Barbara Waringer (12)

Matildas Zauberblume

Matilda lebte mit ihren Eltern in einem großen Haus, fast eine Villa, mit vielen Räumen und einem großen Garten rundherum. Aber es stand ganz abgelegen, die nächste Stadt war sehr weit entfernt, und auch sonst lebte niemand in der Nähe. Matilda war meist sehr einsam und da ihre Eltern zum Arbeiten in die Stadt fuhren und erst am Abend heimkamen, war sie den ganzen Tag alleine. Meist ging sie dann in den Garten, wo sie nachdachte und vor sich hin träumte. Sie hätte sehr gerne ein anderes Kind in der Nähe gehabt.

Eines Tages passierte jedoch etwas Seltsames. Matilda saß wieder einmal auf ihrem Lieblingsplatz, der großen Astgabel einer alten Eiche, die im Garten stand, als sie eine Stimme hörte: »Hallo, ist da jemand?« Schnell sprang Matilda vom Baum und lief zum Zaun. Zuerst konnte sie nichts entdecken, aber dann sah sie eine dunkel vermummte Gestalt auf einem Esel.

»Könntest du mir bitte etwas zu trinken geben? Ich bin so durstig. Du wirst dafür reich belohnt!«

Matilda war zwar sehr verwundert, aber sie ging und holte ein Getränk für den Unbekannten.

»Ich danke dir, Mädchen. Nun will ich Wort halten und dich reich belohnen.« Die Person öffnete einen ledernen Beutel, welchen sie um den Hals hängen hatte und holte eine blau bis grünlich schimmernde Bohne mit weißem Muster heraus.

»Bitte sehr. Stecke sie in die weiche Erde hier im Garten, gieße sie täglich, und du wirst es nicht bereuen.« Dann ritt der vermummte Unbekannte weiter. Matilda sah ihm noch lange nach. Sie sah die geheimnisvolle Person nie wieder.

Die Bohne in ihrer Hand schimmerte jetzt orange-türkis. »Was da wohl daraus wird?«, dachte Matilda . »Vielleicht eine ganz normale Bohnenpflanze. Vielleicht sollte ich sie gar nicht einsetzen, sondern aufheben.« Die Bohne nahm eine knallrote Warnfarbe an. Das weiße Muster sah aus wie ein drohendes Gesicht.

»Oh, diese merkwürdige Frucht kann wohl Gedanken lesen? Ich glaube, ich setze sie lieber ein.« Jetzt sah die Bohne wieder blau und friedlich aus. Matilde suchte sofort einen schönen Platz für die werdende Pflanze, und diese teilte ihr durch ihre Farbe mit, ob sie mit ihrem zukünftigen Standplatz zufrieden war. Die Wahl fiel auf eine geschützte Stelle im Halbschatten.

Als Matilda den Samen in die Erde steckte, gab es ein zischendes Geräusch. Sie holte die Gießkanne und goss den gesamten Inhalt auf die Stelle, wo sie die Bohne versenkt hatte. Sofort wuchs ein fester grüner Trieb, höher und höher, bis er fast so groß wie Matilda war.

Am nächsten Tag sah sie, dass die Pflanze eine große Knospe hatte. Und am übernächsten Tag sprang sie mit einem lauten Knall auf. Es war die schönste Blüte, die Matilda je in ihrem Leben gesehen hatte. Sie schimmerte in allen Farben des Regenbogens und hatte ein feines Muster. Sie verströmte einen Duft, der tausend Schmetterlinge anlockte. Immer, wenn Matilda sich traurig oder einsam fühlte, sah sie zur Blume. Sie beobachtete die Schmetterlinge, wie sie sorglos herumgaukelten und schon war sie wieder froh.

Die Zauberblume blühte den ganzen Sommer lang. Jeden Tag begoss Matilda sie mit einer Gießkanne voll Wasser. Die Farbe der Blüte veränderte sich mit Matildas Stimmung. Eines Tages im Herbst bekam Matilda einen heftigen Schreck. Die Blüte lag abgebrochen neben dem dicken Stängel der Pflanze. Als sie sie aufhob, merkte sie, dass die Blüte nicht mehr weich war, sondern hart wie Stein. Sie schillerte noch immer so schön und als Matilda traurig wurde, da ihre Pflanze nun wohl in Winterschlaf gehen würde, veränderte die steinerne Blüte die Farbe.

Es war, als ob jemand »Sei nicht traurig« gesagt hatte. Matilda wurde sofort wieder fröhlicher. Da entdeckte sie genau an der Stelle, wo vorher die Blüte gesessen hatte, eine kokosnussgroße, braune Frucht. Vorsichtig pflückte Matilda sie und öffnete sie. Da sah sie, dass die Frucht zweigeteilt war. In der einen Hälfte waren lauter Bohnen, in der anderen Hälfte aber lag ein kleines Püppchen, nicht größer als ein Fingernagel. Und mit einem Mal begann es zu wachsen und zu wachsen, bis es Matilda bis zum Knie ging. Und noch größer wurde es, bis es genauso groß war wie sie.

»Hallo, ich bin Marcella!« sagte das Mädchen. »Ich bin in der Frucht der Blume gewachsen. Du solltest allen Leuten, die traurig sind, eine Bohne schenken. Schließlich wirst du irgendwann aus diesem Garten herauskommen. In der zweiten Hälfte der Frucht finden sie das, was sie sich am meisten wünschen. Du hast dir Gesellschaft gewünscht, hier bin ich! Und noch etwas, deine Wunderblume wird mit der Zeit zu einem Baum heranwachsen. Allerdings wird sie immer nur eine Blüte haben. Dafür wächst sie genauso, wie ein Baum sein muss.Knorrig, mit Höhlen und starken Ästen. Gut zum Klettern. Ich freue mich schon!«

Mit Marcella als Freundin war Matilda nie mehr alleine. Die versteinerte Blüte aber trug sie immer um ihren Hals. Durch ihre Farbe warnte sie sie immer vor Gefahr. Und je mehr Zauberblumen wir in den Herzen anderer anbauen, desto weniger traurige Menschen wird es geben.