Caroline Klier (12)

Wieso die Neue-Welt-Gasse heißt, wie sie heißt

»Ach Mama! Rege dich bitte nicht so auf.«

Line versuchte vergebens, ihre Mutter zu beruhigen, denn die schimpfte schon wieder weiter:

»Du bist eine Schande für die ganze Familie! Sich für diese Gollowitschs zu interessieren! Du weißt doch, dass sich unsere Familien wegen diesem Streit nicht vertragen. Auch wenn du davon schon so oft gehört hast, erzähl’ ich dir von dem Streit noch mal:

Also, beide Familien waren Bauern; die Gollowitschs hatten größere Felder, wir dafür hatten mehr Kühe. Es gab schon immer einen heftigen Streit zwischen uns und den Gollowitschs. Dieser Hass besteht noch heute.«

Ja, das wusste Line schon, aber Zissi war nun mal ihre beste Freundin, ob Zissi nun eine Gollowitsch war oder nicht. »Ja, aber Mama. Zissi ist nicht so wie ihre Eltern!«

»Nenne sie nicht Zissi, sie ist und bleibt Franziska! Und es sind nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihre Groß- und Urgroßeltern waren so. Warum also sollte Franziska anders sein?« Ihre Mutter brüllte schon fast.

Line rannte mit Tränen in den Augen in ihr Zimmer. Ihr Zimmer lag im ersten Stock eines blauen Hauses. Sie hatte nur ein Fenster, denn die Wohnung der Familie Klier war nicht groß. Das Fenster war ihr Lieblingsfenster, obwohl es nur eine dunkle, enge Gasse zeigte. Es war das zweite Fenster von links. Gegenüber von diesem Fenster lag das Fenster von Zissi.

Die Beiden machten sich immer Zeichen, mit denen sie sich verständigten. Wenn sie sich so unterhielten, spielten sie oft, dass sie irgendwo anders auf der Welt wären. An diesem Tag befanden sie sich im Dschungel.

Zissi ritt auf einem großen Elefanten und Line saß auf einem gezähmten Löwen. Sie ritten durch den dichten Urwald. Es gab sehr viele Lianen, um die sich Schlangen wanden. Keiner war da, der schimpfte, und sie befanden sich endlich in einer »neuen Welt«.

Zissi und Line nannten ihre Gasse »Neue-Welt-Gasse«, weil sie sich hier, wie gesagt, wie in einer neuen Welt fühlten.

An einem Samstag – denn sie trafen sich immer samstags – kam Zissi nicht am Fenster. Line wartete und wartete. Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn ihre Mutter recht hatte? Was, wenn Zissi wirklich so war wie ihre Eltern?

Line ging zu ihrem Vater und erzählte ihm, dass Zissi nicht mehr da war. »Also ist die Zissi doch nicht so nett, wie?« stichelte ihr Vater. Er erzählte ihr viele Gemeinheiten über Zissi und am Ende glaubte ihm Line. Da hatte Lines Vater seiner Tochter wohl eine Freundin ausgetrieben.

So endete eine wunderbare Freundschaft, aber die Neue-Welt-Gasse hieß noch immer »Neue-Welt-Gasse«, auch wenn die beiden Freundinnen einander nie mehr wiedersahen.