Christina Sperl (10)

Fast Frei

Am 4.9.1999 veränderte sich mein Leben, denn mein Vater wurde wegen eines Putschversuches verhaftet und von Soldaten der marokkanischen Regierung erschossen. Für meine Mutter, meine Geschwister und mich bedeutete dies das Ende unseres schönen, ruhigen Lebens.

Zwei Tage nach dem Tod unseres Vaters wurden wir verhaftet und einzeln verhört. Nach den Verhören wurden wir in einem großen Transporter in die Wüste Sahara verfrachtet und dort in ein Gefängnis gesteckt. Wir mussten uns erst langsam an die Enge, den Schmutz, die Ratten, Mäuse, Schlangen und Skorpione gewöhnen. Besonders schrecklich waren die Gedanken an meinen toten Vater.

Wir bekamen immer nur wenig und mageres Essen. Unsere Mutter brachte den Kleinen das Schreiben und Rechnen bei, auch wenn es nur mit viel Anstrengung gelang. Nach einem Monat wurden wir wieder in einen kleinen Transporter gesteckt. Anschließend wurden wir stundenlang herumgefahren und hatten nicht die geringste Ahnung, wohin. Am Ziel angelangt mussten wir die traurige Tatsache hinnehmen, dass wir nicht mehr gemeinsam leben würden können. Diesmal wurden wir aufgeteilt auf verschiedene Zellen. Ich kam mit meiner Mutter und meinen kleinen Geschwistern in eine Zelle. Mein großer Bruder teilte sich die Zelle mit unseren anderen Geschwistern.

So mussten wir die nächsten Monate in großer Not verbringen. Wir kannten das Gefühl gar nicht mehr, einmal richtig satt zu sein. Dazu kamen im Laufe der Zeit verschiedene Krankheiten, die wir kaum bis gar nicht behandeln konnten. So verlor der Eine den Großteil seiner Haarpracht, während der Andere unter ständigen Zahnschmerzen litt. Der Dritte bekam seinen Hautausschlag nicht mehr weg.

So vegetierten wir dahin, völlig abgeschieden von der Wirklichkeit. Wir waren dann irgendwann gezwungen, uns unsere eigene Welt zu erschaffen. So erfand ich für meine kleinen Geschwister täglich Geschichten darüber, wie wir uns das Leben draußen vorstellten. Mit der anderen Zelle kommunizierten wir durch Klopfzeichen, die während dieser Zeit große Bedeutung für uns erlangten. So konnten wir uns wenigstens irgendwie miteinander unterhalten. Bald jedoch gab es für uns alle nur mehr einen Gedanken: Wie könnten wir es schaffen, die Freiheit wieder zu erlangen?

Diese Frage wurde das zentrale Thema unserer Unterhaltung, und so entwickelten wir gemeinsam unseren Fluchtplan. Zu jeder anderen Zeit wäre uns allen sicher diese Idee verrückt vorgekommen, doch nun blieb uns einfach kein anderer Ausweg. Es hieß entweder aufgeben oder fliehen.

Deshalb entstand der Plan, einen Tunnel zu graben, um ins Freie zu gelangen. Das dauerte natürlich Monate, da wir nur nachts arbeiten konnten und am frühen Morgen die Spuren unserer Arbeit immer beseitigen mussten. Die täglichen Kontrollen der Aufseher wurden von ihnen sehr genau genommen. Außerdem gab es Nächte, in denen wir nicht fähig waren, von unseren harten Pritschen herunter zu klettern, da wir völlig erschöpft waren. Das förderte natürlich unsere Moral nicht gerade sehr. Dennoch gelang es uns schließlich doch, unseren Tunnel zu beenden und das Sonnenlicht nach so vielen Tagen zu erblicken.

Nun gingen wir daran, unsere Flucht in allen Einzelheiten zu planen. Dabei war uns unsere Mutter von größter Hilfe. Sie war ein richtiges Genie, alle kleinen Pannen vorhersehen zu können und auf diese vorbereitet zu sein: Angefangen bei der Kleidung, die sie aus entwendeten Lumpen gezaubert hatte, bis zu allen möglichen Gegenständen, die sie im Laufe der Zeit gesammelt und für den einen oder anderen Zweck umfunktioniert hatte.

