Theodora Bauer (13)

Die Statue

»So, das Kunsthaus ist jetzt fertig; wir brauchen nur mehr Ausstellungsstücke. Diese Statue kommt mir gerade recht«, sagte der Bürgermeister der Stadt Graz zu seinen Gemeinderäten. Die transsilvanische Statue, die einen schlafenden Vampir darstellen sollte, war nämlich geschenkt worden. Eine alte Witwe übergab die Statue der Stadt, weil sie ihr laut eigener Aussage »nicht gerade Glück gebracht hatte«, sondern ihren Mann umgebracht hatte. Doch das war dem Bürgermeister egal. Er musste das Kunsthaus ausfüllen und zwar schnell.

Auch Manfred Berger, jetzt Portier Berger, freute sich über seinen neuen Job im Kunsthaus. Er war ein sehr gewissenhafter Mann und würde, wie er versicherte, seine neue Arbeit sehr gut verrichten.

So kam auch Portier Bergers erste Nachtwache. Er schritt, mit einer Taschenlampe ausgerüstet, durch die Räume. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Als er in das Zimmer, wo die transsilvanische Statue stand, kam, wurde er fast ohnmächtig: Sie war weg!

Er rannte, so schnell er konnte, die Stufen hinunter und rief die Polizei. Als sie kam, war die Sonne schon aufgegangen. »Kommen Sie!« sagte Herr Berger zu dem Polizisten, »nur hier herein und …«

Er stutzte. Die Statue stand wieder da, als ob sie nie weggewesen wäre. Der Polizist sagte aufgebracht: »Sagen Sie, wollen Sie mich veräppeln? Sie wollen mir doch nicht erzählen, die Statue hätte in der Nacht einfach die Flügel ausgebreitet und wäre weggeflogen?«

»Aber … a …«

»Und eins sag ich Ihnen: Machen Sie das ja nie wieder mit mir!« Kopfschüttelnd ging der Polizist die Stiegen hinunter. Portier Berger sah zur Statue und ihm war, als sähe er ein hämisches Grinsen.

Die nächsten »nächtlichen Ausflüge« der Statue verschwieg Portier Berger der Polizei. Doch nach ein paar Tagen konnte er nicht mehr. Beim Abendessen platzte alles aus ihm heraus: »Es … es ist so furchtbar, Marie.«

Seine Frau fragte besorgt, während sie das Essen auftischte: »Was denn, Manfred?«

»Du magst mich jetzt vielleicht für verrückt halten, aber du weißt doch über diese neue transsilvanische Statue Bescheid.« Er erzählte Frau und Tochter seine Geschichte. Sie musterten ihn misstrauisch. »Aber Papa, wie kann denn das sein?«

»Wenn ich das wüsste«, antwortete Vater Berger fast verzweifelt. »Ihr glaubt mir doch auch nicht.« Er wollte zur Tür hinaus, doch seine Tochter Natalie hielt ihn auf. Sie sah ihm eindringlich in die Augen und sagte: »Doch, wir glauben dir.«

Natalie konnte diesen Abend lange nicht einschlafen. Sie überlegte, ob die mysteriöse Mordserie, von der heute und gestern in der Zeitung geschrieben stand, etwas mit der Statue zu tun hatte. Alle Opfer, bis jetzt sieben, hatten zwei kleine Stichwunden am Hals und einen mächtigen Blutverlust. Noch dazu verschwanden sie allesamt aus den Leichenhallen. Es wies alles auf Vampire hin. Offiziell gab es zwar keine, doch die Statue stellt immerhin einen Vampir da und der verschwand jede Nacht. Natalie wurde es eiskalt unter ihrer warmen Decke, und sie beschloss, die Sache schnellstmöglich zu klären.

Nächste Nacht um zehn Uhr abends zog sie ihren Pyjama wieder aus, stieg in eine schwarze Hose und schlüpfte in ihre schwarze Jacke. Sie nahm einen dicken, spitzen Holzpflock und machte sich auf den Weg zum neuen Kunsthaus.

Natalie wartete, bis ihr Vater, der in seinem Portierzimmer saß, noch vor Mitternacht seinen ersten Rundgang machte. Bald war es soweit: sie sah ihren Vater und den Lichtkegel seiner Taschenlampe um die nächste Ecke verschwinden. Nun war Natalies Zeit gekommen. Sie nahm die Schlüssel, die sie ihrem Vater schon am frühen Nachmittag entwendet hatte. Das Mädchen kämpfte sich durch das Dunkel zum Stiegenaufgang und schlich hinauf. Es

war schon halb 12; die Anreise hatte etwas länger gedauert als geplant. Natalie stellte sich neben die Tür zum »Vampirzimmer« und lugte hinein. Nichts tat sich. Sie wollte noch bis Mitternacht warten, und wenn dann nichts passierte, würde sie wieder gehen.

Schließlich war es so weit: Mitternacht. Natalie schaute wieder zur Tür hinein, und was sie sah, ließ sie erstarren: In die sonst so grau und leblos wirkende Statue fuhr plötzlich Leben. Sie, nun ein Vampir, hob ihren Kopf und stieß einen furchtbaren, gurgelnden Laut aus. Vor Schreck ließ Natalie die Schlüssel fallen.

Der Vampir erstarrte. Er drehte sich um und legte ein grässlich gemeines Grinsen auf. Man hörte den Durst förmlich aus seinen blutroten Augen sprechen. Er ging auf Natalie zu. Sie zwang sich, stehen zu bleiben. Das war doch, was sie wollte! Natalie umklammerte den Pflock in ihrer Hand. Sie würde ihn töten, diesen Untoten!

Da stürzte sich der Vampir auf sie. Natalie wollte ihm den Pflock ins Herz jagen, doch der Vampir war schneller. Er versenkte seine Zähne in ihrem Hals. Natalie schrie auf. Doch sie konnte ihn wegstoßen und rammte ihm den Pflock ins Herz. Der Vampir löste sich in Nichts auf.

Natalie hörte ihren Vater die Stiegen heraufkommen. »Hallo, wer ist da?« fragte er ins Dunkel. Dann sah er eine Gestalt, die ihm bekannt vorkam.

»Natalie, was machst du denn hier!?!«

»Ich … äh … wollte den Vam … ähm … die Vampirstatue observieren!«

»Waaas hast du gemacht?«

»Eigentlich nichts, die Statue war schon weg, als ich kam!«

»Das machst du nie wieder, mein Kind!«

Natalie grinste nur. Gut, dass ihr Vater ihre spitzen Eckzähne nicht sehen konnte.