Annick Geissbühler (10)

Ein Grab, ein Buch und eine Miss Superschlau

»Wer auch immer diese Aufzeichnungen findet, soll sie gut verwahren und ihre Anweisungen befolgen«, las Anja feierlich vor. Kaum konnte sie verbergen, dass sie vor Aufregung über den Fund, den sie bei ihren Ausgrabungen entdeckt hatten, fast platzte.

»Unterzeichnet von Völker- und Kulturforscher Mr. Georg Dawn.«

»Wow, klingt echt spannend«, meinte Sophie.

»Was machen wir nun mit den Aufzeichnungen?«

»Na, was wohl? Wir haben Urlaub. Wir nehmen die Aufzeichnungen mit, studieren sie gründlich und brechen auf ins Abenteuer. Wir finden das Aztekengrab, haben sehr viel Spass und werden dazu noch berühmt!«

Nach dieser Rede war Sophie echt platt. »Na klar, gescheite Anja weiss natürlich wieder einmal alles. Warum wusste ich das nicht? Wie kann man nur so blöd sein wie ich?« dachte Sophie. Manchmal ging Anja ihr echt auf die Nerven.

Klar, sie waren Freundinnen. Um genau zu sein, sie waren Studienkolleginnen, und Sophie hasste es, wenn Anja immer alles besser wusste. Manchmal waren die Zwei eben kindisch. Das Dümmste an allem war sowieso, dass Anjas Ideen meistens gut waren und dass Anja, wenn sie wieder einmal etwas zu wissen glaubte, meistens auch noch recht hatte. Noch eine Woche, dann begannen die Ferien. Anja und Sophie konnten es kaum noch erwarten.

»Endlich Urlaub!« jauchzte Anja. An diesem Tag würden Sophie und sie nach Mexiko fahren, um nach dem Grab zu suchen.

Das größte Problem war, dass in den gefundenen Aufzeichnungen nur geringe Anhaltspunkte vorhanden waren. Zu den Notizen wurde damals noch eine Karte dazugelegt. Die Anweisungen, die genau befolgt werden mussten, lauteten wie folgt:

»Findet das Grab und das Buch der Weisen. Es ist sehr wichtig, dass dieses Buch gefunden wird, denn darin ist weiteres zu erfahren. Man muss in zwei Gebieten suchen.«

Während Sophie mit Anja im Flugzeug sass, dachte sie: »Dieses Vorhaben klingt recht unheimlich. Na ja, wir werden es überleben, aber ich weiss nicht, ob das Ganze überhaupt erlaubt ist. Ich denke, wir hätten zumindest unseren Chef informieren sollen.«

Als ob Anja die Gedanken von Sophie lesen hatte können, sagte sie: »Sophie, du hast doch nicht etwa Angst wegen dieser Sache mit dem Grab, oder?«

»Nein, nein«, log Sophie schnell genug, sodass Anja nicht denken würde, dass Sophie eben doch Angst hätte und sich nur nicht traute, dieses Gefühl laut auszusprechen.

Nachdem sie angekommen waren, waren sie ziemlich erschöpft und gingen erst einmal zu ihrem Hotel.

»Was meinst du, sollen wir zuerst dieses Gebiet hier«, Anja tippte auf die Karte, »oder das Gebiet daneben absuchen?«

»Wir können uns ja trennen, und jede von uns erforscht dann ein Gebiet für sich allein«, meinte Sophie. Sie glaubte, endlich einmal einen Geistesblitz gehabt zu haben. Aber nein! Miss Superschlau war natürlich wieder einmal nicht einverstanden mit Sophies Vorschlag!

»Also ich finde, wir sollten zusammenhalten und beide zuerst in der Wüste suchen, dann hätten wir das Unangenehmste hinter uns. Was hältst du davon?«

Sophie hatte Anja gedanklich nachgeäfft und erschrak, als die Rede an sie gerichtet wurde. Am liebsten würde Sophie nun sagen, dass sie diesen Vorschlag schlecht fände und dass Anja nicht immer meinen müsse, dass sie die besseren Ideen als sie habe.

Anja fragte: »Und was hältst du nun von diesem Vorschlag?«

»Was?« Sophie hatte nicht aufgepasst.

»Was hältst du von dieser Idee?« fragte Anja wieder, diesmal um einiges lauter als vorher und mit leicht genervtem Unterton. Weil Sophie keinen Streit wollte, willigte sie ein: »Istƒ Ist schon o.kƒ Gehen wir zuerst in die Wüste«, stotterte Sophie verlegen.

»Na also.« Anjas Stimme klang zufrieden.

Sie hatten eine lange Fahrt mit dem Jeep hinter sich, als sie dann in der Wüste umherzogen, um nach dem Grab zu suchen.

»Ach, ist das heiss hier. Und zu allem Überfluss ist mein Rucksack schwer!« Sophie verschmachtete fast und würgte diese Worte nur so heraus.

»Meinst du, mir ist etwa nicht heiss?« sagte Anja hochnäsig. »Und ausserdem,« Anja beugte sich suchend über die Karte, »Ausserdem ist diese Höhle da vorne die, die wir gesucht haben.«

»Na endlich«, stöhnte Sophie. Ihr war vor lauter Hitze gar nicht aufgefallen, dass sie in eine hügelige Landschaft gekommen waren.

In der Höhle erwartete sie Wunderbares. Eine ganze Grotte voll mit alten Schätzen, altem Schmuck, unheimlichen Fratzen und Statuen aus Holz und natürlich dem in der Ecke versteckten Sarkophag. Die Schätze und der Schmuck bestanden hauptsächlich aus matt schimmernden Perlen und Glasscherben, auf denen sich schon viel Staub abgelagert hatte. Die Farben auf den Statuen waren schon abgeblättert, das Holz alt.

