Maria Schenk (14)

Das Leben einer Eintagsfliege

»Na warte, du Biest! Glei’ hab’ i’ di’!« polterte Frau Seltennett.

»Natürlich!« dachte ich so bei mir, »Du dicke Kuh! Mich kriegst du nicht. Du bist ja viel zu langsam!… Nein! Hier bin ich doch!… Wieder daneben!« Und schon flog ich in eine andere Zimmerecke.

Frau Seltennett kniff die Augen angestrengt zusammen. »Wo bist du, du Mistviech?« fragte sie und rollte ihre Bildzeitung ein wenig fester zusammen.

Ach, Herr je! Nun kletterte sie auch noch auf einen Stuhl. Als ob ihr das etwas nützen würde.

»I wird’ dir schon noch das Fürchten lehren!«

Davon war ich überzeugt. Sie wirkte eigentlich in jeder Hinsicht angsteinflößend.

Frau Seltennett war genau so sehr in die Höhe wie in die Breite gewachsen, und wenn sie einen Raum betrat, wurde es zwangsläufig erst einmal dunkel. Wenn sie nach Hause kam, spürte man ihr Stampfen, selbst wenn sie noch zehn Meter vom Haus entfernt war, und dann war sie stets schlecht gelaunt, weil sie der Meinung war, für einen so anstrengenden Job, wie den einer Reinigungskraft, zu schlecht bezahlt zu werden. Schlechte Laune gehörte folglich zu ihr wie Butter auf die Semmel.

Ich konnte sie mir mit einem ehrlich gemeinten Lächeln auch durchaus nicht vorstellen. Einmal war ihr Chef hier gewesen und wollte sich nach ihrem Befinden erkundigen, weil sie an der lebensgefährlichen »I-mach-heut-blau!-Krankheit litt. Ihr schmieriges Grinsen, in Hoffnung auf eine Gehaltserhöhung, war die einzige freundliche Geste, die man ihr wohl je entlocken hatte können. Zumindest wusste ich das von den Eintagsfliegen vor mir.

Nun hatte mich Frau Seltennett endlich entdeckt. Ich blieb, wo ich war. Schließlich musste ich Energie sparen. Ihre Augen hatten etwas böse Funkelndes in sich, und sie grinste hämisch. Selbstsicher schob sie langsam den Stuhl in meine Richtung. Die Vorfreude auf eine tote Fliege in ihrem Abfaller war ihr deutlich anmerkbar, während sie erneut auf den Stuhl stieg. Obwohl sie das sehr vorsichtig tat und wahrscheinlich von sich glaubte, graziös zu wirken, konnte sie mit ihrem Umfang doch nicht wirklich glauben, unbemerkt geblieben zu sein?

Sie holte aus, und ich flog weg. Wieder stieg sie mühsam von ihrem Stuhl herunter und richtete ihr wachsames Auge auf alles, das sich zu bewegen drohte.

Ding – Dong. Frau Seltennett schreckte zusammen. War Herr Seltennett gekommen?

Genervt schrie sie: »Du hascht doch a Schlüssel!« Und gerade als ich dachte, sie hätte ihre schrecklichen Erbanlagen womöglich an ein Kind weitergegeben, betrat ihr Mann die Küche.

Herr Seltennett war klein und hager. Seine Augen glänzten weit aufgerissen zwischen seinen roten Krauslocken und einem Schnauzbart hervor. Er sah direkt ängstlich aus. Die Dominanz seiner Frau war schon jetzt deutlich spürbar.

»I-ich bin von der Arbeit zurück…« sprach der Herr des Hauses.

»Ja, ja! I hab zu tun!«

Enttäuscht legte er seine Aktentasche ab und verließ das Zimmer. Er schien ein wesentlich erträglicherer Zeitgenosse zu sein als seine Frau, und so wurde ich neugierig. Ich flog ihm hinterher in einen langen Flur.

Doch die dicke Tilla hatte mich gesehen, und schon rannte sie hinter mir her, dass das Geschirr im Schrank schepperte. Ihr Mann wollte gerade die Tür schließen, als er seine Frau fragend ansah. Doch diese hatte seinen Blick offenbar nicht erwidert, denn jetzt war er im Begriff, die Tür ganz zu schließen.

Der Feind war direkt hinter mir, doch ich MUSSTE in dieses Zimmer kommen. Ich spurtete, verausgabte mich, nahm mein kleines Fliegenherz zusammen. Noch wenige Zentimeter…

RUMS! Ich flog gegen die Innenkante der Tür, gerade als diese von Herrn Seltennett geschlossen wurde, und seine Frau dagegen krachte…