Judith Schulz (11)

Reingefallen

»Erzähl mir eine Geschichte!« fordete Samuel, mein kleiner Bruder, mich auf. Ich stöhnte innerlich auf. Auf kleine Nervensägen aufpassen ist wirklich das Letzte. Ich verdrehte die Augen und fragte: »Welche Geschichte möchtest du denn hören?«

»Eine gruslige Geschichte!« rief Samuel begeistert.

Ich überlegte kurz und grinste hämisch. Dann begann ich zu erzählen: »Diese Geschichte ist mir gestern im Wald widerfahren. Ich war so eifrig mit dem Bau meiner Hütte beschäftigt, dass ich die untergehende Sonne nicht bemerkte. Erst als sie vollkommen hinter den Bergen verschwunden war, machte ich mich auf den Heimweg. In der fast völligen Dunkelheit stolperte ich den schmalen Pfad entlang. Bis nach Hause war es noch ein langer Weg, und jetzt begann es auch noch zu regnen. Ich starrte zu dem grauen Himmel mit den vielen Gewitterwolken hinauf. Die Bäume warfen lange Schatten, die wie gefährliche Monster aussahen.«

Ich hörte kurz zu erzählen auf, denn ich merkte, dass Samuel zitterte. Doch er wollte unbedingt weiter hören.

»Der Kies knirschte unter meinen Schritten. Im Gebüsch raschelte etwas.«

»Gleich kommt ein böser Wolf!« rief Samuel entzückt.

»Still! – Laut rief der Uhu seinen Namen. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ein Wind ließ die Blätter auf dem Boden aufwirbeln und es begann zu donnern. Plötzlich hatte ich das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Als ein Blitz den Wald für einen Moment erhellte, sah ich eine dunkle Gestalt immer näher kommen. Ich erkannte eine alte Frau. Ihr Haar hing ihr zottelig über die Schultern. Im bleichen Gesicht saß eine lange Hakennase und darauf thronte eine große Warze mit Haaren. Die Augen waren giftgrün und leuchteten geheimnisvoll. Das Gewand der Alten war zerfetzt. Mit langen spinnenähnlichen Fingern hielt sie einen morschen Stock mit einem Totenkopf darauf fest. Nun bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun.«

»Feigling!« warf mein Bruder ein.

»So schnell ich konnte, rannte ich davon, stürzte, rappelte mich wieder auf und lief bis zu meinem Haus weiter.«

So beendete ich meine Geschichte. Ich verließ das Zimmer und hinterließ einen beeindruckten Bruder zurück. Ich lachte mir ins Fäustchen. Denn die ganze Geschichte war erfunden. Gut gelaunt schaute ich auf die Uhr und beschloss, noch einen kleinen Abstecher in den Wald zu machen.

Dort stolperte ich über eine Baumwurzel. Jemand näherte sich von hinten und reichte mir eine spinnenähnliche Hand. Erschrocken dehte ich mich um und blickte in ein bleiches Gesicht mit langer Hakennase. Darauf war eine Warze. Mit den zotteligen Haaren spielte der Wind.

Ich stieß einen kurzen Schrei aus, als die »Hexe« sich über mich beugte und mich mit giftgrünen Augen ansah…