Claudia Reithmayer (13)

Freiheit!

Erschüttert kniete ich mich neben meine Mutter, die unbeweglich in einer Blutlache lag. Sofort suchte ich mit zitternden Fingern ihren Puls, doch ohne Erfolg – sie war tot. Eine Träne nach der anderen rann über meine Wangen. Bald weinte ich so hemmungslos, dass ich nicht mehr aufhören konnte.

Plötzlich kamen die SS-Leute wieder zurück. Einer ergriff mich am Arm und zog mich mit sich. Vor dem alten Haus stieß er mich von sich. Hart schlug ich auf der gepflasterten Straße auf. Eine Frau lief schnell zu mir und half mir auf die Beine. Flink verschwand sie mit mir wieder in dem Haufen der anderen Juden. Während wir zusammengedrängt um unser Leben bangten, liefen Soldaten in das Haus und zerschossen alles – und wenn ich alles sage, dann meine ich alles: Wände, Betten, Kästen, Fußböden, Decken, Fenster und noch vieles mehr, das konnte ich durch die zerbrochenen Fensterscheiben hindurch sehen. Mit jedem Schuss aus ihren tödlichen Maschinengewehren bekamen wir mehr Angst. Nachdem alles zerrstört war, trieben sie uns wie eine Schafherde zu einem Zug, der uns wegbringen sollte.

Dicht gedrängt wurden wir in einem Waggon untergebracht. Es kostete mich sehr viel Mühe, einen geeigneten Platz zu finden, doch mit Glück schaffte ich es, in eine Ecke zu gelangen. Ängstlich kauerte ich mich hin und begann bitterlich zu weinen. Was war nur passiert? Noch vor einigen Monaten war das »einzige« Problem, das meine Familie und ich hatten, genug zu essen zu bekommen. Was war nur geschehen? Warum holten die Soldaten uns Juden ab und wo brachten sie uns hin? Was hatten wir getan? Was hatte ich getan? Warum hatten die Soldaten meine Mutter vor meinen Augen erschossen? Was hatte sie getan? Dies alles verstand ich nicht. Momentan war ich auch nicht in der Verfassung, darüber nachzudenken. Wahrscheinlich würde ich es sowieso nie begreifen.

Nach einer langen Fahrt mit dem Zug wurden wir aus dem Waggon gestoßen. Die Reise ging auf der Ladefläche von Lastwägen weiter, auf denen wir zusammengepfercht untergebracht waren. Wir durchquerten einen dichten Wald und kamen schließlich auf eine freie, schneebedeckte Wiesenfläche in deren Mitte das Lager gebaut worden war. Nach dieser holprigen Fahrt öffneten sich vor uns die Tore des Konzentrationslagers Bergen-Beisen, wie es später genannt werden sollte. Über ihnen hingen verrostete Buchstaben, die die Wörter »Arbeit macht frei« bildeten.

Nachdem wir durch das Tor waren, befahl uns ein Mann in Uniform, dass die Männer nach rechts und Frauen und Kinder nach links gehen sollten. Also stellte ich mich auf die linke Seite. Von dort aus sah ich mich ein bisschen um. Ein Stückchen entfernt befand sich ein Meer aus gemauerten Gebäuden, die grau, wie dieser Wintertag, in der Gegend standen. Rundherum begrenzte eine Mauer, auf der Stacheldraht befestigt war, das Lager.

Kurz darauf führte uns ein anderer Soldat zu einer Halle. Doch bevor wir sie betraten, sortierte uns der SS-Mann aus. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen und dann deutete der Mann mit seiner Hand entweder nach links oder nach rechts. Keiner von uns wusste damals, dass er in diesen Sekunden über unser Leben entschied. Als ich an der Reihe war bewegte der Soldat seine Hand nach links. Also begab ich mich zu den anderen, die nach links geschickt worden waren. Erst später erfuhr ich, dass die Juden auf der rechten Seite direkt in die Gaskammer geführt worden waren. Dort hatten sie ihr grausames Ende gefunden.

Wir hingegen mussten uns ausziehen und duschen. Danach wurden einigen von uns die Haare abgeschoren und dann wurde uns je eine Nummer auf den rechten Arm tätowiert. Anschließend führte uns der Mann zu einer großen Halle. Dort mussten wir uns umziehen. Unsere alten Kleider wurden durch noch schäbigere Arbeitskleidung ersetzt. Jedem Gefangenen wurde ein Bett zugeteilt, in dem er mit vier weiteren Menschen liegen sollte. Da es draußen schon stockfinster war, befahl man uns, dass wir jetzt schlafen sollten.

