Petra Erdely (12)

Unmöglich?

»Was liest du da?«, fragte ich meinen Opa neugierig. Er saß mir gegenüber, Zucker in seinen Tee löffelnd und in einem Buch lesend, das gegen den Milchkrug gelehnt war. Anscheinend hatte er meine Frage nicht gehört. Seelenruhig legte er seinen Löffel beiseite und blätterte um.

Ich hatte meinen Opa eigentlich noch nie ein Buch lesen gesehen. Woran ich mich erinnern konnte, war, dass er bei seinem Frühstück immer Zeitung las. Deshalb wollte ich unbedingt wissen, was ihn da in seinen Bann zog. Also fragte ich nochmals, lauter als zuvor, damit er mich ja verstand. »WAS LIEST DU DA!«

Diesmal bekam ich immerhin eine Antwort. »Was ich lese … hm … gute Frage …«, murmelte Opa kaum verständlich.

Ich hatte ihn trotzdem verstanden, dachte mir nicht viel und sagte: »Du wirst ja wohl noch wissen, was du gerade eben liest!«

In diesem Augenblick betrat meine Oma die kleine Küche, nahm sich eine geblümte Tasse aus dem Regal, füllte diese mit kaltem Kaffee und setzte sich zu uns an den Küchentisch. Meine Großeltern sahen mich erwartungsvoll an. Ich durchbrach die peinliche Stille und wiederholte meine Frage zum zweiten Mal.

Oma schüttelte ihren Kopf. Ich starrte Opa an und zog verärgert die Augenbrauen hoch. Sein Gesicht lief rot an und seine Finger spielten mit der inzwischen leeren Teetasse. Er schob die Tasse von einem Ende der massiven Tischplatte zur anderen, stellte sie auf den Kopf, und begann das Spiel von neuem. Dann, ganz plötzlich, begann er mit der Geschichte …

Es war ein verschneiter Samstagnachmittag. Vicky saß am breiten Marmorfenstersims des Wohnzimmerfensters. Sie beobachtete die Schneeflocken, die sich in halsbrecherischem Tempo zu Boden stürzten, die Kinder, die Schnee aufsammelten und daraus Schneemänner und -frauen bauten, … und merkwürdigerweise auch ein rotes Stück Papier, welches auf demselben Weg wie die weißen Flocken war. Das Papier wirbelte im Wind, sank immer tiefer und landete schließlich im Rosenbeet der Mutter.

Vicky blickte auf. Ein Abenteuer war gerade eben an ihrem Fenster vorbei geflogen! Was wohl auf dem Zettel stand …

Blitzschnell sprang das Mädchen auf und hastete in Richtung Tür.

»Wohin so eilig, Spätzchen? Willst du dich nicht lieber ein bisschen zu deiner Mami und deinem Papi auf das Sofa setzen? Dieser gelbe Staubwisch mit den grünen Haaren ist gerade im Fernsehen«, rief Vickys Vater ihr nach.

Doch sie war schon ins Vorzimmer verschwunden, um die Schubladen nach einer Mütze ohne knallbunter Quasten zu durchsuchen. Ihre Eltern hörten sie nur noch »Ich geh an die frische Luft. Und falls ihr es noch nicht bemerkt haben solltet: Zwölfjährige interessieren sich nicht besonders für Confetti im Kinder TV«, rufen.

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, sagte die Mutter traurig zum Vater: »Warum werden sie nur so schnell erwachsen?«

Vicky strich sich einige Schneeflocken und rosa Quasten aus dem Gesicht, denn Kleidungstücke ohne Rüschen, Quasten oder Glitzerknöpfe gab es in Mutters Haushalt nicht. Sie hastete zum verschneiten Rosenbeet. Gespannt griff sie nach dem roten Papierstück, welches sie sofort entdeckt hatte. Doch das Stück Papier wollte sich nicht von Vicky aus den Dornen pflücken lassen. Immer tiefer rutschte es in das Gestrüpp. Das Abenteuer versteckte sich also! Entschlossen rückte das Mädchen ihre Mütze zurecht und kroch in das dornige Gestrüpp.

Eine halbe Stunde später kehrte Vicky zerkratzt und enttäuscht in das Haus zurück. Das Papier befand sich in ihrer Hand.

