ein, als erste Sekretärin. Seltsam war nur, dass sie als einzige keinen Rhythmus hatte, sie ging einmal ins Büro und einmal nicht. Der Bügler nannte dies jedoch Unverlässlichkeit und war sich ziemlich sicher, sie würde heute nicht kommen.

Er hatte die Hälfte seines Weges zurückgelegt, da dachte er daran, warum er das Büro gebaut hatte. Er wusste nur noch, dass es nicht wegen des Geldes war. Geld verdiente er ja nicht. Es kann aber auch nicht gewesen sein, dass er es erbaute, weil er irgendwas damit erreichen wollte. Der Bügler war sich ja nicht einmal sicher, was dieses Büro jetzt bewirkte, ob man dort irgendetwas erforschte, oder etwas vermarktete oder sonst was. Jeder arbeitete dort, aber jeder tat, was er wollte. Der Bügler wusste übrigens über es Bescheid, als er sein Büro hierhin baute. Dass es irgendwann kommen und alles verschlingen würde, aber irgendwann einmal. Irgendwann war jetzt, ein seltsames Gefühl.

Der Bügler dachte nicht besonders schnell; als er den Schluss gezogen hatte, dass er das Büro umsonst gebaut hatte, stand er schon mitten im Geschehen, Leute liefen geschäftig hin und her, mit Mappen und Heften in der Hand. Es war die gleiche Stimmung wie immer. Auch alle Angestellten wussten, dass es heute kam, aber sie schienen nicht viel darüber nachzudenken. Der Bügler machte seinen Rundgang, wie immer, er blickte allen über die Schulter, motivierte sie oder machte sie fertig, je nachdem. Dabei versuchte er herauszufinden, was sie da taten, aber das war schlicht unmöglich. Manche schienen irgendetwas herzustellen, aus Ton oder Lehm oder so was, was wieder andere verkauften an die nächsten, die dann Rechnungen erstellten und den Wert schätzten, dann kaputt machten, um wieder Neues herzustellen. Und alles geschah ganz ohne System.

Als der Bügler glaubte, alles gesehen zu haben, öffnete er die Tür zum Sekretärinnen-Raum. Dort saßen zehn Sekretärinnen in einer Reihe aufgefädelt, tippten unheimlich wichtige Briefe und nahmen unheimlich wichtige Telefonate entgegen. Der Bügler wunderte sich. Der Platz der ersten Sekretärin war nicht leer. Dort saß die Birgit, die Beine überschlagen und eine Zigarette rauchend, mit dem Zeigefinger der linken Hand stockend eine E-Mail tippend. Sie sah auf, als der Bügler hereinkam. Die Birgit und der Stockerl-Hans waren die einzigen, die der Bügler auch so ein bisschen kannte, beinahe konnte man es sogar Freundschaft nennen.

Die Birgit war heute blass und hatte einen langen nussbraunen Zopf, ein paar graue Haare hatten sich dazugemischt. Der Bügler kannte die Birgit so gut, dass er wusste, dass sie gestern wohl getrunken habe, einen dieser hoch alkoholischen Cocktails, wie sie es immer zu Hause hatte, für den Notfall, falls sie einmal traurig wäre.

Die Birgit stand jetzt auf und ging wie eine alte Frau auf den Bügler zu. Der Bügler fühlte sich verpflichtet, etwas zu sagen. »Birgit, du auch da?«

Die Birgit nickte. »Es kommt, endlich«, sagte sie müde. »Ich habe darauf gewartet. Ich hab mir mein eigenes Leben versaut, so blöd muss man sein. Ach, warum hab’ ich nur so eine Leidenschaft fürs Stehlen? Sonst wäre ich nie hergekommen, sonst hätte ich nie all diese elenden Menschen kennen gelernt, wäre nie selber elend geworden. Aber weil es so ist, wie es ist, befreit es ja uns alle.« Der Bügler war etwas verwirrt, als die Birgit ihm das alles erzählte. Sie war schon immer eine Pessimistin mit melancholischem Blick gewesen, doch der Bügler hätte nicht erwartet, dass sie so was sagen würde.

»Ja, es kommt!«, antwortete er, obwohl er genau wusste, wie dumm diese Antwort war. Aber was hätte er sonst sagen sollen?

»Sie sind nicht so elend wie ich, Bügler!«, ergänzte die Birgit. Wenn man sie so anschaute, musste man ihr traurigerweise recht geben.

