Silja Kornacher (13)

Soraya

Unschlüssig stehe ich vor unzähligen Klingelschildern. Scheint ziemlich bewohnt zu sein, dieses Haus hier! Schnell überfliege ich alle Namen. Also, wie heisst sie noch mal? Swoboda, ach ja. Hier steht’s. Ich atme tief durch und drücke auf den Klingelknopf. Am liebsten hätte ich mich wieder umgedreht und wäre davongegangen.

Wieso habe eigentlich genau ich vom Lehrer den Auftrag bekommen, dieser eigenartigen Soraya die Hausaufgaben zu bringen? Sie redet ja fast nie was und ist immer so ein Aussenseiter. Also ich persönlich finde sie schrecklich.

Und jetzt tut sich nichts da oben. Na super. Dafür habe ich jetzt diesen ganzen Stress auf mich genommen! Ewig lang habe ich diese blöde Pomeranzengasse gesucht und bin bestimmt zehn Mal den Hauptplatz auf und abgegangen. Schon dieser Name war mir nicht geheuer!

Da laufe ich völlig ratlos und genervt an diesem Juwelierladen vorbei, und plötzlich stehe ich vor einer ungefähr zwei Meter breite Gasse. Zugegeben, ich habe sie mir um einiges anders vorgestellt. Stundenlang habe ich nach einer schönen, hellen und belebten Gasse gesucht, und jetzt stehe ich hier in dieser Nische!

Und das nur, um dieser Soraya, die ich kaum kenne, die Hausaufgaben zu bringen! Und das Beste ist, dass gar niemand da ist. Na toll.

Frustriert setze ich mich in das Cafe »l`angolo«, das am Ende der Gasse liegt. Wenigstens etwas Gutes! Neugierig sehe ich mich um. Der Putz der Häuser ist ganz abgebröckelt, Fensterscheiben sind eingeschlagen, an mehreren Wänden hat ein Schmutzfink Graffitis gesprüht und aus dem Fenster hängt eine Wäscheleine mit zerrissenen und ziemlich armseligen Kleidern.

Schön! Richtig gemütlich ist es hier! Grimmig bestelle ich mir eine Cola.

Und was passiert jetzt? Soll ich etwa den ganzen Tag hier sitzen und warten, bis diese Soraya sich bequemt, wieder nach Haus zu kommen? Von wegen krank!

Plötzlich sehe ich, wie sich oben am Fenster eine Gardine bewegt. Ich bilde mir ein, einen schwarzen Wuschelkopf gesehen zu haben. Aber das kann nicht sein, Soraya ist ja nicht da. Oder etwa doch?

Plötzlich fällt mir alles wie Schuppen von den Augen. Sie ist da, und sie hat mich auch gesehen. Aber sie schämt sich. Sie schämt sich, hier zu wohnen, in dieser verwahrlosten Gasse. Und sie weiss auch nicht, was sie zu mir sagen soll. Langsam beginne ich sie zu verstehen.

Schnell zahle ich mein Getränk und laufe zurück zur Haustür. So fest ich kann, drücke ich ein zweites Mal auf die Klingel. »Bitte, bitte, mach auf!« flehe ich innerlich.

Tatsächlich, nach einer Weile höre ich den Türsummer. Mit klopfendem Herzen gehe ich die Treppe hinauf. Gleich im ersten Stock erwartet Soraya mich. Traurig sieht sie mich mit ihren fast schwarzen Augen an.

Ermunternd lächle ich ihr zu und sage sanft: »Hallo! Entschuldige, dass ich dich störe. Ich soll dir die Hausaufgaben bringen. Ich habe schon einmal geklingelt, aber beim ersten Mal hast du es wohl nicht gehört!«

Soraya nickt nur stumm und schaut zu Boden.

»Komm rein. Aber bitte nicht erschrecken, es nicht schön hier!« sagt sie dann in gebrochenem Deutsch.

Vorsichtig streife ich meine Schuhe von den Füssen und trete in die Wohnung.

Gut, sie hat Recht, es ist wirklich alles Andere als schön: Wasser tropft an manchen Stellen von den Wänden, überall liegt Müll und die Möbel sind kaputt. Aber ich versuche tapfer zu lächeln und folge ihr.

Als wir beide uns endlich in die enge Küche gezwängt haben, beginnt Soraya unaufgefordert, aber stockend zu reden.

»Weisst du, ich hatte Angst. Nicht will, dass du siehst, wie ich wohnen. Tut Leid.«

Ich muss wegen ihrer Sprache schmunzeln, werde aber kurz darauf wieder ernst.

»Nicht schön hier. Ich bin immer allein, weil Mutter und Vater arbeiten müssen. Nachts auch. Ich hab Angst. Es kommen viele Drogenhändler hier und machen schmutzige Geschäfte!« erzählt Soraya.

Immer wieder murmelt sie vor sich hin: »Nicht schön hier.«

Verständnisvoll blicke ich sie an.

Sie tut mir so Leid, und ich weiss nicht wieso, aber dann nehme ich sie einfach in den Arm.