Viktoria Goldbach (12)

Zug nach Nirgendwo

Ich heiße Sina, bin zwölf Jahre alt und ein genauso normales Kind wie du. Trotzdem ist mir neulich etwas total Abnormales passiert …

Aber hört selbst …

Ich fuhr wie jeden Tag mit dem Zug in die Schule. Doch als ich dort ankam, war alles wie ausgestorben. War ich etwa zu spät? Mist! Ich klopfte zaghaft an unsere Klassenzimmertür, um mich für die Verspätung zu entschuldigen. Doch es war niemand da! Eilig lief ich ins Lehrerzimmer und dort waren alle Lehrer und tranken Kaffee.

»Was ist denn hier los?«, fragte ich.

»Ja Sina, heute ist doch schulfrei!«

»Hä?«

»Ihr habt heute frei. Wir haben das so geregelt«, schmatzte eine Lehrerin. »Die Kekse sind gut. Willst du auch einen?« Sie hielt mir einen bröseligen Keks vor die Nase, doch ich lehnte dankend ab.

Wieder am Bahnhof, überlegte ich: Der nächste Zug fuhr erst in sechs Stunden. Was sollte ich in der Zwischenzeit tun? Ich schlenderte auf dem Gleis und mir fiel jetzt erst auf, wie lang das Gleis war. Es schien nirgendwo zu enden und ich beschloss, auf Entdeckungsreise zu gehen. Je weiter ich ging, desto verfallener wurde es. Überall wuchs Unkraut, die Schilder rosteten, die Steine bröckelten. Mir fiel auf, dass die nebenstehenden Gleise fort waren. Mir wurde ein wenig mulmig zumute, doch ich ging weiter. Schleppend. Plötzlich blieb ich stehen. Vor mir ging eine Treppe runter.

Es war stockdunkel, und ich bekam Angst. Doch meine Neugier war größer und ich tappte vorsichtig, Stufe für Stufe, das nach Moder riechende Treppchen hinunter. Unten waren ein dunkler Gang und viele andere Treppen, an denen es hochging und von denen Licht herunterfiel. Ich ging gleich die nächstbeste hoch und lugte vorsichtig um die Ecke … Ich sah einen kompletten Bahnhof. Es war alles sehr alt, doch schön verschnörkelt. Ein Mann kam auf mich zu. Er hatte einen sehr langen Bart, obwohl er noch jung war. Außerdem hatte er freundliche, blaue Augen und ein freches Grinsen im Gesicht. »Herzlich Willkommen auf dem Bahnhof von Ludja.« Er zeigte stolz auf seine Brust. »Das ist mein Bahnhof! Dein Zug nach Nirgendwo fährt in fünf Minuten ab. Steig ein! Schnell, schnell …«

Er schubste mich in einen himmelblauen Zug, auf den Wolken gemalt waren, die weiter zogen wie auf dem echten Himmel. Drinnen waren verschiedene Abteile, im ersten waren lauter Pools. Es sprudelte, zischte, in manchen waren die Becken aus Felsgestein, mal war es Ebenholz und auch mal weißer Kunststoff, doch das Wasser in diesem Pool war eiskalt, nur das im roten war schön warm, alle anderen zu heiß. Ich schlüpfte aus meinen Sandalen und steckte die Füße ins Wasser, nahm mir einen der Äpfel, die auf einmal überall herumkullerten. Die waren wirklich saftig!

Es gab viele Abteile, die ich gerne noch erkundet hätte, doch der Zug hielt, und ich stieg aus. Ich fand mich in einer wunderschönen Grotte wieder, in der Mitte stand ein riesiger Springbrunnen und überall waren schöne Muster und Bilder mit lindgrünen Mosaiksteinen. Da erklang eine zauberhafte Musik. Es war eine seltsame Flötenmusik. Sie machte mich traurig. Ich wollte nach Hause, weil ich so allein war. Und die Musik war so melancholisch. Mutlos trottete ich zu dem Zug, auf dem jetzt ein wunderschöner Sonnenuntergang in allen Farben zu sehen war. Doch das machte mich nur noch trauriger. Ich stieg betont langsam ein, und das Einzige, was ich wollte, war weg von hier, nach Hause. Ruckartig fuhr der Zug los und es ertönte eine Stimme. »Gebe ein Reiseziel an.«

Ich stutzte, doch dann verstand ich und stotterte: »Ich will nach Hause! Und danke fürs Mitnehmen. Ich komme sicher wieder!«

Plötzlich blieb der Zug stehen, ich stieg aus und war … in meinem Zimmer! Aber der Zug war weg. Ich war glücklich und schwor mir, den Bahnhof von Ludja öfters zu besuchen. Und das tat ich auch.