Die Birgit hatte, ganz untypisch für sie, ein Trachtenkleid an. Die aufgenähte Schürze hatte eine große Tasche. Dem Bügler fiel die Schürzentasche jetzt auf, weil sich irgendetwas darin bewegte. Die Birgit fuhr in Zeitlupentempo mit ihrer Hand hinein. »Ein Geschenk, es ist …«, sie holte etwas Rosarotes heraus, »… ein Leben!«

Der Bügler fragte sich zu erst, warum das Leben rosarot war, bevor er sich überhaupt fragte, woher die Birgit es hatte. Es sah ein bisschen aus wie ein Blümchen, das Leben. Oder eher noch wie eine Flasche. Die Birgit gab es dem Bügler. »Nehmen Sie es ruhig! Ich kann es ja sowieso nicht behalten. Ich tät wieder stehlen gehen, wenn ich es überleben würde, das weiß ich. Nein, zuerst tät ich den Cocktailvorrat plündern, aber dann stehlen gehen. Aber Sie, Sie, Herr Bügler, könnten was damit anfangen!« Es war eigentlich unnötig, das dem Bügler zu sagen, weil er das Geschenk sowieso, ohne sich zu zieren, annahm. Er bedankte sich nicht einmal richtig. Nein, er ging nur mit dem flaschenförmigen Leben unter den Arm geklemmt hinaus, ein bisschen lächelnd vielleicht. Irgendwie kam es ihm so vor, als wäre die Birgit hinter ihm zu Staub zerfallen. Das ging natürlich nicht, aber aus den Augenwinkeln sah es so aus.

Der Bügler kam wieder in den ersten Raum. Es wurden Tonvasen gemacht und wieder kaputt gestampft. Und dazwischen wurde eifrig gerechnet, die Leute gaben hurtig endlose Zahlen in ihre kleinen Computer ein, wie jeden Tag seit fünf Jahren. Ganz schlagartig wurde dem Bügler bewusst, dass es doch einen Rhythmus gab, von wegen edles Gemüt, ha. Er war gekommen, wie alle anderen gekommen waren, im Wissen, dass es kommen würde. Er war gekommen, weil der Rhythmus es wollte. Die Einzige, die freiwillig gekommen war, war die Birgit. Aber ein edles Gemüt hatte die Birgit auch nicht. Fastenzeit. Warum dachte der Bügler jetzt an Fastenzeit? Ach ja, wegen der Minze. Sie war Religionslehrerin gewesen, als der Bügler noch zur Volksschule ging. Die Minze hatte immer gesagt: »Fasten ist, wenn man etwas hergibt, das man mag.« Die Minze fiel ihm jetzt auch ein, weil sie ausgeschaut hatte wie die Birgit, blass, mit nussbraunem Zopf und Trachtenkleid. Die Birgit fastete nicht, wenn sie ein Leben hergab. Die Birgit wollte ihr Leben nie so haben. Sie wollte es mit Gewalt ganz anders machen, was ihr nie gelungen war.

Jetzt erst fragte sich der Bügler, woher sie es hatte. Ihr eigenes kann es nicht gewesen sein, das hatte sie ja noch, und überhaupt konnte sich der Bügler nicht vorstellen, dass das Leben von der Birgit so glatt und rosa war. Ob es auch Diebsgut war? So wirklich interessierte den Bügler die Frage aber nicht, er hatte keine Lust, weiter zu philosophieren. Philosophieren, ein schönes Wort, zwei Mal »ph«.

Der Bügler ging weiter. Die es-Überwachungszentrale war einen Stock tiefer. Jetzt, wo man es ja förmlich spürte, musste dort die Hölle los sein. Oder auch nicht, wegen des Rhythmus. Auf der ersten Stufe erkannte der Bügler, wie sehr er zur Gleichgültigkeit neigte. Gleichgültigkeit ist aber auch was Schönes, wenn man weiß, dass es sein letzter Tag auf dieser Erde ist, dann erst recht. Der Bügler ging auf die zweite Stufe. Und dann übersprang er die dritte und die vierte Stufe und sprang auf die fünfte. Umso weniger Stufen, umso weniger Gedanken. Er wollte jetzt die Gleichgültigkeit entfalten lassen, poetisch gesagt. Und nicht poetisch gesagt, er wollte einfach nicht mehr denken. Aber eines dachte er doch noch: Die Birgit hat ihm das Leben gegeben, weil er außer ihr der Einzige war, der noch dachte, alle anderen im Büro taten nur noch, was sie taten, ohne in irgendeiner Art und Weise mitzudenken. Da wird sich die Birgit schon was gedacht haben. Er übersprang noch zwei Stufen, und da merkte er, die Gleichmütigkeit ist lustig, die macht Spaß, da soll die Birgit denken, was sie will.

