Dana Klomfaß (9)

Unmessbare Freundschaft

»Kuck mal, da kommt schon wieder die Kleine!«, schrie Greta.

Anna rief: »Du bist zu klein, um mitzuspielen!«

Lena nervte diese ewige Verhöhnung. Sie war klein, die Kleinste in der Klasse, und durfte deshalb nie mitspielen. »Dabei kommt es doch gar nicht auf die Größe an«, murmelte sie und warf sich den Tornister über die Schulter. Lena ging durch das Klassenzimmer auf die offen stehende Tür zu. Sie hatte kaum einen Schritt gemacht, da begann schon wieder das Gelächter. Lena rannte aus der Schule.

Zum Glück war letzter Schultag, und die Sommerferien standen bevor. Sie lief schnell nach Hause, und ihr dichtes, braunes Haar flatterte wie ein Segel hinter ihr her. Sie warf den Tornister in die Ecke und ging nach oben ins Bad. Erst wusch sie sich die Hände, dann schlich sie zur Wand, an der das Metermaß hing. Sie war genau 118 Zentimeter groß. Auch an diesem Tag.

In den Schulferien maß sie sich jeden Abend, und jedes Mal blieb das Ergebnis gleich. Ihr Körper wollte einfach nicht wachsen. Lenas Mutter bemerkte die Verzweiflung und sagte: »Sei nicht traurig. Du weißt ja: Gut Ding will Weile haben.« Lena erschien die Weile schon viel zu lang. Sie seufzte und ging noch oben. Sie stellte sich neben das Metermaß und überprüfte, ob sie gewachsen sei. Lena fluchte. Sie maß sich jetzt seit vier Wochen; immer noch 118 Zentimeter. Sie hasste die Zahl 118. Sie ging aus dem Bad, und dabei quietschte die Badezimmertür. »118!«, schien sie zu rufen. Wütend stampfte Lena die Treppe hinunter. Selbst ihre Füße stampften: 118!

Als sie ins Wohnzimmer kam, saß ihr Vater vor dem Fernsehapparat. Er rief ihr zu: »Lena! Das ist das 118. Tor in dieser WM …

»Auch das noch«, murmelte Lena und verließ schnell das Wohnzimmer. In der Küche stand ihre Mutter und sagte: »Hier ist ein Mann aus Japan 118 Jahre alt geworden.« Sie zeigte auf die Zeitung.

Das war endgültig zu viel für Lena. Sie rannte aus dem Haus.

Nicht, dass Lena etwas gegen ihre Eltern gehabt hätte. Nein, im Gegenteil: Lena war, ebenso wie ihr Vater, begeisterter Fußballfan. Und wenn Mutter aus der Zeitung vorlas, hörte sie gerne zu. Lena ging spazieren. Ihr Weg führte sie durch den Park ins Dorf. Sie hatte immer noch Pantoffeln an, und über ihrer kurzen Jogginghose und dem gelben T-Shirt trug sie den Bademantel, den sie sich im Flur vorhin übergeworfen hatte. Jetzt zog sie den Mantel enger um den Leib, denn, obwohl es 20 Grad warm war, zitterte sie vor Wut.

Lena ging durch eine schmale Gasse in den Hof, wo sie gerne spielte. Der Hof war verlassen, schon seit Jahren. In der Mitte gab es ein Rohr, das vom Hof weg führte.

Einmal, als die Klassenkameraden Lena gejagt hatten, war sie in das Rohr geschlüpft, denn sie hatte geahnt, dass nur sie hineinpasste. Daher wusste sie, dass das Rohr von innen mit Gestrüpp überwuchert war. Sie wusste auch, dass einen, wenn man bis zum Ende kroch, ein Bach, umgeben mit Bäumen, erwartete. Schon manches Baumhaus hatte sie dort alleine gebaut.

Heute interessierte sie sich nicht dafür. Lena war einfach nur sauer, weil sie nicht größer wurde. Selbst die Bank im Hof war größer als sie.

Lena ließ sich auf der Bank nieder und warf, ohne nachzudenken, einen großen Stein gegen das Rohr.

»Miau!«

Es kam aus dem Rohr, da war Lena sich sicher, genau von dort, wo der Stein das Blech getroffen hatte.

»Miau! Miau!« Etwas Klägliches lag darin.

Lena kletterte in das Rohr.

