Susanne Kirschenhofer (12)

Ni Hao (Guten Tag)!

»Wo bin ich? Was tue ich hier in diesem Zimmer? Wie komme ich hierher? Wo sind meine Eltern?« Solche Gedanken jagen mir durch den Kopf. Ich starre auf eine hellblaue Decke. Richtig kitschigblau. Eine neue, aber altmodisch gebaute Lampe. Eine der Glühbirnen beginnt zu flackern. Ein Ventilator. Mir ist heiß. Ich suche die Wände ohne mich zu bewegen nach einem Einschalt-Knopf ab. Da ist er, gar nicht weit von mir entfernt! Aber die Strecke erscheint mir von hier aus wie eine Wettreise. Jede Faser meines Körpers will liegen bleiben. Schweiß benässt meine Stirn. Ich sollte ihn wegwischen, aber dafür müsste ich meinen Arm heben. Stille. Plötzlich – eine Tür fällt laut ins Schloss. Meine Augenlider werden schwer. Ich schließe sie, zuerst bis auf einen Spalt, dann ganz. Langsam rinnt ein Schweißtropfen Ober mein Gesicht. Er erreicht meine Oberlippe. Ich schlecke ihn mit meiner Zunge auf – er schmeckt nach ranziger Butter. Ich fühle mich krank: Meine Zunge ist trocken, so als ob ich Fieber hätte. Mein Kopf brummt. Er braucht dringend Wasser. Es kostet mich große Überwindung, die Augen zu öffnen, um wieder etwas zu sehen. Da! Auf dem Tisch! Eine volle Thermoskanne! Ich nehme meine gesamten Kräfte zusammen und springe auf. Ein Moment, in dem mir schwindlig ist. Dann, Schritt für Schritt, kämpfe ich mich zur Kommode. Mein Arm hebt die Kanne hoch und gießt etwas, das nach Tee aussieht, in eine Tasse. Er stellt das Gefäß wieder ab und nimmt sich nicht die Zeit, es zuzuschrauben. Das Getränk fühlt sich so schön erfrischend an, aber was ist es? Ein Teil einer Teebeutelverpackung liegt am Boden. Darauf – zuerst chinesische Zeichen, der Vorhang über meinen Gedanken beginnt sich zu lösen. Jasmintee. Ich bin hier, in einer fremden Welt.

Vor drei Monaten hat alles begonnen: Ich sitze ahnungslos in meinem Zimmer und lese irgendein uraltes Buch, das ich schon seit vier Jahren besitze. Dann telefoniere ich mit einer meiner Freundinnen, die mich wenig später auch besuchen kommt. Wir hören Musik, reden, es ist wie jeden Nachmittag. Kurz darauf läutet das Telefon: Es ist mein Vater. Ich führe zunächst ein ganz normales Gespräch (Wie war es in der Schule? – Wie immer. – Was hast du heute am Nachmittag vor? – Weiß ich noch nicht, meine Freundin ist da. – Aha, ist die Linda auch schon daheim? – Nein, die ist bei einer Freundin, aber sie kommt bald. – Kann ich mit deiner Mutter reden? – Ja, ich hole sie. Tschüss!) und gebe den Telefonhörer dann meiner Mutter. Mama verzieht sich damit ins Schlafzimmer, nachdem ich ihr gedeutet habe, dass sie uns nicht stören solle. Zehn Minuten später bekomme ich den Hörer wieder in die Hand gedrückt: »Hallo Melanie? Ja, ich bin’s noch einmal. Ich habe gerade ein Angebot zu einer Konferenz nach China bekommen. Was hältst du davon?« Einen Moment lang bin ich sprachlos. Dann decke ich den Hörer mit einer Handfläche ab und frage meine Mutter, was sie von dieser verrückten Idee halte. Sie richte sich ganz nach mir und meiner Schwester, antwortet sie. Linda kommt in diesem Augenblick herein und fragt: »Hab’ ich das richtig gehört? China? Natürlich möchte ich dorthin!« Und damit ist die Sache auch für mich besiegelt. Der Impfungsmarathon beginnt, die Visa werden ausgestellt und es wird gepackt. Der Tag des Abflugs kommt sehr schnell. Die ganze Reise vergeht wie im Flug, diesmal wörtlich gemeint. Jeder hat einen eigenen Bildschirm, kann sich Filme ansehen und der Sitz ist fast so bequem wie mein eigenes Bett. Decken, Waschzeug und Kopfhörer für das Radio und den Fernseher werden ausgeteilt. Mit dieser Ausrüstung finde ich gar keine Zeit, über Flugzeugentführungen oder Ähnliches nachzudenken. Unser Ziel ist in Windeseile erreicht …

