Elisabeth Saubach (11)

Grüner Kristall

Es war ein schöner Tag in Graz. Ich war gerade unterwegs zu einer Freundin, als ich eine Taube sah. Ich wollte sie fangen und folgte ihr deshalb.

Ich musste schon die halbe Stadt durchlaufen sein. Erst als die Taube wegflog, sah ich, wo ich angekommen war: »Am Tummelplatz!« Als ich die Worte aussprach, verfinsterte sich der Himmel, und es begann schlagartig zu regnen. War es Zufall?

Meine Mutter hatte mir gesagt, ich sollte mich von diesem Platz fernhalten, weil sich dort die Diebe und Mörder tummelten. In diesem Moment kam aus einer Nebengasse ein Mann heraus gesprungen.

»Hallo Kleines!«

Ich sah ihn mir genauer an. Er war schwarz gekleidet und hatte dunkle Augen. Er griff in seine Hosentasche und holte ein Taschenmesser hervor. Ich wollte schreien, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Mit einer Handbewegung zeigte er mir, dass ich ihm folgen sollte.

Wir gingen durch dunkle Gassen und Wege, bis wir an einer alten Kneipe ankamen.

Er schrie: »Da rein! Und beeil dich!«

Ich gehorchte und bewegte mich langsam auf die alte Tür zu, von der her schreckliche Volkslieder herüber klangen. Die Hütte war klein und zum Großteil aus dunklem Holz gebaut. Langsam und mit zitternden Händen griff ich nach dem Türknauf. Er war kalt und ein Schauer lief mir über den Rücken.

Ich bezwang meine Angst und stieß schwungvoll die Tür auf. Die Musik stoppte und alle starrten mich an. Alle waren betrunken. Manche waren bärtig und hatten breite Schultern. Es waren buchstäblich Muskelpakete.

Dann begannen sie schallend zu lachen. Da stand ein grimmig aussehender Mann von seinem Platz auf und sah mich stirnrunzelnd an. Er nahm mich einfach an dem Hemd, das ich trug und schleppte mich zu einer Wand, ging zu einem braunen Hebel und riss diesen herunter.

Plötzlich begann der Boden zu beben. Ich fiel hin, und alles begann sich zu drehen. Dann wurde ich ohnmächtig.

Als ich wieder aufwachte, hatte ich Kopfschmerzen. Das Rütteln hatte aufgehört. Aber anstatt der Wand war jetzt ein reichverzierter Thron zu sehen. Goldketten waren an ihm festgemacht, und Geldscheine lagen am Boden. Ich erwachte aus meiner Erstarrung, als ein Mann hinter dem Thron hervortrat. Er war groß, hatte ein olivgrünes Hemd an und trug eine beige Hose. Er sah böse aus.

Er sah mich an und wandte sich an den Mann, der mich hergebracht hatte.

»Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Das, das ist ein Mädchen!«

»Aber sie kann den Millionenkristall für uns besorgen!«

»Bist du dir da sicher?«

»Ich habe sie beobachtet!«

»Schweig, Schleicher! Ich muss überlegen!«

»Hör mir zu«, sprach dann der Gangster, »wenn sie das schafft, heiße ich Micky Maus!«

Dann wandte sich der Mann an mich und sprach: »Wenn das stimmt, was er sagt...« Er überlegte. »Du wirst etwas für uns stehlen! Den Kristall!«

»Welchen Kristall?«

»Er ist grün und hat die Form eines Herzens, und ist Millionen wert! Aber leider ist er in einem Tresor, wie mir Schleicher erzählt hat, und wo der Schlüssel ist, ist mir unbekannt.«

Erst jetzt fiel mir auf, dass der Gangster eine Pistole hatte.

»Du wirst ihn mir beschaffen! Dann bleibst du am Leben!«

Ich erschrak.

»Schleicher!«

»Ja, mein Herr.«

»Bring sie zu dem Haus, wo der Kristall ist!«

»Ja, mein Gebieter.«

»Aber Schleicher, wenn du ihr etwas antust, dann tu ich dir auch was an.«

»Ja, Meister.«

Mit Schrecken hatte ich das Gespräch mitangehört.

»Komm, du hast es gehört«, sagte Schleicher zu mir. Wir gingen lange.

»Wenn du den Kristall hast, rufe drei mal ‚Schleicher‘. Verstanden?« erklärte er.

Ich dachte nach, welcher Kristall es wohl sein würde. Ich selber hatte einen Kristall – einen grünen Kristall. Ich erschrak, als Schleicher endlich anhielt. Es war unsere Wohnung!

Schnell ging ich die Stiege hinauf, öffnete die Tür und schlich zu der Schublade, wo der Schlüssel für den Tresor war. Ich schlich noch immer, als ich im Wohnzimmer angekommen war. Wir hatten zwei gepolsterte Sessel einen Kacheloffen, einen großen Fernsehr und einen Glastisch. Ich öffnete den Tresor und hatte den Kristall schon in Händen, als meine Mutter ins Wohnzimmer kam.

»Hi, Mom.«

»Aber was willst du denn mit dem Kristall?«

»Ich, ich, eh ehm, also weißt du, ich brauche den Kristall für mein Bioprojekt. Ich pass auf ihn auf, versprochen.« Ich ließ sie verdutzt stehen. Dann rannte ich die Stiege schnell hinunter und rief: »Schleicher, Schleicher, Schleicher!«

Da war er auch schon.

Schnell brachte er mich wieder zu der Kneipe zurück. Der Gangsterboss trank gerade Wein, als ich eintrat. Er sah mich an und sprach: »Na, sieh an, sieh an, da ist ja unsere Diebin! Das freut mich aber.«

Gerade als er den Kristall an sich nehmen wollte, riss ich ihm mit einer schnellen Bewegung die Pistole vom Gürtel und hielt sie ihm an den Kopf: »Keine Bewegung oder euer Boss ist tot!« befahl ich den anderen. Ich kam mir selber ein wenig albern vor, aber niemand wagte es, sich zu bewegen. Langsam ging ich zur Tür und verließ die Kneipe mitsamt dem Boss. Schnell und noch immer mit dem Gangster ging ich nach Hause.

Dann rief ich die Polizei, und er wurde sogleich verhaftet. Ich brachte den Kristall an seinen rechtmäßigen Platz zurück.

Also, passt darauf auf, wohin euch die Tauben bringen können.