Lisa Heidinger (13)

Großmutters Geschichte

»So, ihr Racker!«, sagte Großmutter Eichkatz. »Jetzt schlaft schön bis morgen.«

»Nicht ohne eine Geschichte!« riefen die Drillinge Thaddäus, Irinas und Merseus im Chor. Großmutter Eichkatz seufzte und setzte sich auf einen Holzklotz, der in der gemütlichen Eichkätzchenbehausung als Stuhl diente. »Na gut. Ich erzählte euch heute von einem mutigen Eichkätzchen.«

»Fein!« rief Irinas. »Ich mag auch mutig sein!«

Großmutter begann mit der Erzählung ihrer Geschichte: »Es gab einmal ein Eichkätzchen namens Hansi. Hansi war jedoch nicht frei, so wie wir es sind.«

»Nicht? Der Arme!« unterbrach Thaddäus, doch Großmutter Eichkatz fuhr unbeirrt fort: »Hansi gehörte dem Tiertrainer Johannes Mutz. Das Eichkätzchen war berühmt, denn wann immer es ein größeres Ereignis im Land gab, musste es auftreten, denn es spielte eine, in Panik geratene Frau auf einer sinkenden Mini-Titanic. Für dieses Schauspiel hatte man ihm extra ein rosarotes Kleid angefertigt, das es immer trug. Johannes Mutz war durch Hansi steinreich geworden, und er ließ das Eichkätzchen auch an seinem Reichtum teilhaben, doch richtig glücklich war es nicht. Oft, wenn es an seine Familie dachte, kamen ihm die Tränen.

Hansi hatte alles, was sich ein Eichkätzchen nur wünschen konnte, und berühmt war er auch noch dazu, ein richtiger Star, sozusagen, doch er wünschte sich etwas, was für uns selbstverständlich ist – sein größter Wunsch war es nämlich, frei zu sein. Er wollte zurück in den Wald, um dort mit seinen Artgenossen herumzutollen, er wollte endlich wieder selber Futter suchen, und er wollte sich auch eine eigene Wohnung in irgendeinem Astloch bauen.«

»Oh ja, ich will mir auch einmal eine Wohnung bauen, aber eine ganz schöne!« warf Merseus ein. Die anderen beiden Eichkätzchen nickten zustimmend.

Großmutter Eichkätzchen lächelte und begann wieder zu erzählen: »Eines Tages sah Hansi seine große Chance, zu entkommen. Es war nämlich eine große Feier zu Ehren des neu gewählten Bürgermeisters geplant. Er merkte, wie wichtig seinem Herrn diese Veranstaltung war, denn vor seiner Vorstellung wurde Hansi doppelt so schön, wie sonst, hergerichtet. Jede Masche an seinem Kleid wurde festgezogen, er bekam Puder ins Gesicht und seine Haare wurden gekämmt.

Doch Johannes Mutz wurde übermütig. Er wollte alles perfekt machen und dem Publikum auch zeigen, wie gut es Hansi bei ihm ging. Darum hängte er das Eichkätzchen an diesem Tag nicht an die Leine, wie sonst immer. Als sein Herr ins Rathaus, wo die Feier stattfinden sollte, einmarschieren wollte, kratzte Hansi ihm in die Wange und sprang mit einem Satz in die Menschenmenge, die auch gerade den gleichen Zielpunkt vor Augen hatte.«

Irinas sprang übermütig im Zimmer herum und boxte immer wieder in die Luft. »Ja, zeig’s ihm, Hansi!« rief er dabei.

»Wo war ich?« fragte Großmutter Eichkatz.

»Er sprang in die Menschenmenge!« antwortete Merseus.

»Ach ja. Also, Hansi nutzte die Gelegenheit und sprang in die Menschenmenge. Er blieb mit seinem Kleid an einem Regenschirm hängen, doch er schaffte es, sich loszureißen. Sein Rosa Kleid war zerrissen, doch das war ihm egal, denn dieses Leben hatte sowieso ein Ende für ihn. Er rannte, so schnell er konnte, in den nächstgelegenen Wald und versteckte sich in einem hohlen Baum. Dort zerbiss er den Rest seines rosa Kleides, bis sein Körper frei davon war.

Johannes Mutz suchte in jedem Astloch nach seinem Eichkätzchen. Er sah es sogar einmal vorbeihuschen, doch er erkannte es nicht, denn ohne sein Kleid sah es aus, wie all die anderen Eichkätzchen auch. Und wenn Herr Mutz ihn nicht gefunden hat, dann sucht er Hansi noch heute«, beendete Großmutter Eichkatz die Geschichte.

Die Eichkatzenkinder guckten zufrieden. »Ich will auch mal so werden wie Hansi«, sagte Thaddäus.

»So mutig, gell?!« fügte Irinas hinzu.

»Und ein so guter Schauspieler«, setzte Merseus fort. »Hat es denn überhaupt so einen Hansi gegeben?« fragte er plötzlich zweifelnd.

»Nein«, antwortete Großmutter Eichkatz. »Ich glaube nicht.«

Die drei schienen ein bisschen enttäuscht.

»Aber ihr drei könnt doch versuchen, die ersten Hansis zu werden«, meinte sie aufmunternd.

Die Eichkätzchen stimmten begeistert zu.

»Und wie fangen wir damit an?« fragte Thaddäus.

»Am besten, wenn ihr jetzt ganz schnell einschlaft, damit ihr morgen wieder frohen Mutes seid und es euch überlegen könnt«, antwortete die Großmutter.

Die drei gehorchten sofort und legten sich in ihre weichen Sägespanbetten.

Großmutter Eichkatz wünschte ihnen noch eine gute Nacht und ging dann in ihr Zimmer. »Schade, dass es solche mutigen Hansis nicht wirklich gibt«, seufzte sie.

Doch vor dem Öffnungsloch hatte eine kleine Gestalt mit einem rosa Stofffetzen im Maul ihrer Geschichte gelauscht. Wissend wandte sie sich ab und verschwand im Dunklen.