Gunnar Zlöbl (10)

Der liebe gute Wolf

Ein Vater hatte drei Söhne, die eines Abends nicht schlafen gehen wollten. »Papa, wir sind noch gar nicht müde!« riefen sie wie aus einem Munde.

Papa ließ sich überreden: »Soll ich euch noch eine Geschichte aus dem Bücherregal vorlesen? Was haben wir denn hier: Rotkäppchen und der böse Wolf, Die sieben Geißlein und der böse Wolf, Peter und der Wolf… Findet ihr nicht, dass das ein bisschen komisch ist? In allen Geschichten hört man nur: Der böse, böse Wolf! Ist dieser schöne und scheue Waldbewohner wirklich so schrecklich? Ich werde euch nun eine andere Geschichte über ihn erzählen.«

Neugierig spitzen die Kinder ihre Ohren, als der Vater nach einer kurzen Nachdenkpause begann:

Rotschöpfchen und der liebe gute Wolf

Es war einmal – so fangen wohl alle Märchen an – ein kleiner Junge, der hatte leuchtend rote Haare, die ihm kerzengerade zu Berge standen, deshalb nannte ihn jeder Rotschöpfchen. Im Winter fuhr er oft mit seinen Langlaufschiern in den nahegelegenen Wald, um fit zu bleiben.

Doch eines Tages war es schon ein bisschen spät, ehe er aufbrach, und so dämmerte es bereits, als er in den dichten Nadelwald hineinfuhr. Schnell wurde es stockfinster, dass er seine Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Zuerst suchte er verzweifelt seine Spur zurück, aber er musste schließlich aufgeben. Er dachte: »Nein, so schnell gebe ich nicht auf! Ich muss warten, bis der Mond aufgeht und es etwas heller wird! Inzwischen baue ich mir ein Schneeloch.«

Rotschöpfchen grub einen kleinen Tunnel in den tiefen Schnee, und kam dabei tüchtig zum Schwitzen. Trotzdem wollte er sich noch ein Feuer machen, um die Nacht zu überstehen. Als er sich nach Brennholz umschaute, sah er einen ziemlich buschigen Ast, der hinter einem Baum hervorragte. »Ah, der wäre gut zum Verbrennen!« freute sich Rotschöpfchen und ging auf ihn zu.

Auf einmal bewegte sich der Ast, und noch ehe er danach greifen konnte, bemerkte er, dass dieses struppige Ding der Schwanz eines Wolfes war.

Doch Rotschöpfchen hatte keine Angst vor ihm und fragte: »Hast du vielleicht Hunger?«

Der Wolf nickte knurrend, und der Junge holte aus seinem Rucksack sein Jausenbrot hervor, das sich die beiden brüderlich teilten. Der liebe gute Wolf schmatzte zwischen zwei großen Bissen: »Wie kommst du eigentlich mitten in der Nacht hierher?«

Rotschöpfchen erzählte ihm, was geschehen war. Da meinte der Wolf: »Ich kenne den Weg ins Tal!«

»Aber ich kann ja kaum noch gehen, denn meine Füße sind schon blaugefroren!« jammerte der Junge.

Da machte ihm der liebe gute Wolf einen Vorschlag: »Ich laufe voran, und du hältst dich an meinem buschigen Schwanz fest!«

Gesagt, getan. Rotschöpfchen schnallte wieder seine Schier an und griff in das dicke graue Fell des Wolfes. Der trabte los, und blitzschnell sauste der Junge hinter dem Wolf her ins Tal. Es ging sogar so schnell, dass er ein paar Mal das Gleichgewicht verlor und in den Schnee purzelte. Aber der liebe gute Wolf leckte ihm das nasse Gesicht wieder sauber, und weiter ging es in einem Höllentempo, dass der Schnee hinter ihnen nur so staubte!

Am Waldrand angekommen, musste sich der Wolf leider von seinem Freund verabschieden, weil alle Menschen aus unerfindlichen Gründen vor ihm Angst hatten. Rotschöpfchen konnte nun ganz gut alleine den Weg zurück finden und war ziemlich glücklich, dass er diese Nacht doch noch in seinem Bett schlafen konnte.

Der liebe gute Wolf und der rothaarige Junge blieben aber bis an ihr Lebensende Freunde und unternahmen noch viele gemeinsame Schitouren.

So endete Papas Geschichte. Die drei Kinder waren ganz still geworden, und noch im Einschlafen dachten sie: »Eigentlich hat Papa recht! Warum muss der Wolf immer ein Bösewicht sein? Vielleicht sollten wir uns öfter Geschichten über den lieben guten Wolf erzählen!«