Anton Maurer (13)

Martin und die Killersau

Es war an einem wunderschönen Aprilmorgen. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel, und überall in Graz sah man gutgelaunte Leute umhergehen. Von alledem merkte nur einer nichts. Und das war Martin. ER stürmte in die Kassenhalle und murmelte: »Regionalzug nach Graz-Webling um neun Uhr von Bahnsteig 8b.« Diesen Satz hatte der Sechsjährige so oft wiederholt, bis er ihn auswendig konnte. Er sollte nämlich das erste Mal ganz alleine mit dem Zug fahren. Und zwar zu seiner Tante Mathilde nach Graz-Webling. Seine Eltern wollten ihn zwar eigentlich mit dem Auto hinbringen, aber Martin hatte darauf bestanden, die vermeintliche Weltreise alleine anzugehen.

Inzwischen bereute er seinen Entschluss längst. Aber da half jetzt nichts mehr. Verwirrt stand Martin in der riesigen Kassenhalle. Wo ging es hier bitte zum Bahnsteig 8b? Gerade, als er den Entschluss gefasst hatte, einfach quer über die Gleise zu rennen, kam eine Stimme aus dem Lautsprecher: »Regionalzug nach Köflach über Graz-Webling fährt Bahnsteig 8b ab!«

Martin riss den Mund auf. Ohne sich weiter umzusehen, stürmte er auf den Bahnsteig 1. Er setzte zum Sprung auf die Schienen an, als er sich plötzlich zurückgerissen fühlte. Zwei bedrohliche Augen funkelten ihn an, und eine tiefe Stimme fragte: »Nanu, was sind denn das für neue Moden?«

Martin riss sich los und stürmte zurück in die Kassenhalle. »Na toll«, dachte er sich, »der Zug ist weg, und Tante Mathilde wartet umsonst auf ihr süßes Neffilein! Ach, was soll’s, ich kann diese überdrehte Gestalt sowieso nicht leiden. Außerdem kann ich ja den nächsten Zug nehmen.«

Er beschloss, sich in der Zwischenzeit etwas zu kaufen. Das Geld reichte nämlich nicht nur bis Graz-Webling, sondern seiner Meinung nach mindestens dreimal um die ganze Welt.

Seine Blicke wurden von einem bunten Schild mit der Aufschrift Bahnhofslotterie angezogen. In einem kleinen Schaukasten befanden sich Bilder von allen möglichen Dingen, die es zu gewinnen gab. Von einer Großpackung Seife bis zu einem Gutschein für zehn Jahre Gratis Klopapier sowie einer Anzahlung von 1000 Euro für einen Ferrari konnte man alles gewinnen. Martins Blicke wurden aber von einem rosa Schwein angezogen. Dem Anschein nach war es ein Marzipanschwein. Martin beschloss, einfach einmal nachzufragen. Er ging in die Lotterie hinein und grinste die Verkäuferin vertrauensselig an: »Wieviel kostet eigentlich das Schwein?« Die Verkäuferin lächelte und meinte: »Das Schwein ist nicht verkäuflich. Es kann nur gewonnen werden! Dazu musst du dir ein Los kaufen. Kostet fünf Euro!«

Martin zahlte und bekam ein Briefchen mit einer langen Nummer ausgehändigt. Er legte es der Dame vor die Nase und fragte ungeduldig: »Krieg ich jetzt endlich mein Schwein?« Die Verkäuferin fuhr mit ihren grellbunt schattierten Augen eine lange Liste entlang. Diese bemerkenswert großen Sehorgane weiteten sich plötzlich.

