Anton Maurer (13)

Die Hexe Fridwulfa vom Schlossberg

Wenn man nach Graz kommt, fallen einem sofort allerhand interessante Dinge auf, wie zum Beispiel die vielen Springbrunnen und Straßencafés. Am auffälligsten ist aber der Uhrturm. Und der steht am Schlossberg.

Innerhalb des Berges gibt es heute drei Lifte. Die dazugehörigen Schächte wurden allerdings schon im 18. Jahrhundert in den Fels geschlagen. Die Arbeit ging nur sehr langsam voran, und zwar, weil hier eine Hexe ihr Unwesen trieb.

Fridwulfa war weltweit eine der gemeinsten und grausamsten Hexen.

Wir schreiben den 16. Juli 1743.

Fridwulfa schnarchte noch einmal tief auf. Dann öffnete sie ihre grasgrünen Augen und schaute sich hungrig nach Beute um.

Ihre Höhle lag nur wenige Meter von den zwei bereits fetiggestellten Liftschächten des Schlossberges entfernt. Sie war mit zwei Sträuchern so vorzüglich getarnt, dass die Augen gewöhnlicher Sterblicher nicht von außen, wohl aber Fridwulfas scharfe Augen von innen hindurchdringen konnten.

Hier ist es wohl angebracht, Fridwulfas äußeres Erscheinungsbild ein wenig näher zu beschreiben. Sie sah nicht unbedingt so aus, wie man sich eine gewöhnliche Hexe vorstellt. Nein, sie hatte ein faltenloses Gesicht, und ihre ziemlich dicke Figur hatte tatsächlich nur wenig Ähnlichkeit mit den dünnen, ausgemergelten Gestalten, die man heutzutage aus Horrorfilmen wie »Hänsel und Gretel« kennt. Fridwulfa war Mitte dreißig. Ihr bemerkenswert kurzer Hals trug einen fetten Kopf mit einem ungefähr zwei- bis dreilagigen Kinn. Ihr knallrotes Haar war flach auf den Schädel geklebt. Mit ihren kurzen Quadratfüßen konnte sie problemlos laufen, wenn es darum ging, ahnungsvolle Arbeiter oder unschuldige Kinder in einen der tiefen Liftschächte zu werfen.

So wie heute. Als Fridwulfa bewegungslos hinter ihren Sträuchern verharrte, sah sie zwei kleine Kinder den Weg heraufkommen. Es waren ein ungefähr fünfjähriger Junge und ein wahrscheinlich gleichaltriges Mädchen. Hand in Hand gingen die Beiden unbekümmert lachend bis auf wenige Zentimeter an den linken Liftschacht heran.

»Oh!« staunte der kleine Junge, »Schau mal! Das müssen mindestens 100 Meter sein!« Er beugte sich vor.

Auf diesen Moment hatte Fridwulfa gewartet. Mit einem Sprung stand sie hinter den Kindern. Die Beiden wirbelten herum. Ohne viele Worte zu verlieren, gab Fridwulfa dem Mädchen einen Tritt, so dass es mit einem lauten Aufschrei in der Tiefe verschwand. Dem Jungen, dem entsetzt der Mund aufklappte, krallte sie zuerst ihre langen und spitzen Fingernägel tief in die Oberarme. Dann riss sie ihm mit einem heimtückischen Grinsen beide Arme ab. Es folgten beide Beine und zum guten Schluss warf sie die blutverschmierten Überreste des Jungen ebenfalls in den Schacht. Grinsend stiefelte sie danach den Weg hinunter, um innerhalb des Schlossberges, der völlig mit Stollen unterhöhlt war, die Überreste der zwei Kinder aufzuklauben und zu verspeisen. Bei diesem ekelhaften, aber alltäglichen Ritual wollen wir Fridwulfa aber alleine lassen.

Nach zehn Minuten war Fridwulfa mit ihrer schauderhaften Mahlzeit fertig. Sie rülpste laut, spuckte den letzten Knochen des kleinen Mädchens aus und machte sich schnaufend auf den Rückweg zu ihrer Höhle.

Überspringen wir diesen und den nächsten Tag und wenden wir uns zum 18. Juli 1743. Die Eltern der beiden Kinder hatten deren Verschwinden natürlich längst bemerkt, und es war auch von Vornherein klar, wer ihr Verschwinden verschuldete. Die Knochen waren längst gefunden. Der Stadtrat war sich einig, dass die beiden Toten – Nr. 49 und Nr. 50 – ein Jubiläum also – der Anstoß für einen Feldzug gegen die Hexe Fridwulfa sein sollten.

Nun darf man aber nicht denken, dass der Stadtrat die vorhergegangenen 48 Morde aus reiner Nachlässigkeit übergangen hatte. Nein, es war nur ungewiss, ob Fridwulfa vielleicht ungeahnte Kräfte verbarg und möglicherweise alle Rächer umbringen würde.

Aber nun schritt man zur Tat. Zweitausend bis an die Zähne bewaffnete Soldaten umzingelten mit grimmigen Mienen den ganzen Schlossberg, bildeten eine Kette und gingen immer weiter bergauf. Auf diese Weise hatte man Fridwulfas Versteck bald aufgespürt. Vier bärenstarke Soldaten zerrten sie an ihren Haaren aus ihrer Höhle heraus. Erleichtert nahmen sie wahr, dass Fridwulfa in dieser Richtung augenscheinlich keine magischen Kräfte besaß. Die Soldaten hielten Kriegsgericht. Dass Fridwulfa ermordet werden sollte, war beschlossene Sache. Aber wie das geschehen sollte, darüber waren sich die Soldaten gar nicht einig.

Manche der Soldaten waren für den allbekannten Scheiterhaufen, manche für Rädern, wieder andere für Enthaupten. Der Rest schlug die fantasievollsten Todesarten vor, wie Gehirn bei lebendigem Leib durch die Nase entfernen, Stimmbänder herausreißen und daran erhängen und viele Andere. Schließlich einigte man sich darauf, Fridwulfa ganz einfach in einen der Schächte hinunterzuwerfen. Fridwulfa brüllte laut, als sie hinabstürzte. Dann war alles ruhig.

Der schlechte Ruf des Schlossberges lebte allerdings noch weiter und die Lifte wurden erst im 20. Jahrhundert fertiggestellt.