Judith Schulz (10)

Eine vollidiotisch nette Familie

Tapp, tapp, Mrs. Green und ihr Enkel Timmy stiegen die alte Wendeltreppe empor. Knarrend öffnete sich die Holztüre. Beide betraten den verstaubten Dachboden. Mrs. Green ging auf eine Eichenholztruhe zu und nahm ein Buch mit Ledereinband heraus.

»Das ist mein Tagebuch. Ich will es dir zeigen, damit du merkst, dass ich auch Probleme mit meiner Familie gehabt habe«, sagte sie und gab das Buch Timmy. Dieser schlug die erste Seite auf und begann zu lesen. Im Buch stand in altmodischer Schrift:

Hey Leute!

Ich weiß nicht, wie es euch geht mit eurer Familie. Meine jedenfalls ist der größte Horror.

Meine Mutter ist die zerstreuteste der Welt und die ängstlichste außerdem. Einfach schrecklich!

Mein Vater ist nie da, und wenn er da ist, passt ihm überhaupt nichts. Meine Haare sind zu lang und meine Noten zu schlecht.

Dann gibt es noch Julia, meine große Schwester. Sie hat jede Woche einen neuen Verehrer. Doch keiner hält es lange bei ihr aus.

Und einen kleinen Bruder habe ich auch noch. Der ist vielleicht nervend.

So, nun wäre meine Familie vorgestellt, und ich will nun von einem Tag erzählen, so wie er meistens verläuft.

Es war der erste Ferientag. Es war Früh. Tony, mein kleiner Bruder, Mama und ich saßen am Frühstückstisch. »Mama, du trinkst meinen Kakao. Das ist dein Kaffee«, sagte ich genervt.

»Ich habe mich schon gewundert, warum er so komisch schmeckt«, meinte meine Mama kopfschüttelnd und betrachtete das Stück Holzkohle in ihrer Hand. Sie hatte den Toaster etwas zu heiß gestellt.

Plötzlich stürmte Julia die Treppe herunter. »Heute kommt mein Mike«, rief meine große Schwester, mit einer Betonung auf Mike, dass ich es einfach nicht lassen konnte, mit einem Grinsen zu fragen: »Hat dein Mike lange oder kurze Ohren? Dein Letzter war ja schrecklich hässlich.« Julia sah mich giftig an und trippelte davon.

Inzwischen hatte Mama versucht, Tony zu überreden, mit ihr einkaufen zu gehen. »Komm, jetzt gehen wir zusammen einkaufen!«

»Nein, will nicht!«

»Dann gehe ich eben alleine!«

»Nein, ich will mit!«

»Dann ist ja gut.«

»Ich gehe doch nicht mit!«

Leise wollte ich mich in mein Zimmer verziehen. Doch leider lief ich meinem Vater über den Weg. Schon regte er sich über mein Gewand auf und fragte mich, ob ich im letzen Englischtest eine gute Note habe. Ich wurde rot und murmelte etwas von: Noch nicht zurück bekommen.

Am Nachmittag kam Mike, ein blonder hochgeschossener Junge mit viel Blech im Gesicht. Julia marschierte mit ihm ins Wohnzimmer, und sie machten sich gegenseitig Komplimente.

Ich lauschte an der Türe und hörte, wie Julia ihren gewohnten Spruch aufsagte: »Weißt du? Ich hatte schon viele Freunde, doch die sahen alle aus wie sprechende Clobürsten. Du bist ja ganz anders…«

Ich kannte den Spruch meiner Schwester schon. Darum schlich ich davon.

So, nun kennt ihr meine Familie. Eigentlich ist sie ja gar nicht so schlimm, oder?

Beim letzten Satz lächelte Timmy seine Oma an.