Sabine Schlöglhofer (13)

Kapitel 1

Helles Sonnenlicht blendete sie, als sie langsam die Augen öffnete. Wo war sie? Sie legte sich die Hand auf die Stirn. Ihr Kopf brummte, als würde ein Zwerg darin auf seiner Pauke schlagen und ihr schwindelte, als wäre sie mehrere Stunden ohne Pause in die gleiche Richtung Karussell gefahren. Und das in einem nicht gerade plausiblen Tempo. Als sie sich aufsetzte und schließlich aufstehen wollte, tat die Schwerkraft ihren Dienst und sie setzte sich rasch wieder hin. Noch immer konnte sie sich an nichts erinnern. Das verwirrte sie und stürzte sie in Verzweiflung. Es war so, als hätte man ihr Leben genommen und ihr nicht einmal eine Chance gegeben, es noch einmal neu zu gestalten. Eine dunkler Strom, der nach und nach ihr Inneres mit dunklen Schatten des Vergessens überzog.

Nun traute sie sich doch noch, sich aufzurichten, doch ihre Hoffnung, wenigestens einmal Glück zu haben, wurde enttäuscht. Das kleine Boot – das Wort »Nussschale« passte allerdings viel besser – schaukelte gefährlich, als sie aufstand und versuchte das Gleichgewicht zu halten.

Wo war sie? Sie fragte sich das nun stumm bereits zum zweiten Mal seit ihrem Erwachen. Wenigstens hatte sie noch einige klare Eingebungen und so konnte sie an dem unendlichen Horizont und dem meerblau schimmernden Wasser erkennen, das sie sich nicht- wie sie gehofft hatte – auf einem See befand, sondern wahrscheinlich irgendwo mitten im Meer trieb. Sie schaute sich um, ob sie irgendetwas entdecken konnte, das ihr helfen würde, diese »Nussschale« wesentlich von der Stelle zu bewegen und zwar nach ihrem Willen, nicht dem der Wellen.

Eine sanfte Brise kam auf und steigerte sich langsam zu einem Wind. Sie hatte Sorgen, dass sich dieser Wind in einen ausgewachsenen Sturm verwandeln könnte. Wenn es so käme, hätte sie kaum Chancen, diesen Naturgewalten zu entgehen und würde genau in einer Schneise stehen! Ihr Wissen war auf Null, wie sie so einen Sturm in ihrer »Nussschale« überleben könnte. Ob sie es früher einmal gewusst hatte, blieb ihren Gedanken verborgen.

Genauso wie ihr Gedächtnis überzog sich der Himmel, ohne dass sie es gemerkt hätte, mit einer unglaublichen Schnelligkeit mit dunklen Wolken, das leise Grollen im Hintergrund und das immer schneller aufeinanderfolgende grelle Aufblitzen am Horizont bestätigte ihre schlimmste Befürchtung. Doch der Sturm ließ sich Zeit, noch, er war sich seiner Opfer sicher.

(ein paar Minuten später)

Man konnte kaum seine eigene Hand vor Augen sehen, so dunkel war es geworden. Auf einmal zerriss ein gewaltiger Blitz den Himmel über ihrem Kopf. Nur kurz darauf gab es einen lauten Knall, gleich einer gewaltigen Explosion. Wie auf ein Signal nahm die Stärke des Sturmes rapide zu. Die kleine »Nussschale« wurde von den monströsen Wellen in den Himmel emporgehoben, nur um Sekunden später wieder abgeworfen zu werden. Die Wellen folgten eine nach der anderen, Gischt spritzte ihr ins Gesicht und das Boot begann langsam, aber sicher vollzulaufen.

Mehr als einmal drohte es einfach unter den mächtigen Naturgewalten zu kentern oder, noch schlimmer entzwei zu brechen. Doch so wie ein junger Baum einem Orkan standhielt, hielt das kleine Boot auch diesen direkten Angriffen stand. Doch wie lange noch!?

Sie war nahe der Panik, viel zu nahe, um noch auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können. Verzweifelt klammerte sie sich an die Reling des Bootes, welches immer verrückter zu bocken begann. Sie konnte sich kaum noch halten und suchte immer verzweifelter nach etwas, was ihr helfen könnte, ohne dabei gleichzeitig den rettenden Halt loslassen zu müssen. Ein mächtiges Donnern, gewaltiger als sie es je zuvor gehört hatte, ließ sie erstarren. Vor allem, als sie erkannte, von wo dieses Geräusch erklang, sog sie entsetzt die Luft ein und gab in Gedanken schon das Abschiedswort.

