Christine M. Petersen (13)

Die Mädchenkammer

»Basti, erzähle mir von der Mädchenkammer! Bitte, bitte!« Ida kuckte ihren Bruder mit großen, bettelnden Bambi-Augen an.

»Wenn ich dir von der Kammer erzähle, schläfst du die ganze Nacht kaum. Das würde Mama und Papa bestimmt nicht gefallen. Nee, die Geschichte kann warten, bis du älter bist. Noch ist dein Herz zu jung dafür. Mit deinen elf Jahren wirst du sie noch nicht verkraften können. Glaub mir, Schwesterchen.«

Der große Bruder spielte sich mächtig auf.

»Wenn du mir nicht von der Kammer erzählst, dann nerve ich dich und Lina den ganzen Abend. Du brauchst dich übrigens gar nicht um meinen Schlaf zu kümmern. Für deine 16 Jährchen bist du nämlich nicht so erzählerisch begabt, dass du mir Angst einjagen könntest. Denk dran: Entweder du erzählst mir jetzt von der Kammer oder du kannst das Schmusen mit deiner Lina vergessen!«

Ida kuschelte sich in ihr Bett.

»Na schön, aber ich hab dich gewarnt!« Basti hockte sich zu Ida auf das Bett und begann seine Erzählung:

»Oben, auf unserem Dachboden, gibt es einen kleinen Raum. Niemand traut sich hinein, weil es von drinnen komische, dumpfe Geräusche zu hören gibt. Es ist die Mädchenkammer. Vor ungefähr hundert Jahren lebte hier im Haus ein feiner Herr. ER hatte ein Dienstmädchen, das diesen kleinen Raum bewohnte. Sie hatte lange Haare. Doch der Herr war unzufrieden und schätzte ihre Arbeit kaum. Er fand sie schlampig und ungezogen. Zu allem Überfluss erwartete sie auch noch ein Kind von ihm. Ein natürlich sehr unerwünschtes Kind, welches unter starkem Alkoholeinfluss entstanden war.«

»Was, echt?« Ida starrte ihren Bruder ungläubig an.

»Soll ich jetzt weitererzählen, oder was?« fragte Basti.

Ida nickte.

»Dem Herren wurde klar, dass ein Kind mit einem Dienstmädchen seinen Ruf komplett ruinieren würde. Du musst wissen, Ida – die Abtreibung gab es damals noch nicht.

Also beschloss der Herr, das Mädchen auszuradieren.«

»Er wollte sie töten?« Ida kroch ängstlich unter die Bettdecke.

»Erzähle ich die Geschichte – oder du?« Basti setzte fort: »Es war draußen schon finster, und das Dienstmädchen war zu Bett gegangen und schlief. Der Herr holte sich ein Messer, ein ziemlich großes Messer, aus der Küche und schlich damit auf den Dachboden. Dort war es stockdunkel! Er fand doch die Tür und drückte langsam die Klinke herunter. Quietschend ging sie auf, und er trat ein. Das Mädchen räkelte sich, wachte jedoch nicht auf. Da stach der Mann auf sie ein.

Verträgst noch mehr, Ida?«

Insgeheim hoffte Basti, dass Ida genug hatte, doch sie nickte eifrig.

»Ganz plötzlich bereute der Herr seine Tat, und ihm wurde von dem Anblick der Leiche sehr schwindelig. So schwindelig, dass er das Messer verlor und so ungeschickt fiel, dass sich die Messerspitze in seinen Rücken bohrte. Er starb auch.

Das Haus wurde verkauft. Ein naives junges Paar zog ein. Die Frau erwartete ihr erstes Kind. Nach einiger Zeit hörten sie die komischen Geräusche, fürchteten sich aber nicht wirklich. Sie waren ja, wie gesagt, ziemlich naiv.

An einem Tag musste der Mann länger als geplant arbeiten und schaffte es deshalb nicht, wie versprochen, einige Kisten auf den Dachboden zu räumen. die Frau machte sich daran, sie hoch zu schleppen. Auf dem Dachboden sah sie eine weiße Gestalt mit langen Haaren. Sie erschrak sich sosehr, dass sie schnell zur Treppe eilte und diese hinunter stürzte. Vom Dachboden hörte sie noch dumpfe Geräusche.

Die Frau erlitt eine Fehlgeburt.«

»Die Arme!« Ida schluckte.

»Kann’s weitergehen?« fragte Basti und erzählte auch schon wieder: »Das Paar zog aus.

Danach stand das Haus viele Jahrzehnte leer. Doch jetzt haben es Mama und Papa gekauft…

Hörst du es?«

Bastis Blick glitt zur Decke. Ida hörte es tatsächlich. Dieses dumpfe Geräusch.

»Das ist das Mädchen.«

Ida bekam mittlerweile schon Angst.

»Ist die Geschichte denn wahr?« wollte sie daher wissen.

Da klingelte es an der Tür.

»Das ist bestimmt Lina. Du hast versprochen, uns in Ruhe zu lassen, ja! Gute Nacht.« Mit einem Satz spurtete Basti zur Haustür.

Ida konnte nicht einschlafen, hörte immer noch das komische Geräusch. Zitternd ging sie auf den Dachboden. Ihr Herz pochte unheimlich schnell und laut… Ida stand auf dem dunklen Loft. Da hörten die Geräusche plötzlich auf, und Ida sah eine weiße Gestalt … mit langen Haaren…