Bianka Bunde (12)

Die unglaubliche Entdeckung im Büdinger Wald

Alles fing mit der Mutprobe an, die es zu bestehen galt. Marcel, der angeberischste und angeblich mutigste Junge aus unserer Klasse, hatte mal wieder den Christopher – auch nur Chrissy genannt – aus meiner Clique geärgert. Er hatte gesagt, dass Chrissy ein Weichei sei, wenn er nicht in den Büdinger Wald gehen würde. Natürlich wollte Chrissy vor der ganzen Klasse nicht als Angsthase dastehen, und so sagte er der »Mutprobe« zu. Doch leider hatte Chrissy Angst, und so fragte er uns, ob wir ihn nicht heimlich begleiten könnten. Der Rest der Clique, bestehend aus Laura, Katrin, Florian, Felix und mir, konnte ihn natürlich nicht hängen lassen, also sagten wir zu. Als wir uns alle zusammen am Wald trafen, tauchte plötzlich Marcel auf. »Ich musste doch auch gucken, dass du nicht kneifst! Und deine Leibgarde bleibt schön hier«, sagte Marcel, als er uns erreicht hatte.

»Oh nein, wir gehen mit! Dass er allein gehen soll, davon war nie die Rede!«, entgegnete Katrin.

Nach ein paar Minuten hatten wir Marcel überredet, aber nur unter der Bedingung, mindestens eine halbe Stunde im Wald zu bleiben.

»Na, meinetwegen!«, meinte Florian, genannt Flo, ganz locker, bevor jemand anderes überhaupt den Mund aufmachen konnte.

»Auf, dann geht mal schön in den gruseligen Wald! Buuuuuh!«, entgegnete Marcel, lachte schallend und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

»Was für ein dummer Kerl!«, sagte Laura.

»Ja, total bescheuert und angeberisch! Dabei kann er noch nicht einmal richtig Basketball spielen!«, antwortete ich.

»Ach Bii, du und dein Basketball!«, sagte Laura und wir mussten alle lachen. Sogar Chrissy, obwohl er in so ernsten Lagen sonst nie lachen kann.

»Ähm, wollen wir jetzt endlich mal in den Wald gehen?«, fragte Felix.

Nachdem alle zugestimmt hatten, machten wir uns auf in den Wald. Er war finster und sehr dicht, sodass wir nur schwer vorankamen. Laura beschwerte sich schon die ganze Zeit darüber, dass sie sich ständig an Dornen kratzte oder an Brennnesseln stach. Wir verloren das Zeitgefühl und als ich wieder auf die Uhr schaute, waren wir schon eineinhalb Stunden lang gelaufen.

»Hey, wir können jetzt umkehren!«, rief ich den anderen zu.

»Gott sei Dank!«, hörte ich Katrin murmeln. »Meine Füße fallen mir bald ab!«

Wir liefen zurück, doch schon bald wusste keiner mehr richtig, woher wir gekommen waren.

»Na toll, jetzt haben wir uns verlaufen! Warum muss uns das ausgerechnet in einem der größten Wälder Hessens passieren?«, fragte Flo wütend in den Wald hinein.

Chrissy sagte schon eine ganze Weile gar nichts mehr. Auch ich bekam es langsam mit der Angst zu tun. Ich hatte zugestimmt, einen guten Freund zu begleiten, doch das hier war schon ein bisschen zu viel verlangt. Doch ich versuchte Ruhe zu bewahren und schlug vor, nach der Sonne zu gucken. Wenn wir dann auf die Uhr schauen würden, könnten wir wenigstens die Himmelsrichtung bestimmen. Ob uns das helfen würde, war eine andere Frage. Alle waren mit dieser Idee einverstanden, da ihnen sowieso nichts anderes einfiel. Ich blickte nach oben zum Himmel. Die Sonne stand recht hoch, bewegte sich aber schon langsam auf den Horizont zu. Dann schaute ich auf meine Uhr. Es war 16.00 Uhr. Das hieß also, dass sich die Sonne nach Westen bewegte.

»Es ist jetzt 16.00 Uhr. Die Sonne bewegt sich also in Richtung Westen. Gelnhausen liegt südlich von diesem Wald. Das heißt«, kombinierte ich, »dass wir nach Süden laufen müssen! Also da entlang!« Ich zeigte in die besagte Richtung und wir marschierten los.

Nach einiger Zeit lichtete sich der Wald und schließlich standen um uns herum nur noch vereinzelt Bäume. Etwa 100 Meter vor uns stieg Rauch aus dem Wald auf.