»Oh mein Gott! Schätzchen, was ist nur passiert? Hat dich jemand überfallen? Du bist ja ganz zerkratzt und … du … du hast eine von Mamis Quasten zerrissen. Oh mein Gott! Oh mein Gott!«, begrüßte ihre Mutter, die im Vorzimmer Staub wischte, sie.

Ob die Mutter sich wegen der Quaste oder der Kratzer mehr aufregte, war schwer zu sagen. Vicky beschloss, dass die Aufregung den Kratzern galt, und befreite sich aus der mütterlichen Umarmung.

Momentan war es für Vickys Seelenheil wohl besser, unter »normalen« Menschen ohne glitzernde, kratzende oder quastenähnliche Dinge zu weilen. Also rannte sie, die verdutzte Mutter und den eben gekommenen Vater zurücklassend, aus dem Vorraum in Richtung Marys Zimmer. Mary war Vickys ältere Schwester. Wenn sie gut aufgelegt war, konnte sie wirklich nett sein. Auf das Beste hoffend, warf Vicky Jacke und Handschuhe in eine Ecke und betrat keuchend das Zimmer der Schwester.

»Was is’n los, Mücke?«, fragte Mary, ohne von ihrem roten Notizblock aufzublicken. »Ich schreib g’rad meine … sagen wir: Aufgabe.«

Vicky ließ sich auf das Bett fallen. »Was bedeutet das?«

»Was bedeutet was?«, antwortete Mary und blickte nun doch auf.

»Na das da«, sagte Vicky und reichte ihr das rote, teilweise zerfetzte Stück Papier.

Mary nahm es entgegen. Entsetzt starrte sie es an. »Woher hast du das? Na ja, auch egal …«, rief sie noch, bevor sie mit aufgerissenen Augen aus dem Zimmer stürzte.

Das Papier flatterte zu Boden und landete vor Vickys Füßen. »VENIO«, murmelte sie und pflückte es von dem blau glitzernden Teppich.

Es war gegen acht Uhr morgens, an einem jener Sonntage, an denen die Familie Beagle lange schlief. So betrachtet war Vicky eigentlich keine echte Beagle. Sie stand Tag für Tag um sechs Uhr auf, machte Frühstück und las sich am Küchentisch Kakao schlürfend noch einmal den Prüfungsstoff für den Tag durch. An Sonntagen gab es für gewöhnlich keinen Prüfungsstoff. Doch Vicky hatte trotzdem etwas zu lesen. Sie saß vor einem Berg aus Wörterbüchern und suchte nach einer plausiblen Übersetzung des Wortes »VENIO«. Der Kakao, der inzwischen kalt geworden war, stand vergessen auf der Anrichte.

»Morgen, Mücke«, Mary betrat die Küche. Sie sah etwas gefährlich aus, mit den langen, zum Teil abstehenden Haaren, dem geblümten Morgenmantel und den hochhakigen Flip-Flops. »Seit wann lernst du«, sie beugte sich vor, um die Titel der Bücher lesen zu können, »Italienisch, Spanisch, Kroatisch, Bulgarisch, Portugiesisch und Türkisch?«

»Ich lerne diese Sprachen doch nicht. Ich … ich bin nur etwas … nun ja … interessiert.«

»Ah. Gibt’s Kaffee? Mensch, hab ich einen Hunger.«

Länger dauerte diese morgendliche Unterhaltung nicht an. Still lächelnd spielte sich Vicky an einem roten Blatt Papier mit rissigen Rändern, das sich in ihrer Morgenmanteltasche befand.

Die Eltern betraten die Küche. Sie sahen überhaupt nicht gefährlich aus. Außer man denkt, Quasten seien bissige Monster mit unzähligen Armen.

»Venio, venio, venio, venio«, schrieb Vicky immer wieder auf das weiße Blatt Papier, welches vor ihr lag. Was das wohl bedeutete? Ihre Mutter fragte sie wohl besser nicht, denn diese würde bestimmt antworten, sie solle nachschlagen. Und ihr Vater? Ihr Vater sagte oft, dass viele Sprachen aus dem Lateinischen kamen. Vielleicht auch dieses Wort? Sie stand auf. Jetzt, wo sie ihr Abenteuer endlich hatte, dachte sie daran es einfach zu vergessen. Es war zu kompliziert. Doch vergessen konnte sie das nicht.

