Patrick Rudelstorfer (12)

Ein grausamer Sturm

»Komm endlich, du lahme Schildkröte!«

»Ja ja, komm ja schon. Ich muss ja den Rucksack tragen, und nicht du!«

»Na und? Ist doch sowieso nicht viel drinnen. Außer einer Flasche Limo und zwei Wurstbroten brauchst du doch nichts zu schleppen. Und wenn wir heute noch auf den Gipfel kommen wollen, dann musst du ein bisschen Gas geben!«

»Halt endlich die Klappe, sonst kannst du gleich den Rucksack tragen. Außerdem wollte ich gar nicht freiwillig mit auf den Berg, sondern du hast letztes Mal, als du mit Onkel Freddy oben warst, einfach meine neue Sonnenbrille oben liegen lassen. Und jetzt muss ich noch diesen blöden Rucksack tragen, obwohl du schuld bist!«

»Schon gut, schon gut, beruhige dich wieder!« …

Jimmy und seine Schwester Anita stritten wieder einmal miteinander. Eigentlich nur um eine Kleinigkeit: Nämlich um die Sonnenbrille von Anita, die Jimmy sich von ihr ausgeliehen und auf dem Gipfel liegen gelassen hatte. Doch Anita konnte darüber nicht hinwegsehen und bestand darauf, ihre Sonnenbrille wieder zu bekommen. Jimmy jedoch hatte keine Lust, alleine noch einmal auf den Berg zu gehen. Deshalb musste Anita mit. Da half auch kein Betteln und kein Jammern.

Jimmy wäre nicht ohne eine zweite Person auf den Berg hinauf. Zu Anitas Pech war auch niemand außer Großvater im Hause, und für ihn war der Weg zu beschwerlich. So blieb ihr nichts anderes übrig, und so stolzierte sie mit. Was sie aber absolut störte, war, dass sie den Rucksack tragen musste. »Nur, so sind sie halt, die Männer, haben kein Erbarmen mit den Frauen«, kam es ihr in den Sinn.

Schon nach kurzer Zeit war es Anita zuviel und sie machte Pause. Jimmy hatte nichts dagegen, und sie teilten sich ihre mitgebrachten Wurstbrote. Von der Limo ließen sie aber noch etwas übrig, denn Durst hat man auch bei der nächsten Rast. Die beiden hatten noch keine Ahnung, dass ihr Fußmarsch länger dauern würde…

»Ein Glück, dass wir schönes Wetter haben, sonst wäre es hier sicherlich saublöd zu gehen«, meinte Anita. »Der schmale Weg da vorne…«

» Fang’ ja nicht an, geschwollen daherzureden, ich weiß genau, dass du das nur deshalb sagst, weil du nicht hinauf willst!« schnitt ihr Jimmy sofort den hinterlistigen Gedanken ab.

»Phhhhh, du willst doch nur, dass ich mitgehe, weil du alleine Schiss hast, oder?«

Darauf drehte sich Jimmy weg von seiner Schwester und machte ein Schmollmaul: »Blöde, hochnäsige Prinzessin!« fauchte er ihr nach und zog sich dabei seine Kapuze über den Kopf, denn ein leichter Wind zog ihm übers Gesicht.

Auch Anita setzte sich ihre dunkle Wollmütze auf. Verbissen gingen die zwei weiter, als plötzlich ein heftiger Windstoß kam und Anita ihre Mütze vom Kopf blies.

»Hehhh, meine Haube, ich krieg sie nicht mehr. Verdammt, jetzt ist die auch noch weg«, fluchte Anita. »Alles deine Schuld, Jimmy! Aber eins sag ich dir: Ich gehe nicht ohne meine Mütze weiter, das ist mir viel zu kalt! Du kannst allein meine Brille holen! Ich bleibe hier! In dieser Höhle warte ich auf dich, bist du wieder herunter gekrochen kommst«, schrie Anita ihrem Bruder ins Gesicht.

»Na gut, ich brauche dich nicht, denn Angsthasen vergeuden sowieso nur die Zeit! Weißt du nicht mehr, wie wir bei Onkel Fre…?«

»Ach, halt doch die Klappe und hole mir meine Brille«, schnitt sie ihm den Satz ab.

»Dann gib mir den Rucksack. Den nehme nämlich ich mit, dass das klar ist, Schwesterherz!« knurrte Jimmy seiner Schwester ins Gesicht.

Doch als er die Höhle verlassen wollte, da pfiff ihm der Wind nur so um die Ohren, dass es ihn fast verblasen hätte. Aber es war ihm anscheinend egal, er ging einfach weiter, als ob es ihm überhaupt nichts ausmachen würde.

