Emilia Braitenberg (10)

Das Gespenst von Cunterfall

Es war einmal eine kleine Prinzessin mit dem Namen Annabella Annalisa Francesca X. Dieses Mädchen war die Tochter von Annabella Annalisa Francesca IX. und Leopoldo Roberto Francesco VIII. Die Familie lebte in Italien, wo Leopoldo Roberto Francesco VIII. und seine Frau glücklich regierten. In ihrem Schloss gab es einige Regeln, an die man sich halten musste, zum Beispiel:

10.: Trage jedes Kleid nur ein Mal!

Oder 108.: Halte deine Schuhe sauber!

Oder 999.999.: Kaufe dir nur klassische Musik!

Doch Annabella Annalisa Francesca X. hatte keine Lust, sich an die Regeln zu halten. Sie hatte nämlich ein Lieblingskleid. Zudem spielte sie gerne im Schlamm und war dazu noch ein Fan von Las Ketchup. Ihre Eltern wussten einfach nicht, was sie mit ihrer Tochter anfangen sollten.

»Vielleicht sollten wir sie zum Arzt bringen«, meinte Annabella Annalisa Francesca IX.

»Nein!«, brummte Leopoldo Roberto Francesco VIII. »Besser, wir machen ein neues Gesetz.«

Also rief Leopoldo Roberto Francesco VIII. seine Berater und Richter zusammen und sagte ihnen, sie sollten sich an die Arbeit machen.

Sieben Wochen, sechs Tage, vier Stunden, drei Minuten und zwei Sekunden saßen die Berater und Richter in einem Raum. Denn ein Gesetz zu machen, ist keine leichte Sache. Am Ende aber waren sie soweit und traten wieder vor ihren König.

»Wir haben es geschafft«, sagten sie im Chor und überreichten Leopoldo Roberto Francesco VIII. eine Schriftrolle, die mit einem roten Band und einem Siegel versehen war. Behutsam öffnete der König die Rolle und las, was dort geschrieben stand.

Gesetz Nummer 1.000.000: Annabella Annalisa Francesca IX. hat zu gehorchen und die Klappe zu halten.

Zufrieden rollte Leopoldo Roberto Francesco VIII. die Schriftrolle wieder zusammen, gab sie seinem Sekretär und befahl, dass das neue Gesetz sofort veröffentlicht und im ganzen Land verbreitet werden sollte. Bei aller Aufregung und vor lauter Zufriedenheit hatte niemand gemerkt, dass die Richter und Berater den Namen falsch geschrieben hatten. Denn Annabella Annalisa Francesca IX. war ja die Mutter, die Königin, und nicht die Tochter, die Prinzessin.

Am nächsten Tag schon kannte jeder im Land das neue Gesetz. Die Bürger des Königreiches schrieben das Gesetz ab, brachten es nach Hause und legten es zu den anderen Gesetzen, gleich neben das Klopapier in den einzelnen Häusern. Ein bisschen staunten die Bürger natürlich, dass der König ein solches Gesetz gemacht hatte und der eine oder andere fragte sich, warum denn nun die Königin per Gesetz die Klappe halten sollte, wo sie doch ohnehin kaum etwas sagte. Aber jeder wusste auch, dass es nicht klug war, dem König und seinen Gesetzen zu widersprechen. Und so nahm jeder das Gesetz, wie es war, und gab sich alle Mühe, bei jeder Gelegenheit darauf zu achten, dass das Gesetz auch eingehalten wurde.

Wenn zum Beispiel ein Fest im Königreich war und das Volk in die Nähe der Königsfamilie durfte, achtete niemand mehr auf die Artisten, Musiker und Tänzer, die bei einem solchen Fest nicht fehlen durften. Jeder schaute nur zur Königin und kontrollierte, ob sie sich auch gesetzesgetreu verhielt.

Für Annabella Annalisa Francesca X. war es eine wunderbare Zeit. Niemand störte sie mehr, wenn sie mit ihrem Walkman unterwegs war, keiner schaute mehr auf ihr Kleid, wenn es ungebügelt mit braunen Schlammspuren von ihr herunterhing und – auch wenn sie selbst nicht genau wusste, warum das so war – sie bekam keine Vorwürfe mehr von ihrer Mutter zu hören. Denn immer wenn die Königin auch nur dazu ansetzte, etwas zu sagen, war bestimmt irgendein Diener, eine Dienerin oder eine Wache in der Nähe, die der Königin freundlich aber bestimmt, mit dem Zeigefinger vor dem Mund zu verstehen gab, dass sie ruhig sein sollte.

Eines Tages, es war der Tag des heiligen Cunterfalls, machte die Familie wieder mal ein Fest. Alles war wie immer: Annabella Annalisa Francesca X. hörte den Ketchupsong und die Musiker, Artisten und Tänzer waren mal wieder umsonst gekommen, denn alle schauten auf die Königin.

»Ach«, dachte die Königin, »wie gerne würde ich wieder reden dürfen …

»Ach«, dachte der König, »Warum ist meine Gemahlin so verkrüppelt, dass sie nicht einmal mehr reden kann …

»Ach«, dachte die Prinzessin, »Wie geht es mir doch gut.

Es war nämlich so, dass die königliche Familie die Einzigen waren, die nicht wussten, warum die Königin nichts mehr sagte. Die Bürger sagten ihnen dazu auch nichts. Zum einen, weil es ihnen Spaß machte, der Königin nachzuspionieren, um zu schauen, ob sie sich an die Regeln hielt, zum anderen, weil sie nicht als königliches Futter, auf der königlichen Tafel der königlichen Löwen, landen wollten. Damals gehörte es sich nämlich nicht, die Gesetzte des Königs dumm zu finden.