»Naja, ich glaube nicht, dass dort der Waldrand ist! Hier ist doch noch viel zu viel unberührte Landschaft! Und Autos höre ich auch keine!«, meinte Felix und blickte sich um.

Wir anderen nickten zustimmend. »Aber, vielleicht ist da vorne ein Forsthaus!?!«, schlug Katrin vor.

»Möglich wäre es«, antwortete Flo nach einigem Überlegen, »was meinst du, Bii?«

»Ich glaube«, entgegnete ich, »dass wir es herausfinden sollten!«

Wir machten uns wieder auf den Weg, immer den Rauch nach, der schwer über den Baumwipfeln hing. Wir traten wieder in einen dichteren Ring aus Bäumen und dachten schon, dass wir wieder richtig tief hineingeraten seien, als plötzlich keine Bäume mehr folgten.

Wir fanden uns, sehr verwundert dreinblickend, auf einer Lichtung wieder, die keinesfalls leer war. Sie war etwa so groß wie vier Fußballfelder und auf ihr standen etwas mehr als drei Dutzend kleiner Holzhütten. Viele Menschen liefen herum. Ich hörte Hammerschläge und Kindergeschrei. Die Menschen, allesamt sehr altmodisch gekleidet, hasteten über die ausgefahrenen Straßen und schienen uns überhaupt nicht zu bemerken. Ein kleiner Junge rannte direkt auf uns zu und knallte gegen Flo, da er die ganze Zeit nach hinten blickte. Flo konnte ihn gerade noch auffangen, ehe der Kleine nach hinten umkippte. Der Junge machte große Augen und blickte Flo erstaunt an. Als Flo ihn anlächelte, begann der Kleine lauthals zu schreien und rannte flink in eine der Hütten. Wir mussten uns ein Lachen verkneifen und Flo fragte uns verwirrt: »Was hab’ ich gemacht?«

Plötzlich wurde es still und jeder blickte sich nach uns um. Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann trat aus der Menge heraus auf uns zu. »Seid gegrüßt, ihr Jungen und Mädchen! Seit ewigen Jahren sahen wir keinen von euch hier in unserem kleinen Dorf Oberswald. Was führt euch hierher, in diesen dunklen Wald?«

Schüchtern erzählten wir von der Mutprobe. Die ganze Menschenmenge war still und hörte zu. Als wir geendet hatten, kehrte für ein paar Minuten Ruhe ein, nur ein paar Leute tuschelten miteinander. Dann trat eine schlanke Frau auf uns zu und brach das Schweigen. »Habt ihr Hunger, meine Lieben??«, fragte sie freundlich.

Wir nickten.

Die Frau packte uns an den Armen, zog uns in eine der Hütten und schloss die Tür hinter uns.

Wir schauten uns um. Im Haus befand sich nur dieser eine Raum. Darin stand ein Tisch mit vielen Stühlen darum. Ein Feuer prasselte in dem Kamin, in dem auch ein großer Topf hing, aus dem es lecker duftete. Auf dem Boden lagen mehrere Strohsäcke zum Schlafen. An den Wänden hingen lange Bretter, auf denen viele Dosen, Töpfe und Schalen standen.

Die Frau nahm sechs Schüsseln herunter, nahm die Kelle aus dem großen Topf im Kamin, der auch als Ofen diente, und schüttete etwas aus dem Inhalt des Topfes in jede Schale. Die Frau stellte sie auf den Tisch und bedeutete uns, dass wir uns hinsetzen sollten.

Ich bedankte mich mit einem netten Lächeln und setzte mich. Die anderen taten es mir gleich. Das Essen schmeckte etwa wie Kartoffelsuppe, nur etwas süßer. Plötzlich hörte ich, wie es an der Tür kratzte. Die Frau öffnete die Tür und - ein Wolf kam herein! Wir zuckten zusammen, doch die Frau beruhigte uns lächelnd: »Keine Angst! Das ist Lupo! Er ist ganz lieb und zahm! Ich habe ihn schon, seit er ein kleiner Welpe war! Ihr braucht euch wirklich nicht zu fürchten!« Wie um die Worte der Frau noch zu unterstreichen, kam der Wolf auf mich zu und legte seine Schnauze auf meinen Schoß. Ich streichelte den Kopf von Lupo zögernd, doch als der Wolf keine Anstalten machte, mir irgendetwas zu tun, wurde ich etwas mutiger und streichelte Lupo über den Rücken. Der Wolf drückt seine Schnauze gegen meine andere Hand und leckte sie ab. Mir machte es richtig Spaß, da Wölfe meine Lieblingstiere sind.

Die Frau kam und stellte die Schüsseln einfach vor die Tür. »Das fressen die Katzen«, meinte die Frau.