Von Osten her – wo es besonders dunkel war und sie wusste plötzlich auch, warum – rollte eine gigantische Welle heran, so gewaltig, dass sie den ganzen Horizont bedeckte. Sie konnte spüren, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich und sie am ganzen Körper zu zittern begann. Das war das Ende!

Sie fuhr herum und das so plötzlich, dass das kleine Boot gefährlich zu schwanken begann und sie reaktionsschnell das Gleichgewicht auf einen anderen Fuß verlegte. Sie hatte sich wohl getäuscht. Es wäre eine Hoffnung gewesen!

In ihrem rechten Augenwinkel sah sie das merkwürdige Aufblitzen eines Lichtreflexes. Ein großes Schiff! Jetzt war sie sich ganz sicher. Und es kam genau auf sie zu! Sie winkte, doch zu spät fiel ihr ein, dass man ihr Winken in diesem Sturm bestimmt nicht deuten würde können. Aber was sollte sie tun?

Leuchtraketen! Dieses Wort und seine Bedeutung drangen mit einer erleuchtenden Wucht in ihre Gedanken ein, so dass sie zusammenzuckte und unvorsichtig wurde.

Die nächste Welle brachte sie ums Gleichgewicht. Sie kämpfte darum, nicht die Balance zu verlieren und bereits in jungen Jahren jämmerlich zu ertrinken, als sie flüchtig einen mächtigen, sich ihr nähernden Schatten aus der westlichen Richtung bemerkte. Sie hatte ihre Balance wiedergefunden und klammerte sich geistesgegenwärtig an den Bootsrand als sie die große Gefahr, die sie als Rettung angesehen hatte, bemerkte. In ihrem Kopf wurden die eben empfangenen Daten zusammengepuzzelt und sie erkannte entsetzt: Welle von Osten, Schiff von Westen! Sie würde wie eine lästige Mücke unter diesen Naturgewalten jämmerlich zerquetscht werden!

Doch unter ihrer Angst bahnte sich noch etwas Anderes heran. Entschlossenheit und eine ihr unerklärliche Hoffnung. Es gab einen Weg, das spürte sie und sie würde ihn finden! Genau in diesem Moment explodierte der Himmel und gab gewaltige Wassermassen frei. Auch das noch! Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte, wurde sie nun auch noch oben nass. Pitschnass, wie sie war, hatte sie mehr Angst zu erfrieren als zu ertrinken doch diese Gedanken schob sie einfach zur Seite. Sie hatte eine Leuchtrakete gefunden! Das passende Feuer brauchte nicht lang gesucht zu werden. Sie zündete sie an und… das Feuer erlosch in der Kürze eines Atemzuges. Sie hatte ihre letzte Chance verspielt, bemerkt zu werden! Sie war genau zwischen die Fronten geraten, vom sogenannten Regen in die Traufe.

Das Schiff kam näher. Es hatte längst nicht so große Schwierigkeiten, den Wellen standzuhalten wie ihre »Nussschale«. Das Donnern der sich nähernden Welle nahm zu. Sie getraute sich nicht, sich umzublicken. Ihre Gedanken purzelten wie wild durcheinander. Kein Ausweg – was tun? Springen?! Sollte sie springen?

Mit einem Mal konnte sie wieder ganz klar denken. Sie würde springen! Ertrinken war ein besserer Tod als zerquetscht zu werden. Und sie sprang, als das Schiff sie schon beinahe erreicht hatte, aber nicht ins Wasser.

Mit letzter Kraft krallte sie sich an den Bug des riesigen Schiffes. Sie spürte und hörte mehr, als dass sie es fühlte, wie sich die Welle, gleich einer unaufhaltbaren Naturgewalt, genähert und sie beinahe erreicht hatte. Diese Eingebung ließ sie ungeahnte Fähigkeiten entwickeln. Trotz der wiederholten Bemühungen der Wellen und der glitschigen Wand, sie abstürzen zu lassen, zog sie sich geschickt den Bug hinauf. Mehrmals schluckte sie Wasser und musste husten. Schon nach kurzer Zeit brannten ihr die Augen vom Salz und ihr Hals verlangte nach Feuchtigkeit.