Doch lange blieben wir nicht ungestört. Bald darauf kam ein mir fremder SS-Mann und drehte das Licht auf. Er begann jedem gefangenen Juden die Decke wegzuziehen. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf. Schließlich war er bei mir angelangt. Grob zog er mir die Decke weg, die ich mir ängstlich bis über den Kopf gezogen hatte. Mich sah er länger an als die anderen und nach einiger Zeit nickte er ganz zufrieden. »Komm mit!« verlangte er schroff und zog mich aus meinem Bett. Danach zerrte er mich hinter sich her. Beim Verlassen des Raumes drehte der Soldat das Licht wieder ab.

Der Grobian blieb erst stehen, als wir einen anderen Saal betreten hatten. Da er keine Lampe einschaltete, konnte ich nur durch das spärliche Licht des Mondes erkennen, dass sich hier viele Duschen befanden. Der Soldat stieß mich zu Boden und schlug mich. Aggressiv riss er mir die Kleider vom Leib, während er mich weiter verprügelte. Diesem Perversling machte es anscheinend Spaß, wenn ich litt. Schließlich machte er seine Hose auf, drang in mich ein und stieß so fest zu, als ob er einen vollbeladenen Güterwaggon bewegen wollte.

Als er fertig war, ließ er mich einfach heulend und blutend am Boden liegen. Wobei ich sagen muss, dass ich noch Glück hatte, lebend davongekommen zu sein. Dieses geringe Glück ließ mich auch weiterhin nicht im Stich, denn ein Soldat, der gerade Wachdienst hatte, entdeckte mich. Rasch eilte er herbei und sah mich an. Aus meinen glasigen Augen sah ich zu ihm auf und als ich in seine warmen Augen schaute, hörte ich auf zu weinen. Plötzlich fühlte ich mich sicher. »Los, hier rein!«, ertönte eine barsche Mannerstimme. Schnell wickelte mich der freundliche Soldat in eine Decke und trug mich weg. Während wir durch die dunkle Nacht liefen, hörte ich die entsetzlichen Schreie meiner sterbenden Mitleidenden. War schon wieder ein neuer Schub Juden aus dem Weg geräumt worden? Wahrscheinlich. Ich wäre wohl auch gestorben, wenn mich dieser Mann nicht gefunden hätte.

Mein Retter brachte mich in ein kleines, warmes Zimmer und legte mich dort auf ein weiches Bett. »Gleich bin ich wieder zurück«, meinte er, während er mich sanft zudeckte. Kurz darauf kam er wieder und reichte mir ein Häferl. Es war gefüllt mit heißem Tee. Wir, die Gefangenen, bekamen nicht viel zu essen und schon gar keinen Tee, also war ich besonders erfreut darüber. Nachdem ich ihn ausgetrunken hatte, verarztete der Soldat meine Wunden.

»Komischerweise habe ich das Gefühl, dass wir um schon ewig kennen. Du nicht auch?« fragte er.

»Ist das der Grund, warum Sie mir helfen?« antwortete ich zaghaft mit einer Gegenfrage.

»Einer von vielen«, meinte er knapp. Interessiert schaute ich meinen Helfer an: »Was sind denn die anderen Gründe?« Da begann er bereitwillig zu erzählen: »Einer ist, dass du viel zu hübsch bist, um zu sterben. Ein anderer ist, dass meine kleine Schwester vor drei Jahren ebenfalls vergewaltigt worden ist, mit dem Unterschied, dass sie danach auch umgebracht wurde. Sie wäre jetzt zehn Jahre alt. Du erinnerst mich irgendwie an sie und ich wollte nicht, dass sich der Vorfall wiederholt.«

Nach kurzem Schweigen meinte ich: »Du musst sie wohl sehr geliebt haben.« Mein Retter nickte traurig.

Nun war er mit dem Verbinden meiner Wunden fertig und reichte mir frische Häftlingskleidung. Sie war zwar genauso schäbig wie die andere, aber sie war wenigstens nicht zerrissen. Danach setzte er sich auf die Bettkante, deckte mich zu und sah mir zärtlich in die Augen. »Wie heißt du eigentlich?« wollte er wissen.