Wir nickten zustimmend.

»Oder die Bären!«, fügte sie noch hinzu und lachte über unsere verwunderten Gesichter.

»Warum leben Sie eigentlich hier in diesem Wald, zwischen den ganzen Tieren?«, fragte Flo, als sich die Frau zu ihnen gesetzt hatte.

Sie zuckte die Achseln. »Die ganzen neumodischen Sachen haben mir nun mal nicht gefallen. Und ich hatte keine Lust mehr, den Reichen aus unserem alten Dorf zu dienen. Ich bin doch keine Magd! Und genauso sehen es alle anderen aus Oberswald auch.«

»Verstehe«, meinte ich, obwohl ich es nicht wirklich tat, und streichelte weiter Lupos Kopf.

Felix dachte allerdings nicht daran, seine Meinung zu verschweigen. »Aber, so ist es doch überhaupt nicht! Jedenfalls nicht mehr! Ihr könnt ja wieder zurückkommen!«, meinte er und zuckte zusammen, als er die wütende Miene der Frau sah.

»Nein, wir kommen nicht zurück! Wir haben uns an das Leben hier im Wald gewöhnt und an seine Bewohner auch. Wenn wir zurückkommen, dann werden wir den Reichen wieder dienen müssen, und das wollen wir nicht! Im Moment sagt du, ist es nicht so, aber es wird garantiert wieder so werden! Und das wollen wir nicht! Wir wollen hier leben, in Ruhe und in Frieden, ohne das uns irgendeine unnatürliche Gewalt stören kann. Euer Angebot ist wirklich lieb und ihr meint es ja auch nicht böse, aber ich bleibe lieber hier. Und ihr werdet in diesem Dorf auch niemanden finden, der mit euch zurückkommt. Und, überhaupt, was wird dann aus meinem treuen Lupo? Ihr wollt ihn in eurem Dorf nicht, oder sehe ich das falsch? Natürlich nicht! Sonst würde es die Wölfe und Bären auch noch in euren anderen Wäldern geben!«, erklärte die Frau mit bebender Stimme.

Wir schwiegen bedrückt. Sie hatte natürlich Recht. Und jetzt sahen wir auch ein, warum sie nicht zurückkam. Jedenfalls tat ich es. Lupo nahm seinen Kopf von meinen Knien und lief zurück zur Tür. Er wollte wohl wieder raus. Das könnte er in einer Stadt wie Gelnhausen nicht einfach. Und schon gar nicht als Wolf. Nicht mal ein kleiner Dackel könnte das. Nach einem Blick auf meine Uhr sagte ich zu der Frau und den anderen: »Also, wir sind schon so lange unterwegs und unsere Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen! Wir müssen jetzt gehen. Nur, wir wissen leider nicht, wie wir hier aus dem Wald kommen sollen!«

»Ja, leider. Könnten Sie uns nicht begleiten? Wenigstens bis an die Grenzen des Waldes? Wenn nicht, dann erklären Sie uns wenigstens den Weg hier raus! Bitte!«, unterbrach Katrin mich.

»Nein«, entgegnete die Frau, »denn ich kenne den Weg auch nicht mehr. Ich bin nur hierher gelaufen, doch zurück nie. Aber gebt die Hoffnung nicht auf. Ich gebe euch Lupo mit. Er kennt den Wald ganz genau und findet jeden Weg. Schickt ihn einfach wieder zurück, wenn ihr aus dem Wald heraus seid.«

Wir bedankten uns für das Essen und die Hilfe, glaubten aber nicht, dass Lupo den Weg heraus und auch wieder herein finden würde. Als wir der Frau das sagten, grinste sie nur verschmitzt und flüsterte Lupo etwas ins Ohr. Als hätte er die Worte verstanden; blickte er erst die Frau und dann uns an. Danach lief er zielstrebig los und wir folgten ihm, so schnell wir konnten. In einem scharfen Tempo trabte Lupo durch den Wald, wir immer hinterher. Lupo schien nie müde zu werden, wir allerdings schon. Als wir gerade glaubten, keinen Schritt mehr gehen zu können, kamen keine Bäume mehr vor uns und wir standen auf einem geschotterten Weg. Lupo hatte uns aus dem Wald geführt!

Wir bedankten uns bei ihm mit vielen Streicheleinheiten und schickten ihn dann wieder zurück in den Wald. Dann gingen wir alle nach Hause und Chrissy hatte die Mutprobe durch unseren Aufenthalt von etwa drei Stunden mit Bravour gemeistert. Von dem Waldvolk und der Stadt Oberswald erzählten wir niemandem.