So kam der große Tag! Wir hatten uns Zeit gelassen mit unserer Planung, um nur ja nichts zu vergessen. Die Zugänge aus den Zellen zum Tunnel waren fertig, der Tunnel bis zum Ausgang beendet, alle wichtigen Dinge gepackt, auch geistig waren wir auf unsere Flucht bestens eingestellt. Wir warteten nur mehr auf das Dunkel der Nacht. Endlich war es soweit!

Alles war dunkel und absolute Ruhe herrschte im Lager. Da hörten wir in unserer Zelle das verabredete Zeichen unseres großen Bruders. Und los ging es! Unsere Zelle musste warten, bis wir durch vorher abgemachte Zeichen verständigt wurden, das von uns mühsam gegrabene Loch zu durchdringen. Wir waren mit den Gedanken bei den anderen, die gerade dabei waren durchzukriechen. Schließlich war es an uns, uns auf den Weg zu machen. Wir waren beinahe am Ende des Tunnels angelangt, als meine Mutter plötzlich Schwierigkeiten hatte weiterzukommen. Ihr Bauch war durch das lange Hungern schrecklich angeschwollen, sodass ich von vorne ziehen und meine Schwester von hinten kräftig schieben mußte. Wir hatten bange Minuten auszustehen. War die ganze Arbeit vergeblich? Mussten wir so nahe am Ziel aufgeben?

Wir waren alle in Schweiß gebadet, unsere Haut aufgerissen durch den Schotter und völlig zittrig durch die ungewohnte Anstrengung. Ein letzter Stoß meiner Schwester – ein starker Ruck von mir – und geschafft war es! Wir hatten unsere Mutter durch die enge Stelle gebracht. Darauf ging es ziemlich flott und wir wurden am Ende des Tunnels schon sehnsüchtig von meinen Geschwistern erwartet. Keiner kann dieses Gefühl jemals nachempfinden, das wir zu diesem Zeitpunkt hatten. Wir fielen einander glücklich in die Arme, bemüht, ja keinen Lärm zu machen. Es dauerte natürlich einige Zeit, bis wir uns wieder beruhigt hatten, um unsere Flucht fortzusetzen.

Unser großer Bruder führte unseren Trupp an. Keiner ließ den anderen merken, wie erschüttert er über das Aussehen des anderen war. So waren wir sicherlich eine eigenartige Gruppe, die da durch das angrenzende Feld auf allen Vieren kroch. Es dauerte Stunden, bis wir bemerkten, dass wir immer im Kreis liefen. Schließlich ließen wir unseren kleinsten Bruder die Führung Übernehmen, da er einfach nach seinem Gefühl gehen konnte. Und wirklich waren wir erfolgreich und kamen endlich an eine Straße, wo uns ein LKW mitnehmen konnte. Der Fahrer zeigte im ersten Moment Unsicherheit, ob er es wagen sollte, uns einsteigen zu lassen. Doch meine Mutter schaffte es, ihn davon zu überzeugen.

Nach einer anstrengenden und holprigen Fahrt gelangten wir endlich in Casablanca an. Unser erster Weg führte uns zur französischen Botschaft, die uns versprach, sich unseres Falles anzunehmen. Es dauerte allerdings wieder einige Wochen, bis der König bereit war, sich mit unserem Fall zu befassen. Erst nachdem die Presse eingeschaltet worden war, durften wir nach Hause zurückkehren. Man kann sich unsere Freude vorstellen, als wir unser Haus wieder betreten durften. Wir waren überglücklich und wollten auch bald wieder unser Leben in geregelte Bahnen leiten. Das wiederum erlaubte man uns jedoch nicht. Wir durften daheim wohnen, doch wir durften nirgends hin, ohne von königlichen Wachen begleitet zu werden.

So waren wir frei und doch nicht frei!