Das hätte er lieber bleiben lassen sollen, denn bei der nächsten Wegbiegung legte der Wind noch einen Zahn zu. Mit zusammengepressten Zähnen und schützend den Arm vor dem Kopf, kämpfte er sich weiter. Doch lange hielt er es nicht mehr durch, und seine Füße versagten ihm den Dienst. Mit einem schmerzerfüllten Schrei stürzte er zu Boden, wo er keuchend liegen blieb.

Der Rucksack schien ihn fast zu erdrücken, und er versuchte unter großen Anstrengungen, wieder aufzustehen, jedoch fehlte die Kraft in seinen Beinen, und er sank wieder nieder. Vor lauter Angst und Verzweiflung begann er zu weinen. Seine Arme und Beine zitterten vor Kälte. Er wusste, dass er wieder hinunter in die Höhle musste, sonst würde er erfrieren.

Abermals nahm er alle Kraft zusammen und versuchte aufzustehen. Es gelang ihm jedoch nicht. Voller Verzweiflung schluchzte er: »Hilfe, hilfe, so hilft mir doch jemand!«

Seine Rufe schluckte jedoch der Wind, der auch jede Antwort fern ließ. Kraftlos schob er sich auf dem Bauch wieder hinunter. Aber er kam nicht weit, schon bald taten seine Hände weh und seine Kleider waren bereits zerrissen.

Doch der Sturm kannte keine Gnade und blies ihn beinahe über den Felsenrand in die Tiefe. Gerade noch konnte sich Jimmy mit einem schnellen Griff an einer großen hervorstehenden Baumwurzel festhalten.

Seine Schwester Anita hatte von all dem keine Ahnung. Da ihr aber auch langsam kalt wurde, beschloss sie, ihren Bruder zu suchen, denn ihre Sonnenbrille war ihr inzwischen komplett egal, und sie wollte nur noch heim, heim in das warme Haus, und sich zum Ofen setzen.

Erst als sie ihren Kopf aus der nassen Höhle streckte, bemerkte sie den immer stärker werdenden Sturm, und plötzlich schoss ihr die Angst um Jimmy in den Kopf. Es gab ihr einen heftigen Stich in den Bauch, und der Schweiß begann, ihr über den Rücken zu laufen. Mit glasigen Augen starrte sie auf den schmalen, krummen Weg, wo rechts davon nichts lag. Sie wollte gar nicht daran denken, aber es ließ sie nicht mehr los, dass ihr Bruder abgestürzt sein könnte.

Sie machte sich plötzlich große Vorwürfe, denn nur wegen ihrer blöden Sonnenbrille waren sie nochmals auf den Berg gegangen.

Mittlerweile verließen Jimmy seine Kräfte endgültig. Die schon wund gewordenen Finger umklammerten unter letzten Anstrengungen die schroffe Baumwurzel. Der wild um ihn tobende Sturm drohte, ihn in die Tiefe zu reißen.

Aus Leibeskräften schrie er noch einmal »Hilfe, Hilfe!«

Der tobende Sturm trug die Schreie diesmal zu seiner verzweifelten Schwester Anita.

»Jimmy, wo bist du, Jimmy, ich komme!« Jetzt konnte Anita nichts mehr zurückhalten. Ihre Angst und Verzweiflung trieben sie zur größten Eile an. Immer wieder wurde sie von den heftigen Windstößen zurückgeschleudert. Doch wacker kämpfte sie sich vorwärts.

Zutiefst erschrocken, erblickte sie Jimmys roten Haarschopf zwischen den Baumwurzeln vor dem Abgrund. Anita schrie: »Jimmy warte, ich komme, halte dich fest!«

Sie ergriff Jimmys halbgefrorenes Handgelenk und zerrte ihn mit aller Kraft nach oben. Dort angelangt, lag er auf dem Rücken und rührte sich nicht. Geistesgegenwärtig griff sie in Jimmys rechte Hosentasche und zog sein Handy heraus. Mit zitternden Fingern wählte sie die Notrufnummer und teilte die schreckliche Lage mit.

Wenige Minuten später traf der Rettungshubschrauber ein. Zwei Rettungsmänner wurden abgeseilt und bargen die zwei Kinder. Mit leichter Unterkühlung und einigen Verletzungen wurde Jimmy in das Krankenhaus eingeliefert.

Nach wenigen Wochen war er topfit und erzählte gemeinsam mit Anita von dem gemeinsamen Erlebnis.