Da hatte sie die Statue, die hoch über ihr emporragte, erreicht und klammerte sich mit verzweifelter Kraft an deren Sockel fest, als eine neuerliche Welle sie überspülte und zurück ins Meer zu reißen drohte. Doch mit letzter Kraft hangelte sie sich vom Sockel bis zum Kopf der Statue hinauf. Sie konnte kaum erkennen, wo sie sich befand, so dunkel war es.

Das stetige Blitzen und das ohrenbetäubende Grollen des Donners war längst von dem mächtigen Donnern der anbrandenden Gigantenwelle verschluckt worden. Sie suchte einen Spalt, an dem sie sich hochstemmen konnte, fand auch einen…

Sie spürte, wie etwas Spitzes ihre Handfläche aufritzte und zog sie mit einem leisen Aufschrei wieder zurück. Diese Reaktion hätte sie fast um die Balance gebracht und somit in den Tod gerissen, doch sie griff – trotz des Schmerzes in ihrer Rechten – geistesgegenwärtig zu und hangelte sich aufatmend zum Kopf der Statue hin.

Das mächtige Donnern verband sich mit einem immer lauter werdenden Grollen und Rauschen und dem Geräusch einer mächtigen Brandung. Sie musste sich beeilen! Geschickt stemmte sie sich am Reling hoch und plumpste hörbar aufs Deck. Doch es blieb leer, nichts rührte sich an Board. Und die Welle war schon da…

Doch dann… der letzte zackige Blitz zeriss den Himmel und sie konnte einen großen, wild gekleideten Mann am Steuer erkennen. Die Welle war heran und ab diesem Moment ging alles so schnell, dass sie kaum noch etwas mitbekam. Die Segel wurden trotz des gewaltigen Sturmes erfolgreich gehisst. Die Welle kam mit der Schnelligkeit einer drohenden Naturgewalt auf sie alle herab und das Schiff wagte ein haarsträubendes Manöver. Es fuhr am Fuß der gigantischen Welle bergan und legte sich leicht schräg, um den Kurs seitlich auch zu behalten, denn sonst wäre es mit einer Sicherheit von 99 zu 1 gekentert.

Sie hielt die Augen geschlossen. Auch lange noch danach, als sie die Welle passiert hatten und die Sonne bereits ihre ersten Strahlen auf das dunkle, schimmernde Wasser schickte..

(Und dann musste sie doch noch eingeschlafen sein.)

Sie wurde reichlich unsanft geweckt. Eine grobe Hand riss sie an der Schulter in die Höhe und sagte laut: »Na, wen haben wir denn da, seht mal her, ein blinder Passagier.«

Mehrere Leute grölten lauthals und sie wurde wieder zu Boden geschleudert, wo sie anfangs noch benommen liegen blieb, doch schließlich wagte sie es doch noch, die Augen zu öffnen – und sie sie sofort wieder zu schließen und zu öffnen, wie um sich zu gewissern, nicht in einem grausigen Albtraum gefangen zu sein.

Wenn sie zumindest eine Erinnerung nicht verloren hatte, dann war es die an Piraten. Entsetzt blieb sie starr liegen und rührte sich anfangs auch nicht vom Fleck, als einer von ihnen näherkam und sich herabbeugte. Als dieser jedoch abermals nach ihr greifen wollte, rutschte sie soweit wie möglich zurück und presste sich eng an die Reling wobei sie sich rasch – und jederzeit bereit sich zu verteidigen, aufrichtete und die Piraten nicht aus den Augen ließ.

Die Gruppe hatte aufgehört zu gröllen, als kämen sie von einem Kneipebesuch vollbesoffen zurück und hatte sie mittlerweile umzingelt – und sie sahen jetzt eindeutig bedrohlich aus! Nicht wenige hatten ihre Säbel oder Dolche gezogen. Sie versuchte angestrengt, Entschlossenheit zu zeigen und ihre Furcht zu unterdrücken. Ob es ihr gelungen war, wusste sie nicht.