Er sprang weiter, bis er vor einer Doppeltür stand. Sie war aus Stahl. Der Bügler wusste das Zeichen. Dreimal mit der flachen Hand klopfen. Es rührte sich nichts. Da sollte doch der Hans Stockerl sitzen und es bewachen! Der Bügler zückte den Zentralschlüssel. »Hans?«, rief er in den dunklen Raum hinein. Der Hans Stockerl war der zweite, den der Bügler persönlich kannte. Er arbeitete in der Überwachungszentrale, er berechnete die Wege, die es machen würde, er hatte auch ausgerechnet, dass es heute um vier kommen würde und alles verschlingen.

Der Bügler drückte auf den Lichtschalter. Das grelle Licht ging sofort an, da saß der Hans am Computer, ein leeres Kaffeeheferl in der Hand. Er schlief, mit dem Kopf auf der Tastatur. Da rannte der Bügler. Wie es aussah, wurde die Gleichgültigkeit größer, umso tiefer man ging. Der Hans war schon so gelassen, dass er schlief.

Auf der Treppe stieß der Bügler mit einem jungen Mädchen zusammen. »Arbeitest du denn nicht?«, schnauzte er sie an.

»Was soll ich denn arbeiten?«, fragte das Mädchen frech.

Der Bügler wunderte sich. Konnte das Mädchen auch noch denken? Hatte sie vielleicht nicht einmal einen Rhythmus?

»Soll ich vielleicht Tonkrüge machen, die dann wieder kaputt gemacht werden, damit ich daraus wieder neue machen muss? Neue, die dann auch wieder kaputt gemacht werden?«

Der Bügler wunderte sich noch mehr. »Wie heißen Sie?«

»Wind!«

»Ich will sie in meinem Arbeitszimmer sehen, in fünf Minuten!« Und dann flüsterte er dem Mädchen noch zu: »Gehen Sie nicht weiter runter!«

»Ich muss nur auf die Toilette!«

Der Bügler hastete in sein Arbeitszimmer ’rauf, und gleichzeitig schaute er der Wind zu, wie sie auf die Toilette verschwand. Es kam ihm selber komisch vor, dass er nirgends hineinkrachte. In seinem Arbeitszimmer war er heute noch gar nicht. Es erinnerte an ein Wohnzimmer der Nachkriegszeit, nur der große Flachbildcomputer passte nicht ins Bild. Der Bügler ließ sich auf die großteils zerfetzte Bank fallen. Da war noch jemand, der dachte, außer der Birgit! Sich selbst zählte der Bügler gar nicht mehr dazu, seine Gedanken wurden immer weniger, besonders schnell hatte er noch nie gedacht, doch es wurde immer lahmer, sein Hirn. Na ja, irgendetwas war jedenfalls noch drinnen, im Gegensatz zu den Gehirnen seiner Angestellten. Die Tür öffnete sich, das Mädchen kam herein, die Wind.

»Sie können noch denken?«, fragte der Bügler müde. Er war plötzlich müde.

»Das hoffe ich doch!«

Der Bügler begann zu schwitzen. Es war schon nah. Die Wind setzte sich auf den kalten Boden. »Entschuldigung, mir ist etwas schwindlig!« Sie spürte es auch.

»Wie heißen Sie mit Vornamen?«, fragte der Bügler.

»Simone.«

»Simone Wind, ein sehr schöner Name. Was wären Sie geworden, wenn Sie nicht in meine Firma gekommen wären, Frau Wind?«

Die Simone Wind lächelte. »Sagen S’ Simone. Ich wollte Krankenschwester werden.«

Da wurde der Bügler hellhörig. Die Simone wollte auch eine Krankenschwester werden, wie die Birgit. »Interessant!«, sagte der Bügler. »Kennst du zufällig eine Birgit, eine Sekretärin von mir?« Der Bügler fühlte sich jetzt erlaubt, die Simone zu duzen, wenn er schon Simone sagte.

Das Mädchen nickte. »Die alte, junge Frau kenn’ ich.« Der Bügler kratzte sich demonstrativ am Kopf, und die Simone erklärte: »Ich glaub nicht, dass die Birgit Moossockel so alt ist!« Genau, Moossockel hieß die Birgit, der Bügler hatte sich das einmal an einem langweiligen Arbeitstag gefragt, an einem, wo die Birgit nicht gekommen war. Moossockel.