Das Mädchen schlenderte in die Küche. Auf ihrem Weg zum Lebensmittelschrank stieß sie mit ihrer Schwester zusammen. Als diese das rote Stück Papier in Vickys Hand sah, stieß sie einen spitzen Schrei aus und wollte es Vicky aus der Hand reißen. Vicky gefiel das aber gar nicht und wehrte sich kräftig. Nach einem wilden, dennoch kurzen Handgemenge und einer halb verwüsteten Küche, verließ Mary erschöpft das Zimmer. Was hatte sie bloß?

Vicky räumte die Küche auf. Dabei fand sie einen zweiten roten Zettel im Mülleimer. Das Papier, auf das die Buchstaben gemalt waren, kam ihr irgendwie bekannt vor. Und auch die Schrift. Doch sogar die Wörter waren ihr bekannt. Sie klangen ebenso alt und staubig wie … Ruckartig zog Vicky den zerfetzten Zettel aus ihrer Hosentasche. Sie ging zur Anrichte und legte die Blätter aneinander. Sie passten zusammen.

»Venio te lacere, venio te lacere, venio te lacere …«, schrieb Vicky immer wieder auf das gelbe Blatt Papier, welches vor ihr lag. Was das wohl bedeutete? Sie musste es einfach wissen. Sie musste. Und ihre Schwester wusste es. Doch warum verhielt sie sich so merkwürdig? Am Besten, sie fragte sie einfach danach.

Also marschierte Vicky in Richtung Marys Zimmer. Dabei traf sie auf ihre Mutter, die traurig auf die rosa Quastenmütze herabstarrte.

»Ich konnte sie nicht retten. Die Quaste ist kaputt. Da ist nichts zu machen«, murmelte sie.

Vicky wollte sich momentan nicht auf ein Gespräch über die Verluste ihrer Mutter einlassen und lief die Treppe hinauf.

»Wenn du noch immer wissen willst, was das auf dem einen Blatt Papier heißt, kannst du gleich wieder verschwinden«, rief Mary, als ihre Schwester das Zimmer betrat. Diesen Satz hatte sie wohl auswendig gelernt. Trotzdem klang sie weniger bestimmt, als ängstlich. Vicky änderte ihre Meinung in Bezug auf die Frage. Sie verließ das Zimmer, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Sie hatte einen Plan.

»Was heißt »Venio te lacere«?«, fragte Vicky mitten im sonntäglichen Abendessen.

Mary starrte stur auf ihren Teller. Die Eltern starrten weniger stur, eher entsetzt auf deren Tochter. Nur Tommy, der älteste Sprössling, hatte die Fassung nicht verloren. Vicky hatte schon damit gerechnet und wartete gespannt auf die Antwort.

Ganz lässig sagte Tommy: »Na, ich komme und zerfleische, oder zertrümmere dich.« Das vorletzte Wort betonte er zum Schrecken der Eltern besonders.

Plötzlich war Vicky alles klar. Aber konnte es wahr sein? Sie sprang auf und stürmte in Marys Zimmer. Hier lag der rote Notizblock. Vicky hielt die beiden Papierstücke zum Block. Das Papier war das Gleiche. Natürlich konnte es ein Zufall sein, aber … War ihre Schwester nun eine Mörderin?

Sie hielt den Block gegen das Licht, das die Nachttischlampe ausstrahlte. »Venio te lacere«, war zu lesen. Der Bleistift hatte deutliche Rillen hinterlassen. Vicky ließ sich auf das Bett fallen. Hatte ihre Schwester mit den vielen Mordanzeigen in der Zeitung etwas zu tun? Würde ihre Schwester auch sie umbringen?

Panisch stürzte sie aus dem Zimmer der Täterin und prallte mit jemandem zusammen.

»Wohin willst du denn, Mücke?«, fragte Mary und lächelte wie eine Verrückte …

»Ich wusste gar nicht, dass du so gut Geschichten erzählen kannst. Und du wahrscheinlich auch nicht«, unterbrach meine Oma schnippisch und schlug Opas Buch zu. Ich sah das Buch und konnte mich vor Lachen nicht halten.

Auf dem Umschlag des Buches stand nichts anderes als »HEILMITTEL GEGEN ALTERSBESCHWERDEN«.