»WAS IST HIER LOS!« Eine kräftige Männerstimme durchbrach die bedrohliche Stille (obwohl seine Stimme kaum weniger bedrohlich klang). Sie schluckte, jetzt kamen die wirklichen Probleme, das spürte sie. Die Kajütentür flog auf und ein stämmiger Mann mit wildem Bart und nicht weniger wild aussehenden Kleidung trat heraus, allerdings hatte er im Gegensatz zu den anderen eine gewisse Ausstrahlung, die imponierte und so gar nicht zu einem Piraten passte. Aber doch, irgendwie…

Der Anblick ihres Kapitäns – denn ganz genau das war er, da war sie sich sicher – ließ die Gruppe auseinanderweichen und gewährte ihm einen Blick in ihre Richtung. Der Kapitän trat auf sie zu, musterte sie einen Augenblick von Kopf bis Fuß – wie eine Ware, die er überprüfen wollte, ob sie so viel wert war, wie sie zu sein schien. Das Ergebnis seiner Musterung erfuhr sie nie – aber sie konnte es sich so ungefähr denken. Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos, als er seinen Leuten befahl: »Bringt sie unter Deck zu ihrem kleinen Freund. Heute Nacht dann sahnen wir die Kohle ab und können uns endlich wieder wie freie Piraten benehmen!«

»Wir hätten diesen blöden Vertrag nie unterschreiben sollen!« Der, der das gesagt hatte, wurde mit einer unwilligen Handbewegung zum Schweigen gebracht. »Bringt sie unter Deck«, wiederholte er, »dort wird sie warten, bis wir das Urteil über sie gefällt haben. Ein blinder Passagier auf einem Piratenschiff…«

Folgsam stießen zwei Männer sie auf eine sich am Deck befindliche Falltür zu, einer öffnete sie und der andere stieß sie so grob hinein, so dass sie die Stufen hinuntergepurzelte. Wie durch ein Wunder überlebte sie diesen Sturz, ohne auch nur eine Schramme abzubekommen. Sofort wurde die Luke wieder zugeschlagen und mit einem Schlag wurde es stockfinster in dem Raum, in dem sie sich befand.

Dann hörte sie ein leises Scharren, so als ob Krallen über eine Holzplanke schliffen. Sie fuhr herum und alles in ihr zog sich alarmierend zusammen. Ein vorsichtiger Lichtschein erhellte mit einem Mal die Frachtkammer – denn darin befand sie sich, wie man auf einem Blick bemerken konnte. Vor ihren Augen tauchte ein seltsames, vogelähnliches Wesen aus der alles verbergenden Dunkelheit auf und scharfe Adleraugen betrachteten sie eingehend und vor allem sehr, sehr neugierig. Sie schluckte nervös. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Die gelb leuchtenden Augen schienen ihr von einem aufs andere Mal etwas sagen zu wollen. Sie fühlte sich wie in Trance versetzt und glaubte zu schweben.

Dann war dieses Gefühl plötzlich verflogen. Sie setzte sich verwirrt auf und in genau diesem Moment wurde die Luke mit einem heftigen Knall geöffnet und grelles Licht – Sonnenlicht -stach ihr in den Augen. Geblendet hob sie die Hand, um ihre Augen zu schützen, doch im nächsten Moment wurde sie auch schon hochgerissen und die Stufen hochgeschleift. Das Urteil war gefallen.

»Das Urteil ist gefallen«, verkündigte der Kapitän der Piratenflotte. »Ich bin mit unserem Auftragsgeber in Verbindung getreten und er gab uns bekannt, wir sollten die Sache sofort zu Ende bringen.« Das aufgeregte Gemurre und Gebrumme, das während seiner kleinen Rede aufkam, ignorierte er zum Glück für seine Leute.

»Wir werden das Elbenmädchen und ihren kleinen Freund den Fischen übergeben!« Allgemeines Gelächter und Gegrölle kam auf. Ihr wurde zugleich heiß und kalt. Aber eine Frage nagte trotz allem an ihr: sie und ein Elbenmädchen? Was war das eigentlich?

Die Planke wankte unter ihrem Gewicht – obwohl sie wahrlich ein Fliegengewicht war. Sie wollte gar nicht wissen, wie viele vor ihr bereits diesen Weg beschritten hatten. Noch einen Schritt und… Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie die aus dem Wasser ragenden Zacken erkannte. Ein Name schoss ihr in den Kopf: Haifische!

Doch es gab noch etwas, was sie darüber wissen sollte – das Wissen war tief vergraben, zu tief.

