Maren Uhle (13)

Unmöglicher Sieg

Abends flieht die Einzige. Nicht heimlich, jeder weiß, dass sie flieht, aber niemand weiß den Ort, an dem sie sich versteckt. Manchmal ist es eine kleine Insel mit Palmen. Manchmal eine Höhle oder ein großes, altes Haus in einer Stadt, von der nie jemand gehört hat, in einem Land, das nie jemand betreten hat. Manchmal ist sie allein, ein anderes Mal nicht. Die Einzige liebt es zu träumen, sie weiß, dann steht die Welt ihr offen, und so verdammt sie den Moment des Aufwachens. Und deshalb bleibt sie im Bett liegen, bewegungslos, auch wenn sie längst hellwach ist. Irgendwann steht sie auf, streift sich die Strümpfe über die Füße, wäscht sich kalt das Gesicht. Als sie ein kleines Mädchen war, fürchtete sie sich davor, im dunklen Zimmer allein im Bett zu liegen. Jetzt fürchtet sie sich davor, wach zu sein. Denn solange sie wach ist, kommen auch die Erinnerungen wieder. Erinnerungen an das, was damals passiert ist, an dem Tag, als sie den Autounfall hatte.

Sie erinnert sich an das grelle Krankenhauslicht, das ihr erbarmungslos in die Augen fiel, als sie Stunden später aufwachte. Sie hatte nichts mehr spüren können, ihr Körper gehörte nicht mehr zu ihrer Seele. Sie sah sich im Zimmer um, hoffte, ihren Mann neben sich am Bett stehen zu sehen. Doch der Einzige, der da war, war ein Arzt. Ein Mann mit einem langen, weißen Kittel, wie aus einer anderen Welt. Er redete mit ihr, sie erinnert sich nicht mehr, was er sagte. Dann schlief sie wieder ein. Erst zwei Tage später wurde ihr klar, dass sie die Einzige war.

Nachdem sie ihr Gesicht gewaschen hat, geht sie runter. Die Einzige lässt sich Zeit, braucht eine Viertelstunde, um eine Schüssel Müsli zu essen. Sie geht hoch, zieht sich um. Anstelle des weichen Frottees des Pyjamas kommen der steife Stoff einer engen Jeanshose und die Baumwolle des Sweatshirts. Meistens verlässt sie das Haus viel zu spät. So kommt sie auch viel zu spät in die Bibliothek. Alles auf ihrem Weg zur Arbeit erinnert sie.

Ja, nach zwei Tagen erst, verstand sie, dass sie die Einzige war. Sie bemerkte es daran, dass alle schwiegen, die kamen. Und es kamen viele. Sogar ihre Mutter kam jeden Tag, sie brachte ihr Blumen mit und stellte sie in eine orange Vase auf dem Fenstersims. Menschen, zu denen sie längst den Kontakt verloren hatte, tauchten plötzlich wieder auf. Sie kamen und brachten Karten und Geschenke. Sie redeten über alles und nichts, ihre Gesichter lachten, ihre Herzen weinten. Wenn sie fragte, warum sie ihr Sohn nicht besuchen käme, schwiegen sie.

Wenn sie die Bibliothek betritt, ist es für sie jedes Mal, als betrete sich eine andere Welt. In der Bibliothek ist alles anders: das Licht, die Luft, die Stimmung. Tausend Bücher stehen ordentlich sortiert in den Regalen, tausend Geschichten schweben in der Luft. Die Einzige mag ihren Beruf dort. Wenn viele Kunden da sind, beobachtet sie die Menschen und rät, welche Art von Büchern sie ausleihen wollen. Wenn keine Kunden da sind, liest sie selbst. Sie liest alles; auch wenn sie weiß, dass das Buch schlecht ist, möchte sie es beenden. Sie findet, eine Geschichte, die man nicht zu Ende liest, ist eine verlorene Geschichte. Manchmal denkt die Einzige: »Ich lese jedes Buch, ich denke nach über jede Geschichte. Nur über meine eigene traue ich mich nicht nachzudenken.«

