Petra Erdely (11)

Die Herrengasse

Gemütlich schlenderte ich eine lange Einkaufsstraße mitten in Graz entlang. Ich war schon oft hier gewesen. Diesmal war es genauso wie die anderen Male. Langweilig, einfach langweilig. In einigen Schaufenstern befand sich jetzt sogar noch der Weihnachtsschmuck. Und das kurz vor Ostern! Das einzig Neue hier waren die Bilder auf den Straßenbahnen. Sie waren bunt, und mit ein wenig Phantasie konnte man ein kleines grün-blaues Tier darauf erkennen.

Plötzlich wanderte mein Blick zu einem grünen Schild, das neben einer getönten Schiebetüre angebracht worden war. »Herrengasse 31« stand darauf. Eigentlich war diese Entdeckung keine der besonderen Art. Jedes Haus hatte schließlich eine Hausnummer. Doch irgendetwas faszinierte mich an diesem Schild. Herrengasse …

Vor vielen Jahrhunderten hatte die Herrengasse zwar denselben Namen, doch gab es da einen Unterschied. In dieser Gasse durften nur Herren wohnen. An dieser Stelle möchte ich bitten, mich nicht falsch zu verstehen. Damals wurden nur Adelige und Politiker als Herren bezeichnet. Die restliche Bevölkerung nannte man schlicht »der Rest«. So, da nun alle Unklarheiten (falls überhaupt welche vorhanden waren) beseitigt sind, kann die Handlung ja ihren Lauf nehmen.

Der Sommer des Jahres 1313 war ein sehr warmer und gleichsam ein sehr regnerischer. Für die damaligen Eisverkäufer war diese Zeit einfach unvergesslich, denn absolut jeder, der bei einem ihrer Eisgeschäfte vorbeikam, kaufte sich eine Tüte mit mindestens drei Kugeln Eis.

Diese Absicht hatte auch ein kleiner Aristokratenjunge namens Max. Er wollte sich bei einem Eisladen in der Herrengasse ein Erdbeer-, Ananas- und Joghurteis kaufen und dann zum Hauptplatz hinüber spazieren. Gedacht, getan, wie es so schön heißt. Oder sagt man das anders? Na, auf jeden Fall begab Max sich aus der elterlichen Wohnung hinunter auf die Straße und reihte sich in der langen Warteschlange vor der Konditorei ein. Nach einer dreiviertel Stunde (die Dame vor ihm hatte sich einfach nicht entscheiden können) hielt er sein Eis in den Händen und machte sich auf den Weg zum Hauptplatz.

Die Sonne stach herab; es war fast unerträglich heiß geworden. Das bemerkte der Bürgermeister Gustav Hammerhunger, der ratlos und erschöpft vor dem Rathaus stand, gerade in dem Moment, als Max um die Ecke bog. Er sah den Jungen, und er sah das Eis. Kurz entschlossen rannte er auf das Kind zu, nahm ihm sein Erdbeer-, Ananas- und Joghurteis aus der Hand und flüchtete schnell in das Rathaus, in dem leider die Klimaanlage ausgefallen war.

Max war so verdutzt, dass er vergaß, dem anscheinend hungrigen Bürgermeister nachzulaufen, geschweige denn, um Hilfe zu rufen. Stattdessen zuckte er nur mit den Schultern und ging zurück zum Eisladen, um sich erneut in die lange Warteschlange einzureihen.

Gustav Hammerhunger leckte genüsslich an dem Eis, während er, als wäre überhaupt nichts vorgefallen, die Steintreppe zu seinem Büro hoch schritt.

Der Diebstahl wäre einfach perfekt gelungen, wäre dem Bürgermeister da nicht der Vater von Max, der auf der Suche nach Herrn Hammerhunger war, begegnet.

»Tag, Herr Bürgermeister. Endlich habe ich Sie gefunden. Ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Ah! Wie ich sehe haben Sie ein Eis. Leider muss ich Sie dazu auffordern, entweder das Eis draußen zu essen, oder es wegzuwerfen. Eis jeglicher Art ist nämlich hier im Rathaus seit dem Jahre 1276 verboten.«

Der Bürgermeister verzog sein Gesicht. Nein, daran hatte er nicht gedacht.

»Natürlich, Herr Doktor Sägedurst. Da sieht man wieder, dass Sie sich in Rechtsangelegenheiten auskennen. Haben Sie neulich das Gesetzbuch gelesen?« antwortete Gustav halb verärgert, halb scherzend.

»Nein. Ich bin Jurist«, meinte der Doktor trocken.

Das Gespräch hatte ja sehr gut begonnen. Da der Bürgermeister aber keine Strafe zahlen wollte, warf er das gestohlene Eis schnell in den nächsten Mülleimer.

»Hoppla! Können Sie nicht aufpassen, wo Sie hintreten?« rief ich erzürnt. Während ich so dastand und das Schild betrachtete, hatte mich ein Fußgänger angerempelt und aus den Gedanken gerissen. Na ja, eigentlich war meine Geschichte fast fertig. Ich machte es mir auf einer Gartenbank in der Nähe des »Tatortes« bequem und schrieb die Geschichte nieder.