»Sollten wir nicht ein bisschen nachhelfen?« Sie wusste nicht, von wem diese Frage kam doch im nächsten Augenblick wurde sie von hinten angeschubst und fiel kopfüber die Planke hinunter und den Haien entgegen. Wie durch ein Wunder flog sie unversehrt ins Wasser und tauchte unter. Die Haie schienen sogar vor ihr davonzuweichen! Auf was warteten sie? Sie spürte eine leichte Strömung in ihrem Rücken und im nächsten Augenblick wurde sie davon angezogen. Bevor sie merkte, wie ihr geschah, schlug ihr etwas Hartes mit voller Wucht auf den Kopf und sie verlor das Bewusstsein.

(nach dem Erwachen)

Die Sonne strahlte hell vom Himmel und Kujika öffnete die Augen. Ja, sie war Kujika und war es auch immer gewesen, jetzt wusste sie wieder alles. Die Haie – ihre Freunde- hatten sie vor einem frühen Tod bewahrt und sie war eine Elbin.

Sanfte Wellen brandeten in die Bucht. Es war eine sehr kleine Insel, auf der sie gelandet war! So klein, dass sie das ganze Eiland auf einmal überblicken konnte. Das kleine Haus in der Mitte stach ihr sofort ins Auge. Sie sprang auf und rannte näher. Jetzt konnte sie erkennen, was in gerader Schrift knapp unter dem Dach geschrieben stand: Kame-Haus.

Neugierig geworden schlich Kujika näher und betrat schließlich zögernd die Türschwelle. Sollte sie klopfen? »Brauchst du gar nicht, wenn du angetrampelt kommst, wie einen ganze Elefantenherde, dich hört man ja schon meterweit!« Wäre sie nicht so erschrocken gewesen, hätte sie über diese Bemerkung grinsen müssen.

Sie fuhr herum. Hinter ihr stand ein älterer Herr mit langem weißen Bart und einer Glatze. Er war sommerlich gekleidet und hatte einen grob geschnitzten Stab in der rechten Hand. Und mit genau diesem schlug er im nächsten Moment auf den Erdboden.

»Ich habe dich was gefragt, Mädchen!« Er kratzte sich an der Glatze. »Oder nein, ich wollte dich etwas fragen«, verbesserte er sich hastig und entblößte mit einem Grinsen seine auseinanderstehenden Zähne. Sofort wurde er wieder ernst: »Wer bist du und wo kommst du her? Nicht etwa, dass es in letzter Zeit selten vorgekommen ist, dass ich Besuch bekomme, aber so jemanden wie dich…«, er verstummte und musterte Kujika von Kopf bis Fuß, »…habe ich noch nie gesehen. Bist du hier, um bei mir zu trainieren?«

Kujika sah ziemlich verdutzt drein: »Trainieren?« fragte sie verständnislos, »ja, was denn, bitte?« Er selbst sah einen Moment ein wenig verwirrt aus, doch dann antwortete er: »Sich leiser zu bewegen zum Beispiel, aber ich sehe, dass du wirklich keine Ahnung hast, was du hier machst.«

Er seufzte: »Macht nichts, komm mit in mein Haus. Bei einer Tasse Tee und einem kleinen Pläuschchen lässt sich bestimmt alles aufklären.« Kujika nickte, was blieb ihr den anderes übrig?

Im Kame-Haus war es mollig warm und Kujika fühlte sich zum ersten Mal seit Stunden wieder vollkommen sicher.

»So und jetzt kommen wir mal zum Thema«, riss er sie aus den Gedanken. »Erst mal, ich glaube wir haben uns noch gar nicht vorgestellt! Sehr unhöflich muss ich sagen. Jedenfalls…«, er räusperte sich, »mich nennt man Muten- Roshi, den Herrn der Schildkröten, und wie nennt man dich, wenn man fragen darf?«

»Kujika«, konnte sie nur hervorbringen.

»Schöner Name«, er nickte verträumt. »Aber ich schweife ab«, setzte er sofort hinzu. »Jetzt zum eigentlichen Thema. Also Kujika«, er sah sie durchdringend an, nichts von seiner Schelmhaftigkeit war in diesem Moment zu erkennen, »du bist hierhergekommen, um bei mir zu trainieren.«

»Naja, eigentlich nicht, aber…«

Muten-Roshi unterbrach sie: »Zwar nicht freiwillig, aber du bist hier. Da ich zur Zeit ohnehin keinen neuen Schüler mehr habe…«, er überlegte gut. »Ich hab’ es noch nie bei einem Mädchen versucht. Wäre sehr interessant«, murmelte er vor sich hin.