»Sarah und Sie ?« antwortete ich neugierig.

»Franz. Wie alt bist du?« war die nächste Frage.

»15 Jahre bin ich alt. – Warum trägt ein so netter, zärtlicher und hilfsbereiter Mensch das Hakenkreuz am Arm?« fragte ich schließlich. Doch anstatt mir eine Antwort zu geben, stand er auf und meinte in einem unfreundlicheren Ton: »Schlaf jetzt. Morgen früh musst du wieder zurück in euren Schlafsaal. Erzähle aber bitte niemandem von mir. Ist das klar?« Verstört nickte ich. »Gut, dann gute Nacht!« grüßte er noch, bevor er das Zimmer verließ. Nachdenklich lag ich in dem weichen Bett. Was hatte ich falsch gemacht? An diesem einen Tag war so viel passiert, daher war ich ungeheuer müde und schlief bald ein.

Am nächsten Morgen weckte mich Franz und brachte mich schnell hinaus. In der Masse der vorbeimaschierenden Gefangenen tauchte ich dann rasch unter. Auf einem großen, verschneiten Platz blieben wir stehen und ein Offizier teilte die Arbeiten willkürlich auf. Eine Gruppe Andersgläubiger, für die es nichts mehr zu tun gab, erschoss er einfach. Der Teil der Juden, bei dem ich mich befand, wurde dazu bestimmt, im »Duschraum aufzuräumen«. Wahrscheinlich war das eine der schlimmsten Arbeiten, denn sie bedeutete, dass man die ermordeten Juden aus den Gaskammern holte und sie in eine Grube warf. Jüdische Männer mussten die Toten natürlich vorher entkeilen, denn die Verstorbenen lagen nicht nebeneinander, sondern ineinander verhakt. Wir hatten die Aufgabe, sie dann wegzuschleppen.

Es war verboten, ein Begräbnis für die Opfer zu arrangieren. Doch ein Rabbi achtete nicht auf dieses Verbot und sprach ein Totengebet neben der Grube. Dies hörte ein Soldat und sogleich ertönte ein Schuss aus seiner Pistole. Für einen Moment war es totenstill im Lager. Erschrockene Gesichter wandten sich dem Geistlichen zu. Die Kugel hatte ihn mitten in sein gutes Herz getroffen und er fiel direkt in die Leichengrube. »Nun kann er sich selbst ein Totengebet sprechen!« rief der Mörder und ein herzloses Lachen erschall. Wie ein Lauffeuer breitete es sich aus und bald lachten die anderen Soldaten mit ihm.

Ich stand am Rand der Grube und blickte hinein. Eine Träne rann meine Wange hinunter und ich unterdrückte ein Schluchzen. Nachdem das grausame Gelächter verstummt war, erklang eine barsche Stimme: »Wollt ihr nicht weiterarbeiten? Was gibt’s denn da zu glotzen?« Kurz darauf schoss der Soldat in die Luft und als ob wir aus einem Tiefschlaf erwacht wären, arbeiteten wir geschäftig weiter.

Doch seit diesem Ereignis ließ mich ein Gedanke nicht mehr los: Ich wollte hier heraus. Alles war besser, als hier herinnen gefangen zu sein, wo man die ganze Zeit befürchten muss, dass ein SS-Mann hinter einem stand und einen einfach so erschoss, nur weil man ein falsches Wort ausgesprochen hatte oder bei einer bestimmten Gruppe Juden stand. Ich wollte hier heraus in die Freiheit. Ich wollte nur frei sein.

Andere hatten dieselbe Idee. Bald darauf lauschte ich einem Gespräch zwischen zwei Männern, in dem es um die Flucht aus diesem KZ ging. Sofort bot ich ihnen meine Hilfe an. Als Gegenleistung mussten sie mich mitnehmen. Ein Handschlag besiegelte unsere Abmachung.

