Pauline Vörös (13)

Felicitas

Regen prasselte auf die dunklen Dächer der Kaskadenallee. Ein verzweifeltes Seufzen war aus einem der vielen Zimmer des Krankenhauses zu hören.

»Ich will nicht hier hin, nein, nein, nein!« schrie ein Mädchen aufgebracht.

»Aber Kind, so kann das doch nicht mit dir weitergehen«, sagte eine Frau mit tränenverschmierten Gesicht.

»Ich bin nicht krank! Felicitas gibt es wirklich, so glaubt mir doch endlich!« sagte das Kind, nun auch weinend. Eigentlich war das Mädchen sehr hübsch. Dunkle braune Haare und strahlend blaue Augen.

»Frau Sommer, könnte ich bitte allein mit Ihnen sprechen?« fragte der Arzt, sichtlich genervt, und nippte nervös an einem Glas Wasser, das auf dem Tisch stand. Der Vater, der bis jetzt teilnahmslos zugehört hatte, sprang plötzlich wutentbrannt auf.

»Gertraude, jetzt reicht es mir, wie lange schon sehe ich mir das an? Ich habe dir immer gesagt, ich will kein Kind, und du hast mich belogen und nun, jetzt haben wir dieses Ding, das nur noch in die Klapse gehört. Ohne mich, Schätzchen. Mir reichts.« Grummelnd stürmte er aus dem Zimmer und schlug knallend die Tür zu.

Die Mutter schlug verzweifelt die Hände vor die Stirn und murmelte, von markerschütternden Schluchzern unterbrochen: »Auch das noch. Nein, das glaube ich einfach nicht.« Sie griff den Arzt am Arm: »Sie müssen mir helfen, Doktor.«

»Bitte beruhigen Sie sich. Aber Sie sind hier wegen Ihrer Tochter. Bitte lassen Sie uns anfangen.« Er löste ihren Klammergriff von seinem Arm und bat sie zum wiederholten Male, sich mit ihm ins Nebenzimmer zu begeben.

Immer noch schluchzend folgte sie ihm. Mit einem Klicken ging die Tür zu.

»Und was ist mit mir?« fragte das Mädchen. »Was meinst du, Felicitas?«

»Ich finde, wir sollten warten, bis sie wieder da sind. Lass uns doch einmal hier herumstöbern!« sagte plötzlich eine helle Mädchenstimme und trat aus der Ecke in das Licht der niedrigen Lampe, die nur einen Teil des Zimmers erhellte. Sie war blond und hatte stahlgraue, eiskalte Augen. Sie trug ein weißes Kleid und tapste fast lautlos zu dem Schreibtisch, an dem zuvor der Arzt gesessen hatte, und zog eine Schublade heraus. Der ganze Inhalt verteilte sich über dem glatten Parkettboden. Mit einer ungeschickten Handbewegung stieß sie das Glas voll Wasser um, und das Wasser ergoss sich über den Inhalt der Schublade.

»Ich weiß nicht, da wird der Arzt aber ganz böse werden, wenn er das sieht, glaube ich. Ich räum’ es lieber wieder ein.« Damit stand die Tochter Frau Sommers auf und beugte sich über das Malheur.

»Warte, ich mach’ es wieder ganz«, sagte Felicitas und lachte herzlich. Sie schwang die Hände gen Himmel und murmelte etwas Seltsames. Und plötzlich stand das Glas voll Wasser wieder heil auf dem Tisch. Das blonde Mädchen grinste breit.

»Klasse, ich wünschte…« Doch weiter kam sie nicht. Die Tür öffnete sich, und herein kam der Arzt. Er sah die Schublade und wandte sich zu der Mutter um.

»Das war ich nicht, das war Felicitas. Und siehst du, sie hat das Glas wieder ganz gezaubert!« Und das Mädchen deutete auf den Tisch, »Das hast du toll gemacht, Feli«, und griff mit der Hand in die Luft, als wollte sie jemanden an die Hand nehmen.

»Nein, nicht schon wieder, Hannah!« schrie die Mutter entsetzt.

»Hannah, wo genau befindet sich das Glas auf dem Tisch?« fragte der Arzt und beugte sich über den Tisch.

»Da«, sagte sie und merkte, dass das Glas auf dem Tisch verschwunden war. »Es ist weg. Felicitas hat es wieder weggezaubert. Feli, das war nicht nett, jetzt hat der arme Doktor kein Glas mehr.« Und sie sah mahnend nach links.

»Hannah, mit wem redest du?« fragte die Mutter mit verschlucker Stimme.