Kujika nickte: »Ich weiß zwar noch nicht mal, um was es geht, aber es hört sich interessant an.« Muten-Roshi sah auf und grinste schelmisch: »Na dann, an die Arbeit!«

Die erste Übung kam Kujika sehr einfach vor. Sie sollte sich einfach nur mal die Gegend einprägen. Und das tat sie sehr genau. Interessiert betrachtete sie die Palmen, die entlang des Strandes wuchsen und die Felsen, die sich an der Westküste des kleinen Eilands gen Himmel erhoben.

Nach gut einer Stunde meinte sie: »Alles schön und gut. aber das soll eine Übung sein?« Er nickte mit dem Kopf und schüttelte ihn zugleich wieder. »Für die kommenden Übungen ist es sehr wichtig, dass du weißt, wo sich was befindet.« Sie hatte ein wenig Probleme, seinen Gedanken zu folgen – sie würde sich wohl überraschen lassen müssen.

Die zweite Übung erschien ihr schon um einiges schwieriger. Wie sollte sie bitte Energien konzentrieren? Ihre ganze Erinnerung war zurückgekehrt, nur ob sie einmal Ähnliches gekonnt hatte – sie wusste es nicht mehr. Nach einer kurzen Erklärung erfuhr Kujika auch, dass sie unglaublich schnell Fortschritte machte. Das hätte sie nie gedacht und so war sie auch ziemlich enttäuscht, als ihr erster Versuch, Energien zu konzentrieren, misslang.

»Nimm’s nicht so schwer«, tröstete er sie. »Dann beginnen wir eben auf eine andere Art.«

Tagelanges Üben, Üben und Üben war die Folge. Der erste Tag war wohl noch der anstrengendste. Schon nach einer Stunde saß sie keuchend im Gras und meinte: »Ich kann nicht mehr.« Doch nach noch einer hitzigeren Diskussion willigte Kujika ein, es doch noch weiterzuversuchen.

(Zweiter Tag)

Sie war kaum zum Schlafen gekommen, so einen heftigen Muskelkater hatte sie noch von gestern. Und heute ging es weiter.

Jetzt wusste Kujika, was es hieß, schnell die Lust an etwas zu verlieren. Doch sie wollte auch nicht so bald aufgeben. Das stand unter ihrer Würde, die sie als Elbin zu tragen hatte. Sie trat nicht vors Haus, ohne zuvor noch einen Schluck Tee zu trinken, der dampfend am Tisch stand. Erst dann machte sie sich auf den Weg zu den Felsen, wo ihr Lehrer um diese Zeit meist anzutreffen war.

Doch heute schien etwas denn Zeitplan durcheinander gebracht zu haben. Muten-Roshi war nicht an seinem gewohnten Platz anzutreffen und so schlug Kujika einen Hacken zum Strand ein. Der Herr der Schildkröten tummelte sich im Wasser herum wie ein kleines Kind, als Spielgefährtin eine Schildkröte. Er winkte ihr zu, als er sie am Strand stehend bemerkte: »Komm doch rein!« So wie sie war – mit Gewand und allem – stieß sie sich vom Strand ab und schoss unter Wasser auf die Beiden zu.

Den halben Vormittag verbrachte sie im Wasser und tummelte sich mit den anderen lachend unter Wasser herum, doch dann begann wieder das eigentliche harte Training. Diesmal stand ihr etwas gänzlich Anderes bevor. Sie sollte mit einem schweren Stein, den sie kaum heben konnte, bis zu den Felsen und wieder zurück schwimmen. Wäre er nur nicht so schwer gewesen. Man sah nur noch Luftbläschen von ihr, als sie eine Stelle erreichte, wo sie keinen Kontakt mehr mit dem Boden hatte.

Doch Kujika ließ sich nicht unterkriegen, in keinster Weise und so zog sie an, so gut sie konnte und tauchte prustend wieder auf. Jetzt begann das eigentliche »Muskeltraining«. Es ging ungemein in die Knochen und als sie fertig war, wäre sie am liebsten Stunden keuchend im Gras gelegen, doch Muten-Roshi ließ ihr keine Ruhe. Zu Mittag machten sie eine kleine Pause und am Nachmittag ging es mit einem ähnlichen Programm weiter. Am Abend war sie am Ende. Diese Nacht schlief sie um Einiges besser als die letzte.

