Vera Reisner (12)

Robin Hood – solange es noch Unrecht gibt!

»BIBLIO HEK« stand in rostigen goldenen Buchstaben über einem riesigen hölzernen Tor, das aussah, als hätte es schon beide Weltkriege miterlebt. Das »T«, das in der Mitte fehlte, war wohl mit der Zeit abgefallen. Das riesige Gebäude stand mitten in einem noch größeren Garten, wo die Hecken verwuchert aussahen und überall Brennnessel wuchsen, die mir sogar über dir Hüften reichten. Überall zirpte es. Meine Großmutter würde sagen: »Da spielen gerade die Elfen auf ihren Geigen.«

Die Vorstellung über Geige spielende Elfen faszinierte mich schon ewig. Damals erzählte mir meine Großmutter viele fantasievolle Geschichten. Einmal fragte ich sie, wem sie die Geschichten erzählen würde, wenn sie tot sei, und sie sagte: »Dem lieben Gott und seinen Engeln.« Wahrscheinlich tat sie das gerade, denn sie starb vor kurzem.

Nach ihrer Beerdigung zogen wir in die Stadt. Viele neue Orte, neue Menschen und eine neue Bibliothek. Da ich als Kind einen echte Leseratte war, führte mich mein erster Weg zur Stadtbücherei. Doch anscheinend pflegten die anderen Stadtbewohner nicht, in die Bibliothek zu gehen und sich alten Büchern zu widmen, denn, wie es aussah, war schon seit Jahrzehnten niemand mehr hier gewesen.

Gerade ging ich auf das große morsche Tor zu, als plötzlich eine dunkle Gestalt die Tür aufstieß und hinauslief. Ich konnte erkennen, dass es ein großer schlaksiger Mann war, der in mittelalterlichem Kostüm an mir vorbei lief und mich dabei fast umrannte.

»Sind Sie noch bei Trost, Sie mittelalterlicher Irrer?!« rief ich ihm wütend nach, doch er hörte mich nicht.

Nun stieß noch jemand die Tür auf und stürmte heraus, dem Irren hinterher.

»In der Stadt sind alle verrückt!« dachte ich und sah den beiden kopfschüttelnd nach. Doch erst jetzt fiel mir auf, wie seltsam auch der zweite Mann gekleidet war. Er trug einen langen Umhang und einen spitzen Hut. Er sah aus wie ein Zauberer.

Plötzlich drehte sich der erste Mann auf einmal um und zielte mit Pfeil und Bogen auf den »Zauberer«. Mir blieb das Herz stehen. Der Pfeil sauste an mir vorbei und schnellte mitten in das Herz eines kleinen Gartenzwerges.

Ich atmete auf. Der zweite Mann war verschont. Dieser lief nun auf den ersten Mann zu und keifte ihn an: »Robin Hood, du kommst jetzt auf der Stelle zurück in dein Buch!«

»Nein! Nie wieder will ich in diesen Groschenroman zurück, Ikarus!« protestierte der Mann, der mit »Robin Hood« angesprochen wurde.

»Na gut, du lässt mir keine andere Wahl!« schrie Ikarus zurück. Er holte einen Wälzer aus seinem Umhang und tippte mit einem Zauberstab dreimal darauf.

Was nun geschah, war fantastisch. Ein Wirbelsturm erhob sich aus dem Buch, hob Robin Hood in die Lüfte und schleuderte ihn ins Buch. Doch Robin prallte nicht dagegen, nein er war im Buch verschwunden.

Ikarus hob den Roman auf und murmelte, während er das Buch zurück trug: »Sagenhelden müssen immer so stur sein!«

Während des ganzen Spektakels hatte mich keiner bemerkt, und so lief ich Ikarus hinterher in die Bibliothek.

Als wir das Gebäude betraten, wo hunderte riesige Bücherregale aneinander gereiht waren, raunte Ikarus mich an: »Haben sie einen Bibliotheksausweis?« Er stellte das Buch ins Regal und wandte sich einfach von mir ab.

Als er gegangen war, betrachtete ich das Buch und las als die Überschrift: »Robin Hood – solange es Unrecht gibt«. Dieses Buch hätte meiner Oma gefallen, denn sie sagte, als Kind wäre sie in Robin Hood verliebt gewesen. Ich musste lachen.

Ich öffnete das Buch, und plötzlich wurde ich in eine andere Welt katapultiert. »Von wegen ‚Robin Hood – solange es Unrecht gibt‘ – ich will nicht mehr in diesem Buch hausieren!« schluchzte jemand.

Ich erkannte die Stimme sofort. Es war Robin Hood, der gegen seinen Willen vom Buch verschlungen worden war.

Auf einmal hüpfte ein kleiner Mann heran, der alle Anweisungen gab, so etwas wie ein Regisseur. Er quietschte: »Schnell, Leute, da ist ein neuer Leser, der unterhalten werden will!«

Alle standen muffelig auf. Der kleinen Regisseur stellte sich auf eine Holzkiste, um größer zu wirken. »Wir beginnen mit Szene 38: Die dramatische Entführung der Prinzessin!«

Kaum hatte er das gesagt, kam ein schwarzer Ritter angeritten, und in seiner Gewalt war eine liebliche, unschuldige Prinzessin, die unbekümmert vor sich hinmurmelte: »Hilfe, Hilfe, Robin Hood, rette mich… ach, ewig dieser blöde Text, das nervt mich…«

»AYAYAYAYAYAYAAAAAH!« schrie Robin Hood und schwang sich an einer Liane. »Yea, ich wollte schon immer mal Tarzan sein! Robin Hood – solange es noch Unrecht gibt!« triumphierte er. Es war der volle Triumph, doch plötzlich knallte er gegen einen Baum und rutschte matt hinunter wie eine zusammengeschlagene Fliege.

Mit letzter Kraft nahm er Pfeil und Bogen und sprach: »Ich schieße diesen Pfeil, und dort, wo er landet, dort möget ihr mich begraben.«

»Ja! Das ist der perfekte Schluss für unsere heiße Story! Endlich ist die Geschichte ‚Robin Hood – solange es noch Unrecht gibt‘ fertig!« rief der Zwergen-Regisseur und riss mir das Robin-Hood-Buch aus der Hand und schlug die letzte Seite auf, auf der noch ein unvollendeter Schluss war, und er kritzelte dazu:

Als die liebliche Prinzessin Anne vom schwarzen Ritter entführt wurde, dachte Robin Hood, er könnte sie retten, indem er sich als Tarzan ausgab.
So schwang er sich dann auf einer Liane, um sie zu retten, doch der Versuch scheiterte.
Denn er knallte gegen einen Baum und rutschte matt herunter, wie eine brutal zusammengeschlagene Fliege.
Mit letzter Kraft nahm er Pfeil und Bogen und sprach: »Ich schieße diesen Pfeil, und dort, wo er landet, möget ihr mich begraben.«

ENDE

»Welch tragisches Ende«, schluchzte Little John und schnäuzte sich heftig.

Sie begruben Robin Hood dort, wo der Pfeil landete. Da der echte Robin Hood nun tot war, brauchten sie einen neuen. Ich war nun der Robin Hood Junior. Nun stand ein neues Buch in der Bibliothek: Die Abenteuer des Robin Hood Junior.