Die Königin war so betrübt, dass sie aufstand, und ins Schloss zurückgehen wollte, als sie von einem Geräusch in einem nahen Busch davon abgehalten wurde. Sie drehte sich um, schaute zum Gebüsch und sah etwas, das ihr die Sprache verschlagen hätte, wenn sie hätte reden dürfen. Von ein paar Zweigen gerade noch verdeckt, lugte eine sehr seltsame Gestalt aus dem Gebüsch. Mit einem Kopf wie ein Affe, einem Körper wie ein Gartenzwerg und einem knallroten Umhang, auf dem ein gräfliches Wappen aufgedruckt war. Jetzt schwebte das Wesen über sie hinweg, in die Menschenmenge. Die Königin brüllte los, und im Garten wurde es totenstill. Dann ging ein Gemurmel durch die Menge.

Manche dachten, die Königin sei verrückt geworden, andere fingen an zu lachen und wieder andere waren verärgert darüber, dass die Königin sich nicht an das Gesetz Nummer 299.435 gehalten hatte: Eine Königin brüllt nicht. Die Berater fragten sich, ob Brüllen auch eine Redensart war, und der König, ganz überglücklich, dass seine Frau wieder einen Ton von sich gab, begann auf seinem Sessel herumzutanzen. Annabella Annalisa Francesca IX. versuchte vergebens, etwas zu sagen, denn immer, wenn sie den Mund öffnete, warfen ihr die Berater wütende Blicke zu.

Da wurde die Königin so traurig darüber, dass ihr niemand erlaubte, etwas zu sagen, dass sie ins Schloss rannte, und sich in ihr Zimmer zurückzog. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum niemand auf das Wesen aufmerksam geworden war. Eine Zeit lang saß die Königin nur da und ärgerte sich. Vor lauter Verärgerung bemerkte die Königin dabei nicht, dass das Affen-Zwerg-Umhang-Rot-Wappen-Wesen schon wieder da war. Es stand genau hinter der Königin.

»Bist du traurig?« fragte es.

»Huch!« schrie die Königin. »W- w- w- wer b- b- bist d- du?« stotterte sie.

»Ich bin Sir Leopoldo Roberto Francesco von Cunterfall«, antwortete das Wesen.

»Ganz sicher!«, sagte die Königin mit einem Anflug von Spott in der Stimme. »Ich wette, du bist irgendwer mit einer Maske!« Sie griff nach dem Wesen, um ihm die Maske vom Kopf zu reißen, doch sie griff durch es hindurch. Jetzt war sie wirklich sprachlos, auch ohne das Gesetz Nr. 1.000.000.

»Oh …«, sagte sie, und nachdem sie sich wieder gefasst hatte: »Warum hat dich niemand bemerkt, als du durch die ganzen Leute geschwebt bist?«

»Das ist einfach zu erklären«, sagte das Gespenst, »ich bin nur für Leute sichtbar, die schlecht behandelt werden, ich existiere nur, um anderen zu helfen.«

»Das ist nett von dir«, sagte Annabella Annalisa Francesca IX., »aber wie willst du mir helfen können? Es erlaubt mir ja niemand mehr zu reden.«

»Ja«, antwortete das Gespenst, »das wird wohl an dem neuen Gesetz liegen, das die königlichen Berater geschrieben haben. Und dabei ist alles nur ein Missverständnis.«

»Missverständnis? Gesetz?« Die Königin verstand gar nichts mehr.

Dann aber erklärte das Gespenst ihr alles, und sie verstand, warum in letzter Zeit alles so seltsam war für sie.

»Ich habe schon gemerkt, dass ich nur noch reden kann, wenn ich allein bin!«, seufzte die Königin, »und jetzt weiß ich, warum das so ist. Aber was soll ich tun? Ein königliches Gesetz kann man nicht einfach umändern, und auch wenn man das Papier zerreißen würde, wäre es immer noch gültig.«

Das Gespenst dachte nach. »Ich weiß etwas!«, rief es schließlich. »Wir machen einfach ein neues Gesetz!«

Die Königin war einverstanden. Also schlichen sie sich in den R.E.R. (Regeln-Erfinder-Raum) und machten folgendes Gesetz:

Gesetz Nummer 1.000.001: Kein Gesetz gilt mehr!

Sofort wurde das Gesetz veröffentlicht und kam wie immer neben das Klopapier. Alle waren froh, weil sie nun machen konnten, was sie wollten, besonders Annabella Annalisa Francesca X. freute sich, denn sie konnte wieder mit ihrer Mutter sprechen. Und sie konnte den Ketchupsong jetzt hören, ohne dabei kriminell zu sein.

Nur die Berater und Richter waren nicht sehr erfreut. Sie hatten jetzt eine Menge zu tun, denn wenn kein Gesetz mehr gültig war, dann war auch dieses neue ungültig, und wenn dieses Gesetz ungültig war, dann waren die anderen gültig, und wenn die anderen gültig waren, dann war auch dieses gültig … Auf jeden Fall war es eine sehr komplizierte Aufgabe, die sie noch lange, lange Zeit beschäftigte.

So hat sich das abgespielt, und wenn die Berater nicht gestorben sind, dann beraten sie sich noch heute.