Theodora Bauer (13)

Zug-fahren

Mann. Wieso muss dass sein? Eine Zugreise mit Annalena, der ärgsten Angeberin der Schule – Strohblonde Haare, Designer-Klamotten und Schminke bis zum Umfallen. Wieso musste gerade sie die Reise nach Vorarlberg bei der großen Tombola an unserer Schule abstauben? Wieso muss ich mir den ersten Preis mit ihr teilen? Das gibt es doch nicht. Den letzten Satz musste ich wohl laut gesagt haben, denn Annalena fragte sofort mit ihrer künstlich hohen Stimme: »Was gibt es nicht?«

»Nichts.«

»Aber wenn es nichts nicht gibt, muss es doch was geben, oder?«

Eigentlich war das richtig; doch ich hätte es nie vor Annalena zugegeben. Also hielt ich den Mund und versuchte, möglichst genervt auszusehen, doch da es nur eine seltsame Grimasse wurde, schaute ich zum Fenster raus.

»Ist dir schlecht?«, fragte mich Annalena.

»Wieso?«, schnappte ich zurück.

»Weil du so komisch dreinschaust.« Sie klang besorgt. Ich genierte mich irgendwie vor Annalena. Bis jetzt hatte ich fest geglaubt, dass sie eingebildet wäre; doch jetzt, wo sie mich so mitfühlend angesehen hatte, wankte meine Überzeugung.

Meine Überlegungen wurden von einer Durchsage gestört: »Wir erreichen in Kürze den Hauptbahnhof Salzburg.«

Annalena zog sich ihre Jacke an und starrte aus dem Fenster auf die Tunnelwand. Erst Als sie anfing, sich ihre Haare zurückzuzupfen, merkte ich, dass sie ihr Spiegelbild in der Scheibe prüfte.

Mich überkam das heftigen Gefühl, dass Annalena doch eingebildet war.

Ich hörte jemanden laut »Oh Mann« rufen, und erst im nächsten Moment fiel mir auf, dass ich gesprochen hatte, und dass ich Annalenas Spiegelbild anstarrte. »O Mann, wann ist dieser blöde Tunnel endlich aus?«, fügte ich noch schnell dran.

Annalena sah mich komisch an, nahm wortlos ihren Koffer von der Gepäckablage und stellte sich zum Ausstieg.

Als der Zug aus dem Tunnel und in den Bahnhof fuhr, stand ich auch schon samt Koffer beim Ausgang.

Wir stiegen in den Zug nach Vorarlberg um.

Drinnen setzten wir uns einander gegenüber. Wir vermieden es, uns in die Augen zu

Sehen. Annalena kontrollierte ihre Fingernägel, obwohl sie ohnehin gründlich lackiert waren.

»Fahrkartenkontrolle!«

Ich schreckte auf und schaute geschockt drein.

»Was ist?«, fragte mich Annalena.

»Ich … ich habe keine Fahrkarte gekauft!« Mir wurde flau im Magen. »Hilf mir!«, krächzte ich heiser, sehr plötzlich mit dem Verlust meiner Stimme konfrontiert.

Annalena stülpte mir ihre schwarze Jacke über den Kopf, sodass es beinahe wie eine Burka aussah. »Schau auf den Boden!«, zischte sie. »Und mach einen Buckel!«

»Bitte was?«, fragte ich verwundert, doch ich tat es. Gerade noch rechtzeitig, denn ich hörte den Schaffner schon gelangweilt »Fahrkarten bitte!« rufen. Es wurde still; offensichtlich zeigte Annalena gerade ihre Karte her.

»Und was ist mit …ähm … ihrem Gegenüber?«, fragte der Schaffner. Ihm schien kein passendes Wort einzufallen.

»Das ist meine Oma!«, meinte Annalena zuckersüß. »Ihr werter Kollege hat uns gesagt, sie dürfe gratis mitfahren, weil sie doch schon sooo alt ist. Nicht, Omi?«

Ich nickte, während ich meine Schuhe betrachtete.

»Und wieso soll ich dir das glauben, meine Liebe?« Der Schaffner klang noch nicht ganz überzeugt.

»Weil Sie doch sicher ein netter, verständnisvoller Mensch sind, der Mitleid mit einer traurigen, alten Frau hat, die gerade zum Begräbnis ihres Bruders fährt, oder?«, sagte Annalena. »Ich mochte ihn auch sehr gern.« Sie schniefte angestrengt. Ich war mir ziemlich sicher, dass der Schaffner ihr jetzt, peinlich berührt, seine Hand hinhielt.

»Mein Beileid.«

Annalena schniefte noch einmal und erwiderte: »Danke.«

Wir hörten den Schaffner das Abteil verlassen und Annalena sagte: »Die Luft ist rein!«

Ich riss mir die Jacke vom Kopf und schnappte nach Luft. Annalena lachte laut auf. »Du bist total rot im Gesicht!«

Ich konnte mir nicht helfen; ich musste lachen. Annalenas Kichern war zu ansteckend. »Danke!« Ich keuchte, weil ich vor lauter Lachen keine Luft mehr bekam. »Der wird sich wundern, wenn er merkt, dass die alte Omi erst 13 war!«, prustete ich.

»Weißt eh, dass war der Zugchef!«, kicherte Annalena. Wir sahen uns an, und ich musste noch mehr lachen.

Wir bemerkten gar nicht, dass eine Dame mit dem Imbisswagen schon bei uns war. Es war eine kleine, rothaarige Frau, etwas pummelig und mit einem sanften Gesichtsausdruck. Irgendwie war mir diese Frau sofort symphatisch; sie erinnerte mich an Mrs. Weasley aus Harry Potter. Es hätte nur mehr gefehlt, dass sie uns Zauberbohnen anbot, aber stattdessen fragte sie, ob wir Schokoriegel, Kekse und Getränke haben wollten. »Ein bisschen davon, davon, davon, davon, …äh …und davon. Das auch noch«, sagte ich.

»So Kindchen, das macht dann genau 10 Euro.«

Ich gab ihr das Geld. Als Annalena auch etwas bestellen wollte, sagte ich: »Brauchst nicht. Ich geb’ dir schon was von meinem.« Ich lächelte die Frau an, die lächelte zurück und fuhr mit ihrem Imbisswagen weiter.

»Danke«, murmelte Annalena und grinste. Plötzlich wusste ich, dass Annalena überhaupt nicht blöd war.

Wir teilten uns das Naschzeug und aßen, bis wir nicht mehr konnten.

Annalena lehnte sich im Sessel zurück und schüttelte ihre Haare so, dass sie wie ein Wischmop aussahen. Ich musste lachen.

Plötzlich sagte der Schaffner durch: »Wir erreichen in Kürze Bregenz. Zug-Endbahnhof. Bitte alle aussteigen.«

Das musste er nicht zweimal sagen. Wir rissen die Koffer von der Gepäckablage, banden uns die Jacken um die Hüften und stellten uns ungeduldig wartend zum Ausstieg, als wir den Zugchef erbost auf uns zulaufen sahen. »Betrüger, Betrüger!«

Just in dem Moment hielt der Zug, wir sprangen heraus und ließen einen verzweifelten Schaffner hinter uns zurück. Lachend rannten wir aus dem Bahnhofsgebäude. Ich freute mich auf die Ferien mit meiner neuen besten Freundin.