Ronja Schmidt (11)

Klassenfahrt

Unser Klassenvorstand hatte uns die Klassenfahrt als »Reise von historischem Wert« beschrieben. Als sich nun eine lärmende Gruppe von 31 aufgeregten Schülern auf einmal durch die Zugtür schob und polternd und schubsend zu den reservierten Sitzplätzen stürmte, war vom »historischen Wert« kaum etwas zu spüren. Ehrlich gesagt: 32 aufgeregte Schüler, denn auch ich war nicht gerade die Ruhe selbst. Eine Woche mit der Klasse unterwegs – das war schon eine große Sache. Und da wir sogar im ICE reisten (natürlich auch etwas für die Schule – gut für Geo), klinkten die Meisten total aus. Steven und André hatten Müsliriegel mitgebracht, deren Nüsse sie nun als Wurfgeschosse verwendeten. Anna und Corinna schlugen sich so lange mit 20-Cent-Stücken auf die Fingerknöchel, bis offene Wunden entstanden (solche Dinge nannten sie »masochistische Anfälle«) und unsere Betreuung, Professor Salzmann, war verschwunden.

Langsam wurde ich zappelig, denn ich hatte versucht, meine Aufregung mit drei Liter Cola hinunterzuspülen, und ebendiese wollte meinen Körper wieder verlassen. Und nun, da niemand da war, der um den Standort der Toilette wusste, musste ich wohl oder übel selbst danach suchen. Ich stand von meinem mühsam ergatterten Fensterplatz auf, wenn ich zurückkommen würde, würde er mit Sicherheit besetzt sein, doch das machte nichts. »Lieber besetzt«, sagte ich mir, »als nass.« Während ich mich an André und seinen Müsli-Wurfgeschossen vorbeizwängte, wurde ich fast wieder umgeworfen, denn der Zug fuhr mit einem enormen Ruck an.

Es war nun schwerer, im ratternden Zug voranzukommen, zumal meine Mitschüler immer aufgeregter wurden. Sie schwatzten und gestikulierten und Steven grapschte nach dem wackelnden Hintern einer Frau. Ich stolperte aus dem Abteil und bewegte mich im Schneckentempo weiter. Und da, ungefähr fünf Meter entfernt, erblickte ich das lang ersehnte Schild mit der Aufschrift: WC – Damen. Mit zunehmend schnellerem Tempo setzte ich mich in Bewegung. Die Augen hatte ich starr auf die Tür des »stillen Örtchens« gerichtet, und so wäre ich beinahe an meinem Klassenvorstand vorbeigelaufen.

Er lehnte in einer dunklen Ecke und unterhielt sich mit einem seltsamen Typen. Der Fremde war dunkel gekleidet und hatte sich seinen schwarzen Filzhut tief ins Gesicht gezogen. Herr Professor Salzmann, unser Klassenvorstand, murmelte etwas. »Ja, ja, niemand darf davon erfahren. Kein Wort zu den Schülern.« Ich blieb stehen und lauschte. Da war doch etwas im Anzug! Ich warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf das WC-Schild und schob mich ein Stück näher heran, allerdings so, dass sie mich nicht sehen konnten.

»Nein!«, fauchte Professor Salzmann gerade, »Das muss möglich sein! Dafür bezahle ich Sie schließlich!« Mein Mathelehrer klang wirklich wütend, und ich hielt die Luft an. Der seltsame Typ nickte. Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, doch dazu hätte ich leider aufstehen müssen. Langsam fühlte es sich an, als würde meine Blase im nächsten Moment explodieren. Besiegt. Ich schlüpfte aus meinem Versteck, huschte ungesehen zur Toilettentür und schob mich nach drinnen. Während ich mich endlich auf der Klobrille niederließ, dachte ich über das gerade Erlebte nach. Was hatte unser Klassenvorstand nur vor? Noch dazu mit so einem zweifelhaften Typen! Und warum in aller Welt durfte keiner etwas davon wissen? Worum ging es da? Ich schnaubte leise. Das wäre ein Fall für unsere Deutsch-Professorin, die W-Fragen. Ich dachte wieder an den Unbekannten. Wofür er wohl bezahlt wurde? Diebstahl? Sollte er irgendwo einbrechen? Oder sogar jemanden hier im Zug bestehlen? Aber unser Lehrer hatte doch auch etwas von UNS gesagt. Kein Wort zu den Schülern … Hatte er vielleicht etwas mit uns vor? Während ich meine Unterlippe als Kaugummi benutzte, malte ich mir die schrecklichsten Dinge aus, die die beiden vorhaben könnten. Immer blutrünstiger wurden meine Vorstellungen. Ich sollte echt nicht immer so viele Krimis lesen … Aber Diebstahl oder Schlimmeres traute ich meinem Klassenvorstand sowieso zu. Ich dachte an meine Mitschüler. Oh Gott, die wussten ja noch gar nichts! Ich musste sie warnen …