Mein Blick fällt auf das große Fenster. Das Hotel muss sehr hoch sein, denn ich sehe nur auf den Himmel. Eine graue, verwaschene, nebelige Decke. Obwohl es so heiß ist, kann die Sonne den Smog doch nicht durchbrechen. Wie heiß wird es erst sein, wenn die Sonne einmal scheint? Ich wage gar nicht, genauer darüber nachzudenken. Meine Füße bewegen sich Schritt für Schritt auf das Fenster zu. Meine Augen sehen nach unten: Ein kurzer Schwindelmoment. Wie hoch sind wir denn hier? Ich sehe winzige, alte Bretterhäuser und Menschen wie Ameisen. Radfahrer, alles wie in den Reiseführern, aber so viele … so habe ich mir das nicht vorgestellt.

Ich trete durch die Drehtür ins Freie. Feuchtheiße Luft schlägt mir entgegen. Ein Portier lächelt freundlich, aber die meisten Leute staunen uns hinterher. Wir gehen an zahnlosen, alten Chinesen vorbei, denen wir durch unsere Anwesenheit Gesprächsstoff für den Rest ihres Lebens gegeben haben. Ich fühle mich schrecklich verfolgt, so als ob jeder mich sehen könnte, und will so schnell wie möglich von hier weg. Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus. Jede einzelne Pore wird spürbar. Es ist, als ob jemand meine Haut mit Öl überzogen hätte.

»… Hallooooo! Wach’ endlich auf, du Schlafmütze!« Was? »Du sollst aufwachen! Hast du mich nicht gehört? Wir fahren in die Verbotene Stadt!« Verbotene Stadt? »Gehen wir jetzt?«

Wir rennen an Straßenverkäufern, Friseuren und Touristengruppen vorbei. Hitze. Die Sonne brennt mir unbarmherzig auf meinen Rücken. Schweiß. Mein Haar klebt an mir wie eine zweite Schicht meiner Haut. Feuer scheint um mich zu brennen. Wie eine Suppe verschwimmt der Palast vor meinen Augen.

Eine Chinesin steht auf dem Gang und will meinen Namen wissen. Sie bewegt ihre Lippen zwar nicht, aber ich spüre es. Dann beginnt sie, mich hin und her zu rütteln, um mich zum Sprechen zu bewegen. Ich habe aber Angst. Sie kommt immer näher, ich fühle mich eingeengt. Sie beginnt auf Chinesisch zu reden. Ich verstehe kein Wort. So als ob ich alles kapiert haben müsste, wartet die Frau auf eine Antwort. Sie bewegt sich noch näher auf mich zu. Ihre Augen werden zu kleinen Schlitzen. Aus ihrem Mund schießen Worte wie Feuer. Dann verwandelt sie sich plötzlich in einen Drachen. Ein Symbol für Glück – ich bin gerettet.

Ein runder, drehbarer Tisch. Rindfleischstücke, scharfe Soßen, jeder der vielen Geschmäcker rinnt in meinem Mund mit den anderen zusammen. Zurück bleibt ein Pelz auf meiner Zunge. Linda, die schmatzend Reis in ihren Mund schaufelt. Meine Mutter in Unterhaltung mit jemand mir völlig Fremdem. Zwei Chinesinnen, die im Park nebenan Pingpong mit vier Bällen gleichzeitig spielen. Nie fällt auch nur einer auf den Boden.

Die Sonne verschwindet hinter den weit entfernten Bergen. Finsternis. Kälte. Unwillkürlich schlinge ich meine Arme um meinen Körper. Sie sollen mich wärmen, aber die Kälte sitzt in mir, nichts kann sie vertreiben. Ein leichter Windstoß, der meine Serviette weit davon trägt. Wie ein herbstliches Blatt schwebt sie davon. Eisige Luft, die mich mehr und mehr einhüllt. Mein Haar weht sanft auf und ab. Stille. Plötzlich fühle ich mich wohl. Hitze. Schweiß. Blasen auf meinen Füßen, die wie Feuer brennen. Aber ich will nicht aufgeben, so weit ist es nicht mehr. Mein Rücken richtet sich auf. Ein Blick nach oben. Oh mein Gott – so viele Stufen. Mein ganzer Wille zieht sich zusammen und gibt mir wieder etwas Kraft. Jede meiner Bewegungen hat einen Schweißausbruch zur Folge. Aber ich beiße meine Zähne zusammen und hebe meine Füße auf die nächste Stufe. Wieder und wieder. Immerfort. Langsam verbrennt mir die Sonne meine Haut. Da – plötzlich sind der nächste Turm und die anderen erschöpften Rastenden nicht mehr weit entfernt. Dreh doch um, sprechen meine Gedanken zu mir. Ein Blick auf meine Füße. Sie scheinen noch halbwegs nutzbar, also wieder ein Schritt. So geht das scheinbar tausend Mal, bis ich den Schatten des Turmes auf meinem Rücken spüre und erschöpft niederstürze. Ein wunderschöner Anblick bietet sich mir: Wie eine Riesenschlange windet sich dieses Bauwerk um den Berg. Tausende kleinere Lebewesen scheinen auf ihr zu kriechen. Zwischendurch bildet eine höhere Schicht Schuppen einen Unterschlupf. Dort fühlen sich alle von ihnen wohl. Ich stehe in der Mitte von ihnen und bin nur ein kleiner Mensch. Plötzlich wird mir bewusst, was es heißt, in einem Menschenstrom gefangen zu sein. Nur eine von vielen, nichts Besonderes. Das bin ich im Moment. Dieses Gefühl quält mich. Angst.