Einige Wochen später war der Fluchtplan beinahe ganz ausgeführt. Wir hatten ein Loch in der Mauer unserer Schlafhalle entdeckt. Es war gerade so groß, dass wir mit Mühe und Not hinauskriechen konnten. Außerdem hatte ich einen Soldaten bezirzt, um an den Schlüssel zur Werkzeugkammer zu gelangen. Von dort hatten wir uns Zangen und Sägen geholt und den Schlüssel anschließend wieder zurückgebracht. Die anderen Mitglieder unseres Paktes hatten die Umgebung erforscht und die beste Ausbruchsstelle entdeckt. Wir hatten zwar vor, nachts zu fliehen, aber das würde nicht einfach werden, denn durch das Lager marschierten Wachsoldaten und leuchteten beim Vorbeigehen jeden Winkel ab. Dieses Problem konnte man nur schwer beseitigen.

Mitten in der Nacht schreckte ich aus einem Alptraum auf. Klar und deutlich sah ich vor meinen Augen, wie meine Mutter tot in einer Blutlache lag. Ich war schweißgebadet und hockte mich auf mein Bett. Nachdem ich mich halbwegs beruhigt hatte und mir die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, wurde mir wieder eines klar: ich muss hier heraus. Wenn ich es schaffe zu fliehen, kann ich den Mörder meiner Mutter finden und ihren Tod rächen. Dieser grausame SS-Soldat würde dafür büßen, dass er mir das angetan hatte. Ich musste nur hier heraus!

Plötzlich kam mir eine Idee, wie wir das Problem mit den Wachposten lösen könnten. Flink sprang ich auf und lief zu den Betten der beiden Männer, mit denen ich den Fluchtplan entwickelt hatte. Doch sie lagen nicht darin. Ich spürte, dass ihre Betten noch warm waren. Rasch lief ich zum kalten Fenster und blickte hinaus. Ein heftiges Schneegestöber verhinderte einen klaren Blick, aber ich konnte meine Freunde sehen, die gerade über die Mauer kletterten, den Draht oben wegschnitten und es schon beinahe geschafft hatten. Wut stieg in mir hoch. Wie konnten sie mich hier alleine verrecken lassen? Solche Lügner! Und so jemandem hatte ich geholfen! Sie hätten es auch fast geschafft zu entkommen, wenn nicht ein Schuß gefallen wäre. Ein Zweiter folgte und die beiden stürzten tot von der Mauer. Es war also ein Glück gewesen, dass sie mich nicht mitgenommen hatten. Dennoch rollten Tränen über mein Gesicht. Wieder einmal war ich knapp dem Tode entronnen. Würde ich beim nächsten Mal auch so viel Glück haben? Weinend und schluchzend vor Angst und Verzweiflung lag ich im Bett.

Einige furchtbare Wochen später, inzwischen war es Sommer geworden, schlich ich nachts umher, um einen neuen Fluchtweg zu finden. Plötzlich tauchte ein Wachsoldat auf und noch bevor ich vor ihm flüchten konnte, packte er mich am Arm und hielt mich fest. Mit ängstlichen Augen blickte ich ihn an. Der Mann holte Luft und man merkte ihm an, dass er gleich losschimpfen wollte, doch als er mir in die Augen sah, veränderten sich seine und wurden wieder so warm wie bei unserer ersten Begegnung. Es war Franz. Als ich ihn erkannte, atmete ich erleichtert auf.

»Nach dir habe ich schon lange Ausschau gehalten«, meinte er glücklich, »Komm in zwei Stunden wieder hierher, ja? Ich habe einen tollen Vorschlag für dich.« Sofort nickte ich und verschwand schnell wieder in der Schlafhalle.

Später schlich ich zu der Stelle, an der ich auf meinen Helfer gestoßen war. Dort wartete er schon. Als er mich erblickte, zog er mich zur Seite und deutete mir, still zu sein. Danach brachte mich Franz in sein Zimmer und sprach: »Hör zu, Sarah, mir ist zu Ohren gekommen, dass du an dem Fluchtversuch vor ein paar Wochen beteiligt warst. Anscheinend haben dich deine »Freunde« verraten und wollten dich nicht mitnehmen, was ja auch dein Glück war, denn sonst würdest du nicht mehr unter uns weilen…«

»Und was macht das für einen Unterschied zu meinem jetzigen Dasein? Niemand beachtet mich, ich habe keinen Freund hier und es gibt keinen anderen Fluchtweg außer über die Mauer und da wird man leicht erwischt«, unterbrach ich ihn.

»Du hast ja immer noch mich. Ich kann dir ein wirklich guter Freund sein!« versuchte mich Franz zu trösten. »Ja, klar! Jemand, der zu der Seite gehört, die mich umbringen will, ist mein Freund«, meinte ich verächtlich.