Sophie und Anja blieben entzückt in der Höhle stehen. Aus manchen grossen Truhen schimmerte ein bisschen Gold heraus. Die Sachen waren sicher schon tausend Jahre alt und sehr viel wert.

»Jetzt geben wir unserem Chef und ein paar Experten Bescheid. Sie sollen das Grab und das, was dazugehört, bergen«, meinte Sophie und in ihren Augen sah man ein freudiges Glitzern, denn nun hatte sie einmal eine gute Idee, an der es nichts zu rütteln gab!

Anja schaute fast enttäuscht drein. Doch sie bog die Sache wieder für sich hin, indem sie sagte: »Das wollte ich auch gerade vorschlagen.«

Sophie schüttelte genervt den Kopf und seufzte: »Suchen wir das Buch.«

Nach einer langen Reise kamen sie an. Auch dieses Mal war der gesuchte Gegenstand in einer Höhle versteckt. Das dicke, halb verfallene Buch wurde vor langer Zeit auf einen Stein gelegt. Vorsichtig klappte Anja das Buch auf. Ein gefalteter Zettel lag darin. Das Papier sah nicht so alt aus wie das Buch selbst. Anja faltete den Zettel auseinander und las ihn laut vor.

»Die Azteken haben ihre Mitmenschen in Höhlen begraben. Auch ihre irdischen Schätze haben sie mitgebracht und sie mit dem Sarkophag in der Höhle beerdigt. In diesem Buch steht praktisch das ganze Leben und die Religion der Azteken geschrieben. Doch nun zum Auftrag, den ich dem Finder anvertrauen will: finde nun, da das Buch entdeckt ist, den Geheimgang in dieser Höhle. Man gelangt dann in einen Nebenraum, in dem ein Rätsel gelöst werden muss, sonst kommt man hier nie mehr heraus.«

Sophie sagte: »Was soll denn das bedeuten? Wir kommen hier doch noch fort, wir müssen nur umkehren und das Buch mitnehmen.«

»Genau, machen wir«, Anja war einverstanden. Sophie nahm das Buch sorgfältig in die Hand, und dann ging alles schnell: Da unter dem Buch ein Knopf war, der sich nun gelöst hatte, wurde der Eingang zur Höhle von herabstürzenden Steinbrocken versperrt. Panisch drehten die Zwei sich im Kreis, um eine Fluchtmöglichkeit zu finden.

Da erblickten sie eine Öffnung in der Mauer. Der Gang war schmal, sah verwittert aus und Steine ragten hervor. Anja ging zuerst in den Geheimgang. Kurz darauf hörte Sophie einen gellenden Schrei von nebenan. Sophie rannte herbei und auch ihr entfuhr ein Schrei. In dieser Höhle lag nämlich ein Skelett.

»Ob das wohl dieser Georg Dawn ist?« fragt Sophie ängstlich.

»Anscheinend ist er durch einen anderen Eingang gekommen und dieser Knopf, der schuld ist, dass wir hier eingesperrt sind, schloss noch einen anderen Eingang«, erklärte Sophie.

»Ich habe ihn sogar gesehen«, erinnerte sich Anja. »Beim Geheimgang habe ich durch ein Loch in der Mauer einen anderen Gang gesehen, der dann irgendwo hier hinten wieder in diesen Raum führen muss.«

»Folglich gibt es zu der Haupthöhle zwei Eingänge, und wir sind durch den offenen gegangen«, kombinierte Sophie dazu. Jetzt staunte Anja, wie klug Sophie eigentlich sein konnte. »Meine Frage ist jetzt nur, wie wir hier wieder rauskommen«, sagte Anja grimmig.

»Auf dem Zettel, den wir im Buch gefunden haben, steht etwas von einem Rätsel, das wir lösen müssen«, überlegte Sophie.

Da entdeckte Sophie mehrere Schalter, die aussahen wie Obstsorten und fragte sich, was die wohl zu bedeuten hatten.

Anja entdeckte das Rätsel. Es war in die Wand eingeritzt. Sie deutete mit dem Finger darauf, sodass Sophie es auch sah. Das Rätsel lautete: »Was ist zuerst weiß wie Schnee, dann grün wie Klee und dann rot wie Blut, zum Essen ist es gut.«

Sie überlegten eine Weile, und dann sagte Anja: »Ich weiß es – eine Kirsche!« Bei den Obstschaltern war neben anderen Sorten auch eine Kirsche dabei. So drückte Anja auf die Kirsche und eine Türe ging auf.

Sie kamen in einen Raum. Er war an allen Wänden und in allen möglichen Winkeln mit Spiegeln bestückt. Vor einem der Spiegel erblickten die Mädchen eine Fackel.

»Ich glaube, mir müssen die Fackel anzünden, damit wir Licht bekommen«, sagte Sophie ganz aufgeregt. Als sie die Fackel anzündet hatte, reflektierte der Spiegel das Licht auf die anderen Spiegel und so wurde der Raum hell.

Jetzt sahen sie einen Altar mit noch mehr Schätzen darauf. Grosse Diamanten, die im Licht glitzerten. Anjas und Sophies Münder blieben offen stehen.

Schliesslich, am Ende des Ganges, sahen sie hocherfreut den rettenden Ausgang. Anja steckte den Schatz in ihre Tasche und Sophie trug das Buch, das ihnen so viel Ärger gemacht hatte. Sie rannten erleichtert los. Und den Titel »Miss Superschlau« konnte Anja nach diesem Abenteuer sowieso vergessen!