Im Rohr war es düster, und Lenas lange Haare verhedderten sich oft in Zweigen. Sie kam nur mühsam voran, hatte aber nur ein Ziel vor Augen: das Geräusch ausfindig zu machen. Sie sah, dass sich nicht weit vor ihr etwas bewegte. Sie blieb ruhig liegen. Ein verzweifeltes »Miau« durchbrach die Stille im Rohr. Lena zog sich etwas weiter nach vorne. Dort, ein kleines Kätzchen! Es hatte sich verheddert. Lena griff vorsichtig nach dem Tier und kroch damit nach draußen.

Lena betrachtete das Kätzchen. »Du wirst mein erster Freund«, sagte sie feierlich und beschloss, es mit nach Hause zu nehmen.

Sie hielt das Kätzchen im Arm. Erst vor der Haustüre kam ihr der schreckliche Gedanke, dass die Eltern ihren neuen Freund vielleicht gar nicht im Haus haben wollten. Deswegen versteckte sie das Kätzchen unter ihrem Bademantel. Schon öffnete sich die Tür.

Vater und Mutter begannen sofort zu schimpfen. Lena hörte ihnen gar nicht richtig zu. Sie wartete auf den Moment, dass es hieß, sie müsse in ihr Zimmer gehen. Und schon kam es: »Hausarrest«, sagte der Vater. Lena ging in ihr Zimmer im ersten Stock und schloss sich ein.

Sie holte einen Korb, den sie im letzten Schuljahr, dem dritten, selbst geflochten hatte, aus dem Schrank. Dann nahm sie das Kissen, auf dem sonst ihre Puppe Helene lag, und stopfte es in den Korb. Darauf legte sie das Kätzchen.

Das Kätzchen schien zu wissen, dass es sein neuer Schlafplatz war, denn sofort fing es an, sich zu putzen. Lena sagte: »Ich weiß, wie ich dich nenne, nämlich Nina.«

Fast vier Wochen blieb Lenas neue Freundin unentdeckt. Weder dem Vater noch der Mutter fiel es auf, dass Lena während des Essens Leckereien in ihren Taschen verschwinden ließ, um sie später Nina zu geben. Auch nicht, dass ihre Tochter bei schönem Wetter viel zu oft in ihrem Zimmer saß und sich sogar anbot, dieses selbst aufzuräumen. Aber dann passierte es.

An einem Abend ging Lena ins Bett und ließ aus Versehen das Fenster offen. Dann schlief sie ein. Am nächsten Morgen zog sie eine Cargohose und ein Top an und ging nach unten. Dort stand ihre Mutter und öffnete gerade die Haustür. Herein lief eine Katze.

»Nina!«, rief Lena und streichelte sie.

Lenas Mutter fragte misstrauisch: »Woher kennst du diese Katze?«

»Mom, ich habe sie in einem Rohr gefunden. Sie wohnt schon seit zwei Wochen bei mir im Zimmer.«

»Was?! Und ich habe nichts gemerkt?«

Lena grinste sie verlegen an. »Darf ich sie behalten? Sie ist meine Freundin.«

Und dann sagte Lenas Mutter etwas ganz Unglaubliches: »Ich rufe das Tierheim an. Wenn sich niemand gemeldet hat, darfst du sie behalten.«

Am Ende der Ferien stand fest, dass Nina bei ihnen bleiben würde.

»Schule!«, von diesem Ruf, wachte Lena auf. Da erst fiel es ihr wieder ein. Sie würde in die Schule gehen und ausgelacht werden. Schnell zog sie sich an und lief nach unten. Lena hatte den törichten Gedanken, dass, wenn sie sich beeilte, die Schule schneller vorbeiginge.

Am ersten Tag gleich war Besuch vom Schuldoktor angesagt. Als Lena aufgerufen wurde, stolperte sie nach vorne. Zuerst wurde sie gewogen. Das Ergebnis lautete 21 Kilogramm. Dann wurde ihr Gebiss kontrolliert: ein Karieszahn. Danach wurde sie gemessen, vor der ganzen Klasse. Der Doktor beugte sich nach unten, dann verkündete er laut: »120 Zentimeter … Der Nächste bitte!«

»Das ist unmöglich«, sagte Lena zum Doktor.

»Aber hier steht es doch«, erwiderte er.

In zwei Wochen zwei Zentimeter!

Als sie an diesem Tag nach Hause kam, ging sie als erstes ins Bad und riss das Metermaß von der Wand.