Christiane Scherch (14)

Bronchitis

Vor Nässe triefend, reiße ich die Tür zum Wartezimmer auf und starre entgeistert in die Runde, da es mich für den Moment schon etwas fertig macht, zu sehen, wie viele noch vor mir drankommen würden.

»Hi«, murmle ich und bemerke gleichzeitig den kritisierenden Blick einer älteren Dame, die meine Begrüßung anscheinend für unangemessen hält. Aber ich glaube, auch meine Kleidung ist ihr nicht ganz recht, da sie mich mit ihrem einen Auge, welches gefährlich hervorquillt, genau betrachtet und beim Anblick meiner roten Hose und dem knallgrünen Pulli die Stirn in Falten zieht. Ich grinse sie frech an und ziehe den Ärmel meines Pullis provokant zurecht. Dann lasse ich mich auf den einzigen freien Platz zwischen eine Frau Mitte vierzig und ein rothaariges, dickes Mädchen mit Doppelkinn fallen.

Neben der Lady mit dem kritischen Blick entdecke ich Kathy, meine Gartennachbarin. Sie kontrolliert angestrengt die Länge ihrer Fingernägel und schaut dann nach oben. Sie lächelt mich an, hustet vielsagend in ihre manikürte Hand und zupft anschließend an den Schnürsenkeln ihrer sündhaft teuren Schuhe. Dann beschäftigt sie sich mit ihren frisch blondierten Haaren, untersucht diese nach Spaltungen, wie mir scheint, und macht mir dann mit einem gekonnten Wisch nach dem Lidschatten endgültig klar, dass sie nun mal die Schönere von uns beiden ist und sich im Gegensatz zu mir künstliche Schönheit leisten kann.

Meine Beobachtungen werden schließlich durch ein dreijähriges Mädchen gestört, dass krampfhaft versucht, sich aus dem Griff seiner doch recht jungen Mutter zu befreien, und dabei undefinierbare Töne von sich gibt. Die Mutter bemerkt meinen verwunderten Blick und versucht dann mit dem Satz »Josi ist manchmal sehr anstrengend«, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Das Kind hat es geschafft und rutscht von dem Schoß der Mutter, und saust anschließend wie ein Kugelblitz durch das Wartezimmer. Vor der Tür, die nach draußen führt, macht es halt. Dann hüpft es an die Türklinke und reißt diese somit geschickt auf. Die Mutter bemerkt dies erst, als sie den Kopf von ihrem Plausch mit der Mutter von dem dicken Mädchen hebt und ihr Kind aus dem Wartezimmer flüchten sieht.

Sie stürzt der Kleinen hinterher, und die fängt natürlich sofort an zu brüllen, als sie ihren Willen nicht bekommt, und trommelt mit den Fäusten gegen die Tür. Es ist ein amüsantes Schauspiel, und sogar das dicke, rothaarige Mädchen mit dem Doppelkinn hat mal für einen kurzen Moment aufgehört, Grimassen in meine Richtung zu schneiden, und verfolgt angestrengt die Mutter-Tochter-Szene an der Tür.

Die Mutter kommt mit dem kleinen Ausreißer auf dem Arm zurück. Peinlich berührt von den Blicken der anderen, setzt sie sich und hält den Mund und stopft ihrem kleinen Schützling etwas Knäckebrot in den kleinen Schnabel.

Ich bemerke, dass ich noch immer den nassen Pulli anhabe. Seufzend ziehe ich die schwere, triefende Wollmasse über den Kopf. Als ich vom Garderobenständer zurück komme, klingelt ein Handy im »Tom & Jerry«-Style, ohne dass auch nur jemand dem nervigen Geklingel einen Funken Aufmerksamkeit schenkt.

Ein Junge, der neben der Frau Mitte vierzig sitzt, tippt diese höflich an und meint: »Entschuldigung, ich glaube, das Klingeln kommt von ihnen.« Die Frau scheint aus ihrem Trauma zu erwachen, schaut sich irritiert um, nimmt dann das Handy aus der Tasche und verschwindet zum Telefonieren nach draußen.