»Ich glaub, die ist erst höchstens Mitte dreißig, allerhöchstens vierzig Jahre alt. Aber sie schleicht immer so herum, leicht gebeugt, als hätte sie einen Buckel.«

»Schwere Zeit …, auch Krankenschwester gewesen!« Mehr brachte der Bügler gar nicht mehr über die Lippen. Er dachte auch nicht mehr viel mehr. Eigentlich wusste er nur noch, dass vor ihm eine Simone Wind saß, die denken konnte. Und dass er ein Leben umklammert, ein flaschenförmiges, rosarotes Leben, das er von einer Birgit bekommen hatte, die einmal Krankenschwester war.

Die Simone zitterte. Und doch sprach sie weiter, sehr ruhig. »Sie hat geklaut wie ein Rabe, die Birgit, heißt es. Aber ich kann mir das nicht vorstellen. Sie sieht nicht reich aus. Arm aber auch nicht. Es ist doch irgendwie ein Naturgesetz, dass die Reichen nach mehr streben und die Armen sich holen müssen, was sie brauchen. Auf die Birgit trifft gar nichts zu.« Der Bügler kam nicht mit, er wusste nur, dass Simone Recht hatte, egal, was sie da sagte. »Die Birgit ist ein Opfer der Langeweile. Die stahl, weil sie nichts Besseres aus sich zu machen wusste. Sie kennen die Birgit schon lang, Herr Bügler, hat die ein gutes Selbstvertrauen?«

»Nicht so« röchelte der Bügler.

Es war da, die Simone Wind saß am Boden und zitterte ein wenig.

Der Bügler hatte inzwischen das Gefühl, zu krepieren. Nein, er konnte gar nicht krepieren, er hatte ja ein Leben in den Händen, ihm konnte ja gar nichts passieren.

»Ist sie geschlagen worden, als Kind?«, fragte sie.

Der Bügler antwortete nicht.

»Die ist als Kind wohl total niedergemacht worden, dann ist sie älter geworden und Krankenschwester, wahrscheinlich gegen ihren Willen. Dann musste sie sich halt selbst beweisen, was sie kann, und hat gestohlen, ist sich wohl ziemlich gut vorgekommen, bis man sie erwischt hat.«

Im Gang fielen die Lichter aus. Es fraß nicht nur Gedanken, es fraß auch Licht.

»Werde Psychologin, Simone!«

Sie lächelte und aus ihrem Mund kam Rauch, so kalt war es. »Dazu wird es nicht mehr kommen!«

Der Bügler nickte traurig. Jetzt bemerkte er erst, warum ihm nicht kalt war. Da rosarote Leben strahlte Wärme aus. Es fraß auch Wärme, nur die des Lebens nicht. »Sag, warum kannst du denken?«, fragte der Bügler. Das Leben schien schon zu funktionieren, er dachte sogar schon wieder halbwegs vernünftig.

»Nicht mehr lang!« meinte Simone. Sie deutete mit dem Blick zur Tür, die schon eingefroren war. Im gleichen Moment gingen die Lichter aus. »Ich glaube, ich bin vorm Rhythmus geflohen!«

Der Bügler schaute sie mit großen Augen an. Gleichzeitig drückte er sein Leben an sich.

»Es war so: Ich hab’ ja nicht einmal die Matura gehabt, als ich hier einstieg. Ich war jung und brauchte das Geld, verstehen Sie?«

Der Bügler nickte. »Komm her!«, sagte er dann zur Simone, sie kam zu ihm und versuchte, auch etwas Leben abzubekommen, aber die Wärme reichte nicht für beide.

»Warum haben S’ mich in Ihr Büro kommen lassen, Bügler?«, fragte die Simone unvermittelt, ihre Hände am Leben reibend.

»So halt«, sagte der Bügler erst einmal, und dann: »Ich wollt’ wissen, ob du weißt, was die Firma produzierte.«

Die Simone lächelte. »Woher soll ich das wissen?«

»Hab’ halt ’dacht.« Der Bügler hat nicht halt ’dacht. Er hatte nur ein junges Mädchen gesehen, das die Sinnlosigkeit von allem verstanden hat, genau wie er. Warum er mit ihr sprechen wollte? Es ist erfreulich, mit jemandem zu sprechen, der nicht mehr und nicht weniger weiß als man selbst. Aber vielleicht hatte der Bügler, aus welchem Grund auch immer, gehofft, sie könne es erklären. Aber wie hätte sie sollen.