»Sag jetzt nicht, dass ich ein schlechter Helfer bin. Immerhin habe ich dir schon zwei Mal das Leben gerettet«, sagte er aufgebracht. »Du hast recht, du bist ein toller Freund und ich habe dich sehr gern«, beruhigte ich Franz.

Lächelnd fuhr er fort: »Wenn ich schon von deiner Hilfe bei dem Fluchtversuch weiß, dann wissen es die anderen schon lange. Sie werden versuchen, dich umzubringen, also musst du so schnell wie möglich hier heraus. Es gibt einen anderen Ausweg als über die Mauer – durch das Tor! … Schau mich nicht so an, als ob ich völlig übergeschnappt wäre, das könnte wirklich klappen, vertrau mir… Morgen fährt der Chef dieses KZs, Oberst Seiberl, in seiner Limousine nach Berlin, um dort irgend etwas zu regeln. Das ist deine Chance zu fliehen. Sicher, die Sicherheitsvorkehrungen sind sehr schwierig zu überwinden, aber der Zufall wollte es so, dass ich einen zuverlässigen Fahrer für seinen Wagen suchen soll und ich glaube, ich habe ihn gefunden – dich.«

Überrascht blickte ich ihn an. »Bist du verrückt, die werden mich erkennen und erschießen und dich gleich dazu! Nein, das ist viel zu gefährlich! Da mach’ ich nicht mit«, warf ich energisch ein.

»Aber das ist die einzige Möglichkeit für dich zu entwischen. Vertrau mir, du wirst das schaffen! Es sei denn – du kannst doch Auto fahren, oder?« fragte Franz unsicher.

»Naja, als ich zwölf war, hat mich mein Vater ein bisschen fahren lassen. Damals konnte ich es schon ganz gut, aber das ist schon lange her«, antwortete ich zaghaft.

Nach einer Minute, in der wir über den Plan nachgedacht hatten, besprachen wir das Ganze noch einmal und beschlossen dann, dass es einen Versuch wert wäre. Also zog ich eine Uniform von Franz an und richtete mich her, als wäre ich ein Mann – ein Soldat. Danach berührten mich die ersten Sonnenstrahlen. Nervös sah ich aus dem Fenster. Die Limousine stand schon vor dem Hauptgebäude bereit. Plötzlich knarrte die aufgehende Tür. Erschrocken drehte ich mich um. Franz sah mich aufgeregt an und ich bildete mir ein, dass ich auch Bedenken in seinen Augen sehen konnte. Taten wir das Richtige? Würde alles gut gehen? Das waren im Moment die bedeutendsten Fragen.

Zitternd stand ich an der Fahrertür der Limousine. Der Chef des KZs schritt gerade aus der Tür. Sofort grüßten ihn alle anwesenden Soldaten, die das Sicherheitsgefolge auf der Reise bilden sollten, indem sie salutierten. Dies tat ich auch, immerhin wollte ich ja kein Aufsehen erregen. Währenddessen ertönte ein allgemeines, lautes »Heil Hitler!«. Dabei bewegte ich nur meine Lippen, denn ich hasste diesen Mann. Der Chef machte einige Schritte auf mich zu, bis er direkt vor mir stand. Dann betrachtete er mich kritisch. Als er fertig war, meinte er: »Dich habe ich hier noch nie gesehen.« Franz trat zu meiner Hilfe herbei und entgegnete: »Der beste und zuverlässigste Fahrer im ganzen Lager, Soldat Peter Schulz!«

»Nun gut. Dann fahren wir los«, befahl der Oberst. Ich machte ihm die Autotüre auf und, nachdem er eingestiegen war, machte ich sie wieder zu. Danach schwang ich mich hinters Lenkrad und startete den Motor. Die anderen Soldaten, unter ihnen auch Franz, setzten sich auf ihre Motorräder und fuhren mir nach. Vor uns öffnete sich das eiserne Tor. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen ließ ich das Lager hinter mir und fuhr die holprige Straße entlang.

