Silja Kornacher (13)

Das Tigerauge

»Jana! Jana, wach doch endlich auf!«

Brummend drehe ich mich auf die andere Seite und ziehe mir die Decke über den Kopf. Gerade habe ich noch so schön geträumt!

»Janaaaaa!« ruft die Stimme schon wieder. Da setzt sich jemand auf meinen Bauch und reisst mich an den Haaren. Das wird wohl mein Monsterbruder Tommy sein.

Ärgerlich knurre ich: »Hau ab! Wie du siehst, schlafe ich noch! Ausserdem ist heute Sonntag!«

Jetzt geht das Theater erst richtig los. Mein Bruder fängt an, auf mir herumzuturnen und schreit lautstark: »Nein, heute ist nicht Sonntag, heute ist unser erster Schultag! Steh doch endlich auf!« Das hat gesessen. Hellwach setze ich mich im Bett auf. Der erste Schultag! Den habe ich ja vollkommen vergessen! Schnell springe ich auf, übersehe aber leider meinen kleinen Bruder ganz, der nun stöhnend auf dem Boden liegt.

»Spinnst du? Du kannst doch nicht einfach aus dem Bett schiessen wie eine Rakete! Aua, mein Kopf!« jammert er. Entschuldigend strubble ich ihm durch das Haar und verschwinde schnell ins Bad.

Gerade, als ich mein Müsli fertig gelöffelt habe, hupt meine Mutter draussen. »Kinder, beeilt euch!« höre ich sie rufen. Ich renne in mein Zimmer und hole meinen Rucksack. Auf dem Nachttisch sehe ich den Stein, den meine beste Freundin Veronika mir zum Abschied gegeben hat.

»Damit du mich nie vergisst. Er wird dir Kraft und Mut geben, um neue Freunde zu finden«, hat sie vor meinem Umzug zu mir gesagt. Schnell stecke ich das Tigerauge ein.

Kurz darauf sitzen Tommy und ich auch schon im Auto. Während der Fahrt redet meine Mutter ununterbrochen, doch ich höre ihr gar nicht richtig zu, so sehr bin ich in Gedanken. Heute ist mein grosser Tag, und ich bin sehr aufgeregt.

Ich werde heute meine zukünftige Schule zum ersten Mal sehen und jede Menge neue Leute kennen lernen. Ob sie mich so wie meine alten Freunde akzeptieren werden? Plötzlich bekomme ich Angst. Eine bedrückende Angst, die mir fast die Luft abschneidet. Stumm sitze ich da und warte, bis es soweit ist. Nach ein paar schrecklichen Minuten sind wir angekommen.

»So, meine Lieben, dann wünsche ich euch viel Spass«, zwitschert meine Mutter fröhlich. Doch mir ist viel mehr zum Heulen zumute.

Mit weichen Knien und meinem kleinen Bruder Tommy an der Hand betrete ich den Pausenplatz. Überall stehen Kinder, die fröhlich schwatzen und lachen. Und jetzt? Neugierig sehe ich mich um. Das Schulgebäude ist gross und grau, es wirkt unfreundlich. Am liebsten wäre ich wieder gegangen. Aber das geht ja nicht, ich kann meinen Bruder nicht einfach alleine lassen. Wo ist er denn überhaupt? Erschrocken sehe ich mich nach ihm um.

»Jana, schau mal, hier oben bin ich! Carlo zeigt mir gerade, wie man es sich auf einem Baum gemütlich macht!«

Ich kriege fast einen Herzinfarkt, als ich Tommy auf dem grossen Kastanienbaum über mir entdecke. Stolz winkt er mir zu und deutet auf einen anderen Jungen, der wohl dieser Carlo ist. So schnell kann es bei meinem Bruder gehen! Eigentlich sollte ich ihn sofort da runter holen. Doch dazu fühle ich mich momentan nicht im Stande.

»Pass bloss auf!« rufe ich zu ihm hoch. Er nickt eifrig. Na gut, dann kann ich ja beruhigt weitergehen. Gerade lege ich mir gedanklich die Sätze zurecht, die ich zu meiner Klasse sagen will, als ein Mädchen in meinem Alter auf mich zukommt. Sie ist gross, schlank und hat lustige grüne Augen mit Sprenkeln darin.

»Hallo«, begrüsst sie mich freundlich und grinst. Ich grüsse zurück, indem ich schüchtern die Hand hebe.

»Du bist wohl neu hier. Komm, ich zeig dir das Schulgelände. Ich heisse übrigens Charlotte, und wie heisst du?« fragt sie und zieht mich mit sich.

Aufgeregt taste ich nach dem Tigerauge in meiner Hosentasche. Es fühlt sich kalt an, trotzdem gibt es mir Wärme und Wohlbefinden.