»Na, mit Felicitas!« sagte Hannah und sah sie fragend an.

»Gut, Herr Doktor, ich stimme Ihnen zu«, sagte die Mutter traurig.

»Gut«, sagte der Arzt sichtlich erleichtert. »Am Besten, Sie legen sich in unser Besucherzimmer, ich lasse Ihnen einen Kakao bringen. Das war heute alles zu viel für Sie. Keine Angst, Ihre Tochter ist bei uns gut aufgehoben, Frau Sommer«, sagte der Arzt und fing an, seine Sachen wieder zurück in die Schublade zu tun. Er sammelte die Scherben ein und warf sie seufzend in den Papierkorb.

Ein paar Frauen in grünen Kitteln betraten den Raum und brachten Hannah in ein Zimmer, das nicht weit vom Büro des Doktors entfernt lag.

Hannah lag auf dem Bett ihres Zimmers und hatte kaum Zeit, sich alles anzusehen, als auch schon die Zimmertür aufging. Frau Sommer betrat das Zimmer, sie sah bleich aus und wirkte nervös. Hannah sah einen Muskel auf ihrer Wange zucken. Es hatte aufgehört zu regnen, und das fahle Mondlicht fiel auf die dunklen Haare der Mutter.

»Was ist mit Papa?« durchbrach Hannah die Stille.

»Ich… er… ich konnte ihn nicht erreichen… er… er… ist nicht zuhause… vielleicht… ist er zu seinen Eltern gefahren… Seine Sachen… er … er hat sie mitgenommen«, stammelte die Mutter und brach wieder in Tränen aus.

»Mama, was ist los, warum bin ich nun hier, ich meine, Felicitas findet auch, dass ich hier ohne Grund bin«, sagte Hannah und zog die Augenbrauen hoch.

»Bitte hör endlich damit auf! Du bildest dir das alles nur ein, es ist… du hast Schizophrenie, klar?« rief sie wild mit den Armen fuchtelnd. »Dein Vater hat uns verlassen, alles wegen deiner Einbildung! ES GIBT KEINE FELICITAS!« schrie sie.

»‘Tschuldige«, sagte sie ganz leise mit tränenverschluckter Stimme und verließ ohne ein Wort das Zimmer.

Hannah saß da, als wäre eine Flutwelle über sie hinweggegangen. Eine Schranktür ging auf, und heraus kam das blonde Mädchen mit dem weißen Kleid und setzte sich an das Fußende von Hannahs Bett.

»Geh weg«, sagte Hannah mit ruhiger Stimme.

Felicitas rührte sich nicht.

»Geh endlich weg! Dich gibt es nicht! Du hast es doch gehört!« schrie sie plötzlich laut.

»Mich gibt es nicht?« fragte Felicitas aufgebracht. »Ja? Warum siehst du mich dann?«

»Ich… ich… bin krank, krank im Kopf. Ich denke nur, dass es dich gibt, weißt du, ich bilde mir das ein, klar?« sagte Hannah, den Tränen nahe.

»Wie kannst du das behaupten?« zischte sie wütend, und ihre Augen schienen aufzuglühen. »Ich war doch immer deine Freundin – hab ich dir nicht immer geholfen, wenn irgendwas war? Ich war doch immer für dich da.« Und sie sah Hannah aus ihren kalten Augen an.

»Tut mir leid. Lass uns zu Mami gehen, und dann zeigen wir ihr, dass es dich gibt, ja?« sagte Hannah und hatte einen Einfall. Sie sah zur Tür und verwarf den Gedanken.

»Nehmen wir das Fenster«, sagte Felicitas.

Sie kletterten aus dem Fenster und ließen sich an dem Seil aus zusammengeknoteten Betttüchern hinunter. Hannah rannte, ohne auf Felicitas zu warten, zum Haus, das ganz in der Nähe des Krankenhauses stand. Die Tür war abgeschlossen, doch das hielt sie nicht auf. Sie kletterte die Efeuranken hinauf und klopfte an die Terrassentür.

»Mama!« rief sie, so laut sie nur konnte.

»Hannah?« fragte die Mutter verschlafen, als sie die Vorhänge zurückzog. Sie öffnete die Glastür und sah ihre Tochter an. »Was machst du hier?«

»Mami, ich wollte dir was sagen.« Sie sah in Richtung Felicitas, die neben ihr stand.

»Mama, wir schaffen das, ohne Papa«, und mit einem Seufzer fügte sie hinzu: »und ohne Felicitas.«