»Tatsächlich«, murmelte die Dame. Sie blickte auf: »Willst du das Schwein gleich mitnehmen?«

»Also, am liebsten würde ich es gleich hier essen!« knurrte Martin. Die Dame schmunzelte amüsiert, als sie in einem langen Gang verschwand. Sie schien das ganze für einen Witz zu halten. Knapp eine Minute später hörte Martin einige unartikulierte Laute und einen kräftigen Fluch. Von den folgenden Verwünschungen verstand er nur einige Bruchstücke: »blöde Sau… abschlachten… armer Junge…«

Die Tür ging auf, und Martin erstarrte. Die Dame versuchte mit wutverzerrtem Gesicht, einer (wie Martin es nannte) »rosa Ringelsau« ein Halsband umzubinden. Diese quiekte in den höchsten Tönen und war dem Anschein nach ganz und gar nicht gewillt, sich wie ein Hund an die Leine nehmen zu lassen. Mit einem plötzlichen Wutanfall stürzte sich das Tier auf die Dame und biss ihr erst einmal kräftig in einen Finger. Und dann wurde Martin Zeuge vom weltweit wahrscheinlich ersten Kampf zwischen einem wütenden Schwein und einer ebenso wütenden Ziege, pardon, Dame.

Begeistert feuerte er sein Schwein an: »Gib’s ihr! Du schaffst es, du… ähm… Killersau! Jawohl, ich glaube, ich habe den richtigen Namen für dich – Killersau.«

Doch als die Verkäuferin mit schmerzverzerrtem Gesicht zu einer Schublade rollte und ein großes Messer hervorholte, verging Martin das Lachen. Aber für seine sechs Jahre meisterte er die Situation wirklich gut. Er riss der Verkäuferin das Messer aus der Hand, hielt es ihr drohend vor die Nase und bemerkte: »Wenn du meine Killersau killst, dann kille ich dich!«

Ihr blutverschmiertes Handgelenk, dieser verrückte Sechsjährige und die vielen »Kille« in seiner Rede, das alles schien die Verkäuferin ein wenig beschwipst zu machen. Sie bekam glasige Augen, stierte blöde auf das Schwein, kicherte plötzlich und sagte: »Kille kille, kille kille! Das ist mein letzter Wille!«

»Die ist ja nicht mehr ganz normal!« sagte Martin zu seiner Killersau.

Das Schwein quiekte zur Bestätigung und stürmte urplötzlich los. Martin rannte hinterher. Zuerst ging die Jagd durch das Schaufenster, dann durch ein Gewühl von entgeistert dreinblickenden Menschen, und schließlich raste die Killersau auch noch eine Rolltreppe nach unten, einen breiten Gang entlang, und schließlich noch eine breite, schmutzige Stiege hinauf. Martin besah sich ein blaues Schild. Die Aufschrift lautete: »8b«. Und gleich darauf sah er hier einen Zug stehen.

»Wohin fährt der, bitte?« fragte Martin einen mehr als nur dumm dreinsehenden Schaffner.

»Köf… Köflach über Graz-Webling«, stotterte der Mann.

Begeistert, es nun doch noch geschafft zu haben, wenn auch mit einem späteren Zug, stürmte Martin in den Waggon.

Die Killersau wählte den kürzeren Weg. Sie sprang geradewegs durch ein Fenster. Ein Splitterhagel, ein lautes Aufquieken und …

»Helfen Sie mir!« wandte sich Martin an den Schaffner, »Vielleicht hat meine Killersau sich was getan!«

»Kille… kille… was?!« fragte der Mann entgeistert. Er wollte schreiend davonlaufen, doch nun wurde die Killersau vollends verrückt. Eine zehntel Sekunde, nachdem sie mit einem schauerlichen Klirren durch ein anderes Fenster wieder auf den Bahnsteig gesprungen war, versenkte sie auch schon quietschend vor Begeisterung ihre Zähne tief im Bein des Schaffners.

Es war das totale Chaos. Martin versuchte verzweifelt, die Uniform des Schaffners in Streifen zu reißen, um die Killersau wenigstens notdürftig zu verbinden, und der Schaffner schrie wie am Spieß, während die Zähne der Killersau allmählich auf der anderen Seite seines Beins zum Vorschau kamen.

Am nächsten Tag schien am Grazer Hauptbahnhof alles wieder seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Nur dem genauen Beobachter fiel es auf, dass einige Arbeiter den Bahnhof renovierten, ein ganzes Heer von Putzfrauen etwaige Blutspuren entfernte, und einige Glaser anscheinend auch nicht ganz unbeschäftigt waren…