Sie hatte ihrer Nachbarin sogar noch aufgetragen, immer darauf zu achten, dass der Sohn rechtzeitig zum Kindergarten käme. Die Nachbarin sah sie an, mit erstarrten Gesichtszügen. Dann nickte sie hastig und redete dann weiter über irgendetwas, was die Einzige nicht interessierte. »Warum?«, hatte sie schließlich gefragt. »Warum kommt mein Kind nicht zu mir? Warum ist mein Mann nicht da?« Die Nachbarin sah sie lange an. Dann verabschiedete sie sich und verließ das Krankenhaus.

Um sechs Uhr abends verlässt die Einzige ihre Bibliothek. In ihrem Kopf sind noch tausend Geschichten und Ideen von den Büchern, die sie gelesen hat. Sie klammert sich an diese Geschichten. Sie helfen ihr, die Erinnerungen zu verdrängen. Sie geht den Weg nach Hause lieber, nimmt nicht den Bus, außer wenn es sehr kalt ist. Eine Viertelstunde ist es bis nach Hause. Die Einzige geht langsam, sie nimmt immer den Weg durch die Fußgängerzone. Sie sieht in jedes Schaufenster, betrachtet die Dinge dahinter genau. Wenn sie dann schließlich vor ihrer Wohnung steht und den Schlüssel umdreht, spürt sie, wie sich langsam ein unaufhaltsames Hungergefühl einstellt. Sie tritt ins dunkle Haus. Ein Haus, das viel zu groß ist für nur eine Person. Aber eigentlich war es ja auch für drei Personen gedacht, für eine kleine Familie.

Sie wiederholte die Frage, als ihre Mutter sie am nächsten Tag besuchen kam. Diesmal fragte sie noch direkter. »Was ist mit meinem Mann und meinem Sohn passiert? Wo ist meine Familie?« Die Mutter war gerade damit beschäftigt, Blumen in die orange Vase auf dem Fenstersims zu stellen. Sie hielt in der Bewegung inne. Dann legte sie den Strauß neben die Vase und setzte sich auf einen kleinen, weißen Stuhl neben das Krankenbett. Sie nahm die Hand ihrer Tochter und sagte dann leise: »Sie sind nicht da. Sie sind weit weg gegangen, ich glaube nicht, dass sie noch einmal wiederkommen.« Die Einzige sah die Mutter fragend an. Sie zuckte mit den Schultern, um ihr zu zeigen, dass sie nicht verstanden hatte. Da stand die Mutter auf, nahm die Blumen und stellt sie in die Vase. Dann drehte sie sich um und sah sie an. »Verstehst du denn nicht? Du bist die Einzige. Die anderen haben es nicht geschafft.«

Bevor sie sich ins Bett legt, lüftet sie jedes Mal das Schlafzimmer. Dann stellt sie sich ans offene Fenster und blickt hinaus. Sie mag die Dunkelheit. Vor allem mag sie den Abendhimmel, den Mond. Sie blickt lange in den Himmel und denkt darüber nach, was gewesen wäre, hätte sie an diesem Tag alles anders gemacht, denn auch für sie ist es unmöglich, sich vor ihren Erinnerungen ständig zu verstecken. Sie denkt darüber nach, was geschehen wäre, hätte ihr Mann nicht die Abfahrt verpasst und hätte dann nicht über diese andere fahren müssen. Sie denkt darüber nach, was alles geschehen hätte können, wenn dieser Unfall nie gewesen wäre. Dann legt sie sich ins Bett. Sie flieht, wer sie kennt weiß, dass es eine Flucht ist. Sie rennt einen langen Feldweg entlang. Die Welt steht ihr offen. Sie rennt in eine Stadt, von der nie jemand etwas gehört hat, in einem Land, das nie jemand betreten hat.