»Jetzt ist es im Sekretärinnenraum!«, flüsterte Simone mit klappernden Zähnen.

»Jetzt ist die Birgit tot!«, flüsterte der Bügler zurück.

»Die alte junge Birgit!«

»Es kam von unten herauf.«

»Soll ich beten?«

Der Bügler schaute die Simone groß an.

Sie sprach aber weiter: »Ich hab’ mir vorgestellt, dass ich bete, wenn ich sterbe. Und dass alle meine Enkelkinder um mich versammelt stehen und weinen. Und ein Engel kommt und mich abholt.«

»Enkel …« Der Bügler fand es unfair, warum einige Mädchen später Enkel haben sollten und einige nicht. Wo sie doch alle, irgendwie jedenfalls, gleich waren, die Mädchen. Er hätte sowieso keine mehr gehabt. Wer einmal dem Rhythmus verfallen war, der hatte schlechte Aussichten auf eine Beziehung. Der Bügler hatte eine Freundin gehabt, bevor er die Firma hier gründete. Er schrieb sich, nachdem sie weggelaufen war, ihren Namen auf ein Blatt Papier: »Anneliese«. Er wollte sie nicht vergessen, wie er, zum Beispiel, seinen eigenen Vornamen vergessen hatte. Der Rhythmus war gemein, er setzte einem den Floh ins Ohr, dass die Arbeit wichtiger war als eine »Anneliese« oder sonst ein Mensch. »Oberboss« murmelte der Bügler. »Der Rhythmus ist ein Oberboss!« Er wartete auf irgendeine Reaktion von der Simone.

Sie sagte nichts mehr. Sie lag auf seinen Knien, sie war tot. Erfroren, es hat sie umgebracht. Der Bügler weinte nicht, obwohl er sich gedacht hatte, dass er es würde. Ihm wurde nur schlagartig bewusst, dass es da war. Und dass er schuld war, dass so viele gestorben waren. Ja, er hätte der Simone sein Leben geben können, aber dann wären die Birgit und der Stockerl-Hans trotzdem gestorben, und auch all die anderen. Er hätte früher eingreifen sollen, er hätte das Büro schließen sollen. Es wäre eine Überwindung, eine Umstellung gewesen, aber dann wäre er im Zug nach Tirol gesessen, um seine Anneliese wieder zu treffen. Alle anderen würden auch irgendetwas anderes machen, sie hätten sich schon daran gewöhnt. Er hätte das Büro nicht bauen dürfen, hatte gewusst, es würde kommen.

Nun war es zu spät, die Simone war schon ohne Enkel und Matura gestorben, sie tat dem Bügler Leid. Die Birgit war auch schon gestorben, ohne irgendetwas in ihrem Leben gut zu machen. Sie tat dem Bügler auch Leid. Alle anderen taten ihm auch Leid, sie hatten gedacht, vernünftig zu arbeiten, bis der Rhythmus kam, und jetzt konnte er nicht einmal was bei ihnen gut machen. Aber warum sollte der Bügler, ausgerechnet der Schuldige an dem Ganzen, überleben? Er wollte sich nicht vom rosaroten, flaschenförmigen Leben trennen, aber er wusste, dass es das Fairste war. Der Bügler hob den Kopf von der Simone sachte von seinen Knien. Dann nahm er einen Zettel aus seiner Hosentasche und hob einen herumkullernden Kugelschreiber vom Boden auf und schrieb: »Hier ruht SIMONE WIND, seit dem Tag, als es kam, weil ihr Boss nicht nachdachte.« Er legte ihn ihr auf den Bauch. Dann überlegte er, ob er das auch bei allen anderen machen sollte, aber es waren viel zu viele, bei den meisten wusste er nicht einmal den Namen. Nun wollte er lieber mal das Leben kaputt machen, so hart es auch war. Er ging hinaus auf den Gang. Dort lagen einige Angestellte herum. Er stieg schweren Herzens über alle Leichen, bis zum prächtigen Treppenhaus. Jetzt ist es noch nicht zu spät für mich, dachte er. Ich kann noch schnell in den Lift steigen, ’runterfahren, und dann ab nach Tirol. Der Bügler ließ das Leben fallen. Es zerbrach an der ersten Stufe.