Nach einigen Stunden Fahrt war der Weg auf beiden Seiten von Wald umgeben. Bisher war alles gut verlaufen und der Oberst hatte keinerlei Verdacht geschöpft, doch als ich wieder einmal die Kupplung betätigte, rutschte der Ärmel meines Gewandes hinauf und die Nummer, die mir eintätowiert worden war, kam zum Vorschein. Zwar hatte ich das nur verschwommen wahrgenommen, doch Oberst Seiberl umso klarer. Ein Aufschrei seinerseits ließ mich erschrocken eine Vollbremsung machen. Verwirrt sah ich ihn an. Wütend sah er mich an und rief schockiert: »Du bist ein Jude!«

Schreckliche Angst überkam mich. Der einzige klare Gedanke, den ich fassen konnte, war, dass ich hier so schnell wie möglich heraus wollte. Rasch riss ich die Tür auf und stolperte auf die Straße. »Laufen! Schnell weglaufen!« das war alles, was ich jetzt wollte, »Nur frei sein. Nie wieder eingesperrt werden. Entkommen.« Flink rannte ich in den Wald und dann immer weiter – nur weg. Ich hörte hinter mir die Schritte meiner Verfolger. Sie waren mir dicht auf den Fersen. So schnell war ich in meinem ganzen Leben noch nicht gelaufen und nur die Angst zu sterben verlieh mir die Kraft dazu. Obwohl ich schon sehr lange nichts Ordentliches zu essen bekommen hatte, wurde ich nicht müde. Jetzt zu entkommen war meine einzige Chance zu überleben.

Doch als ich einen Moment lang nicht aufpasste, stolperte ich über eine Wurzel und fiel der Länge nach hin. Ein stechender Schmerz schoss durch mein Bein. Ich versuchte aufzustehen, doch ich schaffte es nicht. Der Boden unter mir vibrierte unter den vielen Füßen der Soldaten, die mir nachliefen. Mit letzter Kraft, die diesmal von meiner Verzweiflung kam, zog ich mich hinter einen Busch. Er war die beste Deckung, die ich so schnell finden konnte. Dann kamen die Soldaten. Es kam mir vor, als ob eine ganze Armee hinter mir her wäre. Keiner achtete auf den Busch, hinter dem ich mich versteckte. Als ich glaubte, dass alle vorübergelaufen waren, sah ich ein Stückchen hervor. Doch da war noch ein Soldat.

Plötzlich blieb er stehen und blickte in meine Richtung. Als er sicher war, dass sich jemand hinter dem Busch versteckte, lief er auf mich zu. Mein Herz raste wie verrückt und ich war unfähig, mich zu bewegen. Schnell schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel, in der Hoffnung, dass noch ein Wunder geschah und der SS-Mann das Interesse an mir verlieren würde. Doch der Mann ging weiter auf mich zu, den Blick starr auf den Busch gerichtet.

Erst als er nach meiner zitternden Hand griff, erkannte ich Franz, der mich sofort beschwichtigte: »Beruhige dich! Es wird alles gut. Ich werde dich jetzt auf diesen Baum heben. Keiner wird erwarten, dass du auf so einen hohen Baum klettern konntest, doch den Busch werden sie durchsuchen, wenn sie zurückkommen – und sie werden zurückkommen. Hier, nimm diese Kette. Ich habe sie immer bei mir getragen und sie hat mir Glück gebracht. Nun soll sie dir welches schenken. Pass gut darauf auf und wenn du zum Hamburger Hafen kommst, dann frage nach einem Heinrich Schneider. Er ist mir noch einen Gefallen schuldig und wird dir helfen, aus Deutschland zu entkommen. Zeige ihm diese Kette und er wird dir Glauben schenken. Viel Glück!« Mit diesen Worten half er mir auf die Beine, mein Fuß tat gar nicht mehr so schrecklich weh. Nachdem wir uns lange umarmt hatten, hob er mich auf den Baum. Rasch versteckte ich mich in dem Geäst der Buche zwischen den zahlreichen grünen Blättern. Franz kontrollierte noch, ob man mich auch wirklich nicht sah. Danach verabschiedete er sich von mir und lief weiter.

Ein kleiner Vogel setzte sich auf einen Ast, der gar nicht weit entfernt von mir im Wind schaukelte, und sang mir ein tröstendes Lied vor. Als die Soldaten wiederkamen, begann ich so stark zu zittern, dass sich der ganze Ast stark bewegte. Dies sah einer der Männer und schoss willkürlich in das Geäst. Die lauten Knalle des Maschinengewehrs bewirkten, dass ich mich fest an den Stamm klammerte. Plötzlich verstummte der Lärm. Auch der Vogel sang nicht mehr. Er war tot vom Ast gefallen. »Jetzt schießt du schon die Spatzen vom Dach!« meinte ein anderer Soldat lachend. Damit würde er seinen Kameraden noch lange aufziehen. Nun glaubten die beiden Gott sei Dank, dass der Vogel den Ast bewegt hatte und schossen nicht mehr auf den Baum. Der Vogel hatte mich gerettet. Das Tier war für mich gestorben.

