Petra Erdely (12)

Zugfahren

Müde lehne ich mich auf meinem Sitz zurück und gähne. Das monotone Geräusch der Bahn wirkt einschläfernd. Auch die alte Dame, die mir gegenübersitzt, scheint mit dem Schlaf zu kämpfen. Sie stützt den Kopf auf ihre linke Hand und sieht verzweifelt auf die Uhr über der Abteiltüre.

Ich fahre gerade in einem dieser Bummelzüge in Richtung Frankfurt. Viele Plätze in einem beengenden Raum. Und überall sitzt jemand, der schläft. Sehr unvorsichtig von ihnen, das muss ich schon sagen. Da muss ich plötzlich lachen. Erst letzte Woche bin ich einer dieser »Schläfer« gewesen.

Langsam, um mein halb waches, oder richtiger gesagt, mein halb schlafendes Gehirn nicht unnötig zu belasten, rufe ich meine Erinnerungen zurück. Ich saß in vielen Zügen, erste Klasse, …

Samstag, 12.33 Uhr, Linz

Der Verzweiflung nahe, starre ich auf meine Armbanduhr. Die Zeit will einfach nicht vergehen. Aber das ist wohl immer so. Wenn man wünscht, die Zeit würde endlich vergehen, steht sie bestimmt still, bis man will, dass sie nur langsam vergeht, und dann verfliegt sie doch.

Zwei Stunden bin ich schon mit dem Zug von Graz nach Selzthal, und von Selzthal nach Linz gefahren. Dann bin ich umgestiegen und jetzt sitze ich im ICE nach Fulda und warte …

Samstag, 13.26 Uhr, Bahnhof Plattling

»Hey du! Hau ow! Des is mei Plotz.«

Ich schaue auf. Mich trifft der Schlag. Da steht eine mindestens 80-jährige Oma mit Sonnenbrille und schräg sitzender Kappe. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Sie hat ein rosa bauchfreies T-Shirt an, unter dem ihre helle Haut zu sehen ist. Angewidert sehe ich weg.

»Wos is?«, fragt sie. Dass man so eine »Person« überhaupt in die erste Klasse lässt …

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe diesen Platz hier in der ersten Klasse reservieren lassen.«, sage ich ruhig und sachlich.

»Erste Klas? O, Tschuldigun«, bemerkte die Frau und verlässt ohne ein weiteres Wort das Abteil. Ich schüttle den Kopf. Was einem so alles unterkommt … Na ja, wenigstens ist die Zeit dadurch etwas vergangen.

Samstag, 15.38 Uhr, Hauptbahnhof Nürnberg

»Juten Tach! Ist hier noch frei?«, fragt ein hochgewachsener Mann mit großen grauen Augen. Jedenfalls sieht dieser im Vergleich zu der Vogelscheuche von vorhin etwas sympathischer aus. Ich sage ja und starre aus dem Fenster, während es sich der Große bequem macht.

»Ich heiße Jünther Haller. Und du? Na ja, auch ejal. Willst du ein Bonbon?«

Oh Gott! Also jetzt gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Mann ist ein Verbrecher wie in »Emil und die Detektive«, oder er will mir einfach eine Freude machen. Trotzdem: Pech gehabt, Mister.

»Nee, danke«, sage ich in meinem schlecht angelernten Dialekt.

»Jut«, antwortet der seltsame Mann und starrt ebenfalls aus dem Fenster.

Samstag, 16.32 Uhr, Hauptbahnhof Würzburg

Ich schrecke hoch. War ich eingeschlafen? Wo ist mein Gepäck? Ich bin bestohlen worden! Sicher war es diese gemeine Alte von Plattling!

Ich sehe mich um. Der hochgewachsene Mann ist inzwischen verschwunden. Hat er vielleicht etwas damit zu tun?

Ich stehe auf. Was werden die Eltern sagen?

Ich renne nach vorne.

Im Gang von Wagen 8 zu 9 stolpere ich über einen Trolly. Egal, ich laufe weiter.

Etwas später komme ich in den Speisewagen. Der hochgewachsene Mann und die verrückte Alte sind auch hier, doch diese beiden reden »Hochdeutsch«.

»Wer von Ihnen beiden hat mich bestohlen?«, rufe ich laut.

»Kind, was redest du da?«, fragt die Oma und blickt mich unschuldig an.

»Ja, Sie waren es bestimmt! Sie haben meinen Trolly aus dem Gepäcknetz genommen und ihn gestohlen. Sie waren es, Sie … Sie …«

»War es ein blauer Trolly mit roten Streifen?«, mischt sich jetzt auch der Mann ein, »Und überhaupt, die Beschimpfung von verdeckt ermittelnden Polizeibeamten ist verboten. Dein Trolly steht im Gang. Du hast ihn so schlecht befestigt, dass er mich fast erschlagen hätte! Ich habe ihn ordnungsgemäß verstaut.«

Ich werde rot. »Tut mir leid«, stammle ich und verlasse das Abteil.