Der dritte Tag verlief kaum anders als der vorangegangene,erst am vierten warteten zwei Überraschungen auf sie. Es würde ihr letzter auf der Kame-Insel sein.

(Vierter Tag)

Als sie erwachte, wusste sie sofort, dass es ein besonderer Tag werden würde. An diesem Tag fand sie alles an ihrem gewohnten Platz. Folglich befand sich ihr Lehrer bei den Felsen an der Westküste. Er hatte etwas ganz Besonderes für sie vorbereitet.

»Ich habe schon lange bemerkt, dass seltsame Kräfte in dir schlummern«, begann er mit einer Bemerkung. (Sie hatte ganz vergessen, ihm zu sagen, dass sie eine Elbin war.) Aber das Nächste verwirrte sie. »Diese Gabe wird es dir leichter machen, das Fliegen zu erlernen, da es ja bereits tief in dir schlummert.«

Jetzt war sie perplex: »Fliegen?!«

»Sich frei in der Luft bewegen können«, entgegnete er geduldig.

»Ja, das ist mir klar, aber…«

»Das ist gut, dann können wir ja beginnen«, unterbrach er sie energisch. Das Ganze begann mit hunderten von Fehlschlägen. Kujika wollte bereits aufgeben, als etwas Entscheidendes das Blatt wendete:

Energien zu sammeln – damit sollte sie heute wiederum beginnen und das vor dem Fliegen! Sie brummelte, konzentrierte sich aber. Natürlich, nichts, was hatte sie auch erwartet?! Aber etwas in ihr wollte nicht aufgeben und glaubte nach wie vor daran, dass sie es konnte. Und diese Seite gewann für einen Augenblick die Oberhand. In diesem Augenblick erschien eine kleine Leuchtkugel, klein wie eine Erbse, die langsam wuchs, unter ihren Handflächen. Überrascht unterbrach sie ihre Konzentration, doch dieser Erfolg brachte die Wende. Am Ende des Vormittags beherrschte sie das Kame-Hame-Ha vollständig!

(Vierter Tag: Nachmittag)

Fliegen war an der Reihe. Kujika war echt gespannt! Muten-Roshi meinte jetzt, da sie das Kame-Hame-Ha beherrsche, wäre das Fliegen gar nicht mal mehr so schwer. Sie hoffte, dass er Recht behalten würde. Es begann alles mit Schwebeübungen. Kujika lernte, sich allein durch ihre psychischen Kräfte in der Luft zu halten, was ihr zu ihrer Überraschung auch sofort gelang!

Doch mit dem eigentlichen Fliegen hatte sie ihre lieben Probleme. Schließlich gab sie es auf. In genau diesem Moment, als sie ans Aufgeben dachte riss sie ein lauter Schrei aus ihren dunklen Gedanken.

Ein Greif! – ihr Greif! – sie hatte diesen Schrei sofort wieder erkannt. Was war los?! Ohne nachzudenken sprang sie auf und lief in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war- die Felsen hinauf. Sie hatte ganz vergessen, dass er nicht schwimmen konnte – und er anscheindend auch…

Verzweifelt versuchte er sich über Wasser zu halten. Wo war er die ganze Zeit gewesen? All die vier Tage? Die Fragen schossen Kujika durch den Kopf und sie sprang. Sie erreichte ihren kleinen Freund und packte ihm am Nacken. Da er noch jung war, war es für sie keine Schwierigkeit, ihn unter die Schulter zu klemmen. Nur wie kam sie hier wieder hoch? »Fliegen!« kam ihr zuerst in den Sinn, aber wie?

Sie hatte die Gewissheit, sie musste fliegen und sie konnte es! Als hätte das eine Tür in ihr geöffnet, flutete das alte Elbenwissen wieder in sie ein. Wie frei sie sich fühlte, als sie in die Lüfte stieg und schließlich vor Muten-Roshi am festen Boden landete!

Es gab einen herzlichen Abschied und Kujika versprach, sobald sie konnte, wiedermal vorbeizuschauen. Sie hatte ihren alten Gefährten wieder und würde sich auf die Suche nach ihrer alten Heimat – Avalon – machen. Es würde schwer werden, aber sie nahm es gern in Kauf.

Das war erst der Anfang eines großen Abenteuers…