Kurz darauf schnappte ich ein paar Wortfetzen aus einem Gespräch zwischen zwei Soldaten auf, die gerade an dem Baum vorbei maschierten: »Franz wird-dafür büßen, dass der Gefangene geflohen ist… wahrscheinlich erschossen.«

Erschrocken versuchte ich, die beiden auch weiterhin zu verstehen, doch sie waren bereits zu weit weg. Nervös spielte ich mich mit der goldenen Kette, die mir Franz gegeben hatte. Dabei fiel mir der Änhänger auf, der sie schmückte. Es war ein goldenes Medaillon, in dessen Vorderseite eine Rose eingeritzt war. Neugierig machte ich es auf und entdeckte zwei Fotos in ihm. Eines zeigte ein Mädchen und einen Jungen, die fröhlich miteinander spielten. Der Junge hatte Ähnlichkeit mit Franz und das Mädchen könnte seine Schwester sein. Das andere Bild zeigte ein junges Ehepaar. Die beiden sahen den beiden Kindern auf dem anderen Foto ziemlich ähnlich. Ich dachte, dass es wahrscheinlich ihre Eltern waren. Franz’ Eltern.

Einige Stunden später, ich hatte schon seit geraumer Zeit keine Stimmen mehr gehört, traute ich mich, von dem Baum zu klettern, was sich als schwierig erwies. Wenigstens tat mir mein Fuß dabei nicht mehr weh. Nachdem ich es geschafft hatte, blickte ich noch einmal den Anhänger der Kette, die ich nun um meinen Hals trug, an. Mit neuem Mut wanderte ich los. Ich wusste nicht, wohin ich ging und wie lange ich brauchen würde. Das einzige Ziel, das ich vor Augen hatte, war, dass ich den Hamburger Hafen ereichen, Franz’ Freund finden und entkommen musste. Das KZ Bergen-Belsen, in dem ich gefangen gehalten worden war, war zum Glück nicht weit von Hamburg entfernt. Also konnte es nicht so lange dauern, bis ich dort angelangt sein würde.

Der Wind blies mir die kühle, salzige Meeresluft entgegen. Endlich hatte ich den Hafen erreicht. Ich wusste nicht, wie lange ich gewandert war, aber eines wusste ich: Nun war ich fast am Ziel. Das Einzige, was mir jetzt noch meine Fluchtpläne durchkreuzen könnte, wäre, wenn mich die Soldaten wieder gefangennehmen oder ich Heinrich Schneider nicht finden würde. Nun irrte ich am Hamburger Hafen umher. Was sollte ich jetzt tun? Wen konnte ich nach Franz’ Freund fragen? Wer war kein Nazi?

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« riss mich eine raue Stimme aus meinen Überlegungen. »Ähm, nun ja, vielleicht«, stotterte ich herum.

»Wie denn?« wollte er wissen. Unsicher sah ich ihm in die Augen und ich entdeckte darin so eine ähnliche Wärme wie ich sie von Franz kannte. Also beschloss ich, ihn zu fragen: »Kennen sie einen gewissen Heinrich Schneider?«

»Ja, schon möglich, wieso? Wer will das überhaupt wissen?« antwortete er misstrauisch. »Ich muss unbedingt mit ihm sprechen. Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?« umging ich die Wissbegierigkeit meines Gesprächspartners.

»Sie stehen vor ihm«, meinte der Mann unwillig.

»Sie sind… ?« fragte ich ungläubig.

»Ja, nun sagen Sie schon, was Sie wollen!« unterbrach mich Heinrich.

»Also gut. Franz hat mir erzählt, dass Sie ihm einen Gefallen schulden und dass Sie mir helfen könnten, aus Deutschland zu fliehen«, erklärte ich ihm. Misstrauisch schüttelte er den Kopf. »Woher weiß ich, dass Sie mich nicht anlügen?«

Schnell holte ich das Medaillon hervor und zeigte es Heinrich. Zufrieden lächelte er mich an.