Der Junge schaut nun in meine Richtung und grinst mich verdächtig komisch an. Da fällt mir auf, dass er mir mal vor ziemlich langer Zeit die Ventile aus dem Fahrrad geschraubt hat. Böse schaue ich zurück und belausche dann das alltägliche Geplänkel eines älteren Ehepaares. Die Dame meint: »Handys sind ja heute schon wichtiger als Brieftaschen!«

»Ja, und diese Jugend heutzutage, keinen Anstand mehr«, sagt der Herr und mustert auffällig mein doch recht provokantes Outfit. Ich ziehe eingebildet die Augenbrauen nach oben und fummle mein Handy aus der tiefen Hosentasche, woraufhin das Ehepaar die Stirn runzelt und sich vielsagend anschaut. »Null Respekt«, sagen ihre Blicke.

Inzwischen hat die Mutter von dem rothaarigen Mädchen alle Zeitungen durchforstet und geht zur Schwester. »Hören sie«, sagt sie laut, »mein Kind hat Fieber, ich möchte, dass sie es jetzt gleich dran nehmen.«

Die Schwester nickt verständnisvoll, und die Mutter kommt mit einem triumphierenden Blick zurück ins Wartezimmer. Kurz darauf verschwinden beide im Behandlungszimmer und die Frau des Ehepaars steht auf und marschiert auf die Sprechstundenhilfe zu. »So geht das aber nicht. Das muss doch nach der Reihe gehen, wo ist denn da das System!?« Die Sprechstundenhilfe ignoriert gnadenlos diesen Einwurf und widmet sich dann wieder ihrer Arbeit.

Dann beginnt ein fliegender Wechsel im Wartezimmer. Das ältere Ehepaar steht schließlich auf und geht. Die Frau mit dem Handy ist immer noch draußen.

Die Mutter mit dem dicken Mädchen kommt wieder aus dem Behandlungszimmer, und Kathy verschwindet nach drinnen. Ich bin allein mit einer alten Frau, die einsam in ihr Taschentuch schnieft, der Frau mit dem Baby, dem Jungen, und nun öffnet sich die Tür, und ein junger, recht hübscher Mann kommt herein. Er seufzt ein »Hallo« in die kleine Runde und setzt sich dann genau gegenüber der Sprechstundenhilfe, ganz in der Hoffnung, mit ihr Blickkontakt aufzunehmen. Doch sie betrachtet ihn nur wie ein rohes Stück Fleisch auf der Schlachtbank und blickt dann wieder auf den Bildschirm ihres Computers.

Aus unerklärlichen Gründen werde ich dann aufgerufen und gehe träge ins Behandlungszimmer. Die Ärztin sieht mich Stirn runzelnd an und fragt mich dann nach meiner Krankheit.

»Das sollten Sie eigentlich feststellen«, sage ich grinsend und huste auffallend, damit sie endlich bemerkt, wie stark mich die Bronchitis erwischt hat.

»Schreiben Sie mich krank«, sage ich und stehe schon wieder auf, um zu gehen. Doch sie besteht darauf, mir erst in den Hals zu schauen. Ich ersticke fast an dem Holzstäbchen, das sie mir bedrohlich weit in den Rachen schiebt, und beim Abhören kleide ich mich tierisch ungeschickt an und aus.

»Bronchitis«, meint sie und kritzelt etwas auf einen rosafarbenen Schein, den sie mir dann in die Hand drückt und mich damit zur Apotheke schickt.

Ich stolpere im Wartezimmer über das Baby und murre der unfreundlichen und intoleranten Gesellschaft meiner Kleidung gegenüber ein »Tschüss« entgegen und schmeiße die Tür hinter mir zu.

Das nächste Mal besorge ich mir einen Termin, beschließe ich und trample missmutig durch den grauen Februarschnee.