Meine Freundinnen kippten nicht so aus den Latschen, wie ich es erwartet hatte. Ehrlich gesagt, glaubten sie mir nicht mal. Cindy, die ich schon seit dem Kindergarten kenne, runzelte grinsend die Stirn und spöttelte: »Ja, ja, wir wissen es. Du bist auf dem Klo eingeschlafen, du Schnarchnase! Oder glaubst du wirklich, Lehrer treffen sich heimlich mit Dieben, oder was auch immer er sein soll. Vielleicht ja ein Auftragsmörder, hm!?!?«

Ich war total platt. Unser Mathelehrer hatte irgendwelche krummen Geschichten mit einem seltsamen Typen vor, und meine Freunde taten nichts, als mich mitleidig anzugrinsen und »Ja, ja!« zu sagen. Oder: »Das sind die Nebenwirkungen vom Colatrinken!« Das war der helle Wahnsinn.

Ich rannte wütend los. Die konnten mir doch alle gestohlen bleiben! Ich hatte kein Ziel, ich wollte nur weg von diesen Idioten, die mich ansahen, als wäre ich verrückt und hätte mir diese Geschichte ausgedacht. Ich schritt heftig aus und donnerte von hinten in einen Mann hinein. »Tschuldigung«, knurrte ich und wollte mich an ihm vorbeischieben.

»Wen haben wir denn da?«, ertönt plötzlich eine Stimme. Eine mir bekannte Stimme. Mit einem Entsetzensschrei fuhr ich herum und erkannte meinen Mathelehrer, Klassenvorstand und Aufpasser: Professor Salzmann. Hinter ihm sah ich auch den seltsamen Typen. Er wirkte (so weit ich das erkennen konnte, sein Gesicht war wieder hinter seinem Filzhut verschwunden) recht erstaunt.

Mein Herz pochte zum Zerspringen. Langsam wich ich an die Wand zurück. Meine Hände wurden feucht und ich bin mir sicher, dass meine heißen Wangen die Farbe von reifen Tomaten hatten. »Ich …«, stammelte ich, »also, ich, … ähm, Sie …«

Mein Klassenvorstand runzelte die Stirn. »Du – also – du – ähm – ich – was? Was ist denn?«

Meine Knie fühlten sich an, als wären sie mit Pudding gefüllt. »Ich, ähhh … Ich bin …«

»Du bist was?«

»Ja, also, ich … ich bin …« Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. »Ich bin ihnen auf die Schliche gekommen! Ich … ich weiß, was sie vorhaben!«

Der Fremde seufzte. »Schade! Ich dachte, wir hätten uns gut getarnt. Ich hab sogar extra dieses alte Zeug angezogen, na ja …«

Hä? Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Der »Fremde« lachte, als er meine erstaunte Miene sah, lachte er. Er zog sich den Hut vom Kopf und ich erkannte … einen jungen Mann mit schulterlangen Haaren und einem schimmernden Ohrring. Es war Nils, unser Reiseführer. Ich kannte ihn von unserer letzten Klassenfahrt. Mit offenem Mund starrte ich ihn an. »Sie? Aber, aber Sie waren das!?!? Aber ich dachte, ich dachte …« Dass ich Nils für einen Verbrecher gehalten hatte …

»Ich habe eine Schlossführung für euch organisiert«, erklärte er mir nun grinsend, »und das sollte eine Überraschung werden. Anordnung von Professor Salzmann.«

Mein Lehrer nickte nun und fixierte mich mit den Augen. »Wenn du jemandem etwas erzählst, bekommst du 20 Divisionen zu rechnen! Kein Wort zu keinem!«

»Kein Wort zu keinem!«, wiederholte ich grinsend. »Geht klar, Herr Professor!«