Giorgia Giambenedetti (12)

Gelnhütten

Schon seit vier Tagen wanderte ich durch den Büdinger Wald. Langsam wurde ich ganz schön nervös, denn der Ort, von dem mir mein Opa erzählt hatte, war einfach nicht zu sehen. Ob mein Opa sich das Dorf nur ausgedacht hatte? Ich wurde müde und suchte ein verstecktes und natürlich auch gemütliches Plätzchen, wo ich schlafen konnte.

Als ich endlich einen mit Moos bedeckten Baumstumpf fand und mich darauf legte, hörte ich eine piepsige Stimme: »Aua! Du zerquetschst mich doch! Geh’ weg! Ich war zuerst hier!«

»W-We-Wer b-b-bist d-d-du? Und w-wo b-bi-bist du«, stotterte ich, während ich die Person suchte.

»Ich bin ein Gelnhütter, oder besser gesagt ein Bewohner von Gelnhütten!«

Als ich den Namen des Dorfes hörte, erschrak ich. Das war das Dorf, von dem mir mein Opa erzählt hatte. Er hatte dann doch recht gehabt. Das Dorf gab es wirklich!

Ich staunte und sah mich um, doch die Person konnte ich immer noch nicht finden.

»Könntest du jetzt bitte aufstehen«, hörte ich die Stimme fragen. »Danke! Weißt du eigentlich, dass du ziemlich schwer bist?«

Ich stand auf und sah mich um. Woher kam eigentlich die Stimme?

»Hier bin ich! Siehst du mich jetzt?«

Vor mir stand ein fünf Zentimeter großer (oder besser, ein fünf Zentimeter kleiner) Zwerg. Er war grün angezogen und trug eine rote Mütze. Seine Ohren waren spitz und sein langer, weißer Bart reichte bis zum Boden.

Mit erschrockener Stimme fragte ich: »Sind all deine Mitbewohner auch so klein wie du?«

»Nein, sind sie nicht!«, antwortete er, »Sie sind noch kleiner! Möchtest du sie sehen?«

»Okay!«

Das kleine Männchen namens Karl-Heinz führte mich kreuz und quer durch den Wald. Plötzlich blieb er stehen.

»Siehst du die Häuser dort?«, fragte er mich.

Ich sah mich um. Nach langer Suche entdeckte ich winzige Streichhölzerschachteln.

»Meinst du vielleicht die Schachteln, da?«, fragte ich ein wenig verwundert.

»Was für Schachteln? Das sind doch Hochhäuser und Villen. Der Joseph zum Beispiel hat sogar ein Schwimmbad!«, erklärte mir Karl-Heinz.

»Meinst du vielleicht die Pfütze da?«, fragte ich neugierig.

»Nein, das ist unser See!«

»Ach so! Ich verstehe. Und was passiert, wenn’s hier regnet? Kommt dann Noah, um euch zu retten?«, machte ich mich über ihn und sein Volk lustig. Doch er gab mir keine Antwort. Stattdessen fragte er mich, ob ich sein Dorf besichtigen wollte.

»Gerne!«, bedankte ich mich.

»Gehen wir zu Fuß oder fahren wir mit dem Taxi?«, fragte ich.

»Was ist denn ein Taxi?«, staunte er.

»Ach, nichts!«, beruhigte ich ihn.

»Wir reiten auf einem Bären!«, erklärte er mir.

Wie bitte? Hatte ich richtig verstanden? Hatte er wirklich »Wir reiten auf einem Bären.« gesagt? Ich war ganz verwirrt. Träumte ich oder geschah alles wirklich? Mit ängstlicher Stimme fragte ich: »Reitet ihr eigentlich immer auf Bären?«

»Nein! Normalerweise reiten wir auf Füchsen, aber du bist viel zu schwer dafür!«

Ich verstand plötzlich gar nichts mehr: Zuerst begegnete mir ein Zwerg, dann zeigte er mir sein Streichhölzerdorf namens Gelnhütten und nun wollte er auch noch, dass ich auf einem Bären steigen würde! Also so was!

»Vielleicht gehe ich doch lieber zu Fuß!«, sagte ich schüchtern.

»Schon gut, schon gut!«, seufzte er, »aber dann musst du mich auf den Schultern tragen!«

Als er auf meinen hohen Rücken geklettert war, gingen wir los. Bei jedem Schritt sollte ich aufpassen, niemanden umzubringen. Nach dreizehn Schritten waren wir schon an der anderen Seite des Dorfes angekommen.

»Na, soooo spannend war das Dorf auch nicht!«, beschwerte ich mich.

»Ich habe ja auch nie gesagt, dass es spannend sein sollte!«, erklärte er.

Ich wurde langsam müde. »Ich mach mich wieder auf den Weg zum Waldrand«, gähnte ich. »Vielleicht werde ich morgen wieder zu Besuch kommen!«

»Na dann bis morgen!«, rief Karl-Heinz.

Ich ging zurück in den finsteren Wald. Dort fand ich einen gemütlichen Platz zum Schlafen. Am nächsten Morgen suchte ich wieder das winzige Dorf, aber ich fand es nicht. Vielleicht hatte ich alles nur geträumt, vielleicht hatte sich mein Opa dann doch alles ausgedacht, aber es konnte auch sein, dass ich das Dorf einfach übersehen hatte.

Wer weiß …