Schattenkämpfer in einer Seitenstraße. Mein Fotoapparat ist schnell eingestellt und ich mache wunderschöne Fotos. Die Sonne wirft wundervolle Schatten. Ich fotografiere so, dass ich den Feuerball auf meinem Rücken habe. Die Silhouetten der Leute scheinen wie Geister über die rot-orange-erleuchtete Straße. Die Fotos sollen mich später an diesen schönen Moment erinnern. Wärme umgibt mich. Sie ist nicht mehr unangenehm, ganz im Gegenteil. Es ist, als ob ich an einem warmen Kamin säße, wenn es draußen schneit. Das Feuer brennt und die Funken sprühen. Das Holz knistert geheimnisvoll manchmal fällt einer der Scheite zu Boden. Die Stimmung ist wie zu Weihnachten. Plötzlich reißt mich das Schlagen einer großen Uhr aus den Gedanken. Weihnachten. Mitten im Hochsommer. Verrückt, aber wunderschön.

Verschwommene Bilder. Ich sehe ein Zimmer, das mir bekannt vorkommt Durst, Hitze, alles vermischt sich zu einem einzigen, schrecklichen Gefühl. Nichts kann es von mir befreien. Szenenwechsel: Eine Frau schlägt mir abwechselnd mit vier Bällen auf den Kopf, dabei werde ich fotografiert. Ich will mich losreißen, aber das nützt nichts. Alle scheinen mich festzuhalten. Man will mich zu etwas zwingen. Ich kann nicht mehr. Plötzlich stehe ich auf einem Turm und kann nicht mehr vor und zurück. Ich steige auf einen Stein, der sich blitzschnell in eine Schlange verwandelt. Ich schreie laut auf. Ganz in meiner Nähe sehe ich einen fressenden Pandabären. Er soll mir helfen, aber er tut es nicht. Er macht nur, was er will. Panik steigt in mir hoch. Ich ringe mit der Schlange und sehe dann einen Schattenkämpfer hinter ihr stehen. Schon beginne ich mich zu entspannen, bis ich merke, woraus er besteht: Papier. HILFE! Dann kommt eine Schar von Chinesen auf mich zu, sie halten mich von meiner Verteidigung ab, ich bin eingekreist von fotografierwütigen Fremden. Blitzlichtgewitter. Jeder will ein Foto von mir. Nur weil ich anders bin. Ich sehe die Schlange wieder, sie richtet sich vor den Menschen auf und will mich jeden Moment fressen. Was soll ich nur tun? Vor Panik blind schlage ich um mich und schreie das Tier an.

Linda, die mich aus dem Schlaf zurück in die Wirklichkeit holt. Ich murmle ganz leise ein Danke dafür, dass sie mich aus diesem Albtraum gerettet hat. Ich schüttle mich unwillkürlich. Aber all diese Erinnerungen, egal ob schön oder schrecklich, werden mein Leben lang in meinem Gedächtnis bleiben. Das macht mir Angst, denn auch dieser letzte Traum wird meine Gedanken noch sehr lange quälen. Niemand kann mir das mehr wegnehmen. Die Verbotene Stadt, die Chinesische Mauer, der Zoo, all das werde ich nie vergessen. Noch gestern Abend wollte ich länger hier bleiben. Jetzt, wo ich all diese Gefühle noch einmal wieder erlebt habe, will ich nach Hause, zurück nach Europa. Heimweh. Wieder schüttle ich mich und reiße mich aus meinen Gedanken. Dann schließe ich die Tür zu unserem Zimmer zum letzten Mal – teils traurig, aber froh, bald wieder daheim zu sein. Schweigend lasse ich mich von meinen Füßen zum Taxi tragen. Einen Blick werfe ich noch auf das Hotel, dann setzt sich das Auto in Bewegung und das Gebäude verschwindet hinter der nächsten Ecke. Es erscheint mir unmöglich, dass ich diese Welt noch einmal besuchen werde.