Jannis Kaiser (13)

Begegnung im Seegras

Die Morgensonne weckte mich an diesem Tag schon früh auf. Ich rieb mir die Augen und verließ mein Seegrasbett. Dann schwamm ich durch den Höhlenausgang, um mich auf die Jagd zu machen. Heute war das Wasser besonders warm. Sowie ich mich über den Seegrund schlängelte, entdeckte ich einen riesigen Fischschwarm.

Langsam durchstreifte ich das Seegras, doch während ich mich heranpirschte, hörte ich plötzlich eine wundervolle Melodie. Sie klang so schön, dass ich den Fischschwarm ganz vergaß und der Musik lauschte. Wie von Magneten angezogen bewegte ich mich in die Richtung, aus der die Musik kam.

Nachdem ich einen kleinen Hügel hinter mir gelassen hatte, fiel mir vor Schreck mein Dreizack aus den Händen. Ich traute meinen Augen nicht. Eine wunderschöne Meerjungfrau saß vor mir auf einem Stein und spielte auf der Harfe. Sie hatte langes braunes Haar, meeresblaue Augen, und ihre grün-blauen Schuppen funkelten im Sonnenschimmer.

»Du kannst aber gut spielen«, begann ich, um mit ihr ins Gespräch zu kommen.

»Danke für das Kompliment«, sagte sie, »das Spielen habe ich von meiner Mutter gelernt. Wie heißt du denn?«

»Ich bin Aquarius, auch Aqua genannt. Und wer bist du?« fragte ich.

»Ich heiße Iris, Tochter des Meereskönigs Urquell.«

»Oh, das ist mir eine Ehre«, blubberte ich.

»Ach, weißt du«, meinte Iris, »eigentlich finde ich es nicht so schön, zu der Königsfamilie zu gehören. Ich habe alles, was man sich nur vorstellen kann, da freut man sich nicht mehr so sehr über Kleinigkeiten. Außerdem hab’ ich gar keine Freiheit, weil ich oft beaufsichtigt werde. Ich möchte einfach einmal mit jemandem wie dir spielen und herumtollen.«

Bei diesen Worten lief ich rot an, weil ich mich geschmeichelt fühlte. Verlegen wackelte ich mit meiner Hinterflosse.

Auf einmal rief Iris: »Schnell, versteck’ dich!«

Sie nahm mich bei der Hand und zog mich ins hohe Seegras. Und kurz darauf kam ein großer und starker Meermann zum Vorschein. Er trug eine Krone mit Perlen an den Zackenspitzen und hatte einen Fünfzack in der Hand, der mit Gold überzogen war.

»Mein Vater darf mich nicht mit dir entdecken, denn er hat mir verboten, mit anderen Meermännern zu spielen«, flüsterte Iris.

Da bekam ich einen Schreck. Ich hatte doch noch meinen Dreizack in der Mulde liegen. Doch es war zu spät. Als König Urquell den Dreizack erblickte, hob er ihn auf und verzog seine Miene. Danach schaute er sich um und suchte die Gegend ab. Er bewegte sich in unsere Richtung.

Iris und ich drückten uns noch mehr auf den Meeresgrund. Urquell durchstreifte das Seegras. Jede kleinste Bewegung würde uns verraten. Aber ich musste wegen meiner Krebse-Allergie niesen, und König Urquell reagierte blitzschnell.

»Flieh, Aqua, flieh!« schrie Iris und versperrte ihrem Vater den Weg. Ich schwamm so schnell ich konnte davon. Aus sicherer Entfernung blickte ich noch einmal zurück. Ich sah, wie Urquell auf mich deutete, meinen Dreizack entzweibrach und Iris eine Ohrfeige verpasste. Zurück in meiner Höhle machte ich mir mehr Sorgen um sie als um meinen Dreizack und überlegte mir schreckliche Sachen, die passieren könnten. Sie hatte mir so gut gefallen, dass ich den ganzen Tag an sie denken musste.

Gleich am nächsten Tag schwamm ich an die Stelle, wo Iris auf der Harfe gespielt hatte, doch sie war nicht dort. Ich suchte noch mal die ganze Gegend ab erfolglos. Mit gesenktem Kopf wollte ich mich gerade auf den Rückweg machen, als ich direkt hinter mir eine helle Stimme hörte. Es war die Königstochter.

»Iris!« freute ich mich.

»Komm mit, ich zeig’ dir was«, blubberte sie und nahm mich an der Hand. Ich verspürte ein warmes Gefühl im Bauch, als sie mich führte.

Nach einer Weile waren wir vor einer Höhle angelangt. Sie hatte einen schmalen Eingang, durch den wir uns zwängten. In der Höhle war es herrlich. Wir befanden uns in einer großen Halle, von der mehrere Verzweigungen wegführten. Nachdem wir durch den rechten Gang geschwommen waren, lag eine kleine Kammer vor uns. Durch die vielen Ritzen in den Wänden schien die Sonne. Alle Sonnenstrahlen bündelten sich in der Mitte, wo sich eine riesige aufgeklappte Muschel befand. Wir legten uns hinein und schlossen die Augen.

»Das ist mein Geheimversteck«, meinte Iris, »hierhin ziehe ich mich immer zurück, wenn ich mich geärgert habe, wie jetzt zum Beispiel. Ich werde nie mehr ohne Aufsicht raus dürfen, wenn mein Vater uns ein zweites Mal zusammen sieht. Aber jetzt vergessen wir erst mal alles und beruhigen uns.«

Mit diesen Worten schloss Iris den Muscheldeckel.