»Der gute alte Franz. Ich habe vorgestern ein Telegramm von ihm erhalten, in dem stand, dass Sie mich suchen würden, wie Sie aussahen und was Sie wollten. Deshalb habe ich Sie ja jetzt auch angesprochen. Klar werde ich Ihnen helfen. Sehen Sie das große Frachtschiff dort drüben? Mein Freund arbeitet auf diesem Frachter und ich könnte Sie dort einschleusen«, meinte mein Gesprächspartner, während er auf ein Schiff zeigte.

»Einverstanden«, willigte ich ein, »Aber wohin fährt es eigentlich?«

»Nach Amerika. Dort können Sie dann ein neues Leben beginnen«, beantwortete er meine letzte Frage. »Ist das recht so?«

Sofort nickte ich zustimmend.

Nun stand ich am Bug des auslaufenden Schiffes. Der Wind blies mir durch die Haare und ich fühlte mich endlich frei. Langsam streckte ich meine Arme zur Seite, als wollte ich gleich abheben und vor Glück herumfliegen. Ich war glücklich. Endlich war ich wirklich frei. Bis jetzt kannte ich kein schöneres Gefühl als Freiheit. Hier zu sterben wäre nicht so schlimm, wie in der Gaskammer mein Leben zu lassen. Immerhin war ich jetzt frei!

So lange hatte ich darauf gewartet und nun war mein größter Wunsch in Erfüllung gegangen. Selbst wenn das Schiff jetzt untergehen oder ich wieder gefangen genommen werden würde, wäre das nicht mehr so schlimm für mich, denn ich hatte mein Ziel erreicht – die Freiheit.

Plötzlich fiel mir ein Gefühl ein, das noch viel stärker war als das der Freiheit: das, was ich für Franz empfand – Liebe. Traurigkeit befiel mich. Eine Träne lief meine Wange hinunter. Wahrscheinlich würde ich ihn nie wieder sehen. Hatten ihn die anderen Soldaten erschossen, oder gar der Oberst selbst? War er tot? Oder war er entkommen? »Diese Fragen werde ich nie beantworten können«, dachte ich bestürzt.

Plötzlich riss mich eine sanfte, fröhliche Stimme aus meinen Gedanken: »Hier bist du ja, Sarah, ich dachte schon, ich würde dich nie finden!« Erschrocken drehte ich mich um und blickte in das lachende Gesicht von Franz. »Du lebst!« rief ich glücklich, während ich auf ihn zulief und mich in seine Arme fallen ließ.

»Ja, ich konnte ihnen gerade noch entkommen, sonst hätte ich dich nie wieder gesehen. Meine ‚Kameraden‘ wollten mich am liebsten gleich erschießen. Da haben wir zwei noch mal Glück gehabt, was?« Fest schmiegte ich mich an den starken Körper meines Retters und eine Freudenträne machte sich auf die Reise über meine Wange. Ich nickte nur leicht. Zu mehr war ich momentan nicht im Stande.

Nachdem ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte, sahen wir uns in die Augen. »Ich muss dir unbedingt etwas sagen«, begann Franz und schluckte, »ich liebe dich.«

Glücklich strahlte ich ihn an und bestätigte: »Ich liebe dich auch.«

Sanft zog er mich an sich und wir küssten uns zärtlich.

Eine Stunde später standen wir gemeinsam am Bug des Frachters, betrachteten das weite Meer, das sich vor uns erstreckte und ließen uns den Wind um die Nase wehen. Dabei wurde mir eines klar: Es hatte keinen Sinn, den Tod meiner Mutter zu rächen. Das würde sie auch nicht mehr lebendig machen. Ich musste etwas Besonderes machen. Etwas, wodurch sie stolz auf mich wäre. Auch wenn sie es nicht mehr miterleben würde. Was das war, wusste ich noch nicht, aber ich würde es schaffen.

Noch bevor ich über Franz nachgedacht hatte, hatte ich nicht geglaubt, dass sich mein Glücksgefühl noch steigern könnte, doch durch die Liebe zwischen ihm und mir ging das. Noch nie in meinem Leben war ich so glücklich und zufrieden gewesen. Mein Freund und ich standen Arm in Arm an der vordersten Spitze des Frachters und wir fühlten uns endlich frei!