Andrea Grosser (12)

Im Tunnel

»Junges Fräulein! Ihre Fahrkarte, bitte!« Der Schaffner beugte sich zu mir herunter, um meine Fahrkarte zu kontrollieren.

»Äh, ja sofort!«, murmelte ich, als ich in meiner Tasche nach der Karte wühlte. Handy, Notizblock, Lippenstift, Taschentücher, alles war da, nur die Fahrkarte nicht. Weil der Schaffner schon ungeduldig da stand, sagte ich schnell: »Ich … hab sie gleich!« Und welch ein Glück! Ich fand die Fahrkarte. Sie befand sich zwischen den Blättern meines Notizblockes, zwar ein wenig zerknittert, aber das war nicht weiter schlimm.

Als der Schaffner mein Abteil verließ, seufzte ich einmal richtig erleichternd und sah mich um. Ich saß im ICE und der ist ja eine Klasse für sich. Und wo wir gerade bei Klasse sind, ich fuhr erste Klasse. Ich besetzte ganz allein ein Fünferabteil mit komfortablen, blauen Sitzen. Also für jemanden, der noch nie erste Klasse gefahren ist, war das ein Traum, und zwar ein wundervoller. Ich warf einen Blick zum Fenster hinaus. Die Landschaft, die sich mir bot, bestand aus kräftig grünen Wiesen und vielen Bäumen. Trotz meiner Liebe zur Natur beschäftigte ich mich lieber mit den Sitzen des ICE. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und lauschte dem Rattern des Zuges.

Als ich die Augen wieder öffnete, war es draußen völlig schwarz. Wahrscheinlich waren wir in einem Tunnel. Es wäre ganz dunkel gewesen, hätte da nicht das Licht in meinem Abteil geleuchtet. Ich blickte aus dem Fenster, indem ich mich, weil es so dunkel war, spiegelte. Mein Spiegelbild war merkwürdig verzerrt, sodass es wirkte, als gäbe es mich zweimal. Plötzlich zuckte ich zusammen. Mein Spiegelbild hatte mir zugezwinkert! Erschrocken streckte ich meine Hand danach aus, um es zu berühren, doch ich berührte nur die Fensterscheibe. Ich erschrak ein zweites Mal, denn mein Spiegelbild war weg. Verschwunden! Nicht mehr da!

Ich wollte raus aus diesem Abteil, raus, aber als ich versuchte, die Tür zu öffnen, blieb diese unverändert. Nach kurzer Zeit gab ich es auf, an der Tür zu rütteln, und machte mich am Fenster zu schaffen. Ich wollte es öffnen, um einen Blick nach vorne werfen zu können. Ganz im Gegensatz zu der Idee mit der Tür klappte diese. Ich konnte ein kleines Licht in der endlos scheinenden Finsternis erkennen, das immer näher kam. Da ich mich im ICE befand, kam das Licht rascher näher, als ich es mir gedacht hatte. In einer solchen Situation wäre bei mir die große Angst aufgekommen, aber ich blieb ruhig, denn wenn der Tunnel zu Ende war, so dachte ich, würde mich hier bestimmt jemand rausholen. Um zu erreichen, dass die Zeit schneller verging, spielte ich mit meinen Fingern auf dem Nebensitz. Dann … Im Bruchteil einer Sekunde wurde mein Abteil in grelles Licht gehüllt. Ich kniff die Augen zusammen und schützte sie mithilfe meiner Hände.

In diesem Augenblick ertönte ein: »Wir erreichen in Kürze den Hauptbahnhof Leipzig.« Schlagartig riss ich meine Augen auf und … Alles war normal. Kein blendendes Licht mehr, und selbst die Tür ließ sich wieder öffnen. Aber … Wieso war mein Spiegelbild noch immer verschwunden …?