Vera Reisner (12)
Der Wunsch
Die Bäume bogen sich im Wind und ächzten und stöhnten. Der Wind pfiff durchs Land und ließ alle erschaudern, die an diesem kalten und frostigen Tag nicht vor ihrem Kamin saßen und sich die Hände wärmten. Einsam stand eine prächtige Burg auf einem felsigen Berg.
Vom Feuer des knisternden Kamins strahlte das Licht ins Freie. Im Inneren des gewaltigen Bauwerks feierte man fröhlich und ausgelassen. Alle Adeligen und wichtigen Personen traken, aßen und amüsierten sich. Sie schauten Akrobaten und Artisten zu und lauschten den Musikern, die auf der Laute spielten, doch keiner mehrte, was im anderen Teil der Burg vor sich ging.
Im hinteren Teil des Bauwerkes wurde sachte und leise die alte Klinke einer Tür herunter gedrückt. Knarrend wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. Ein scheues Auge voller Furcht und Angst blickte heraus. Ängstlich schaute es sich um. Sein Blick gleitete durch die Gegend, von Baum zu Baum. Nun schaute ein ganzer Kopf heraus.
Es war Eduard, ein Gefangener der Burg, der schon seit drei Jahren eingesperrt gewesen war. Wie hatte er es geschafft, sich aus dem Kerker zu befreien?
Rasch drehte er sich um. Vielleicht standen die Wachen schon hinter ihm? Er blickte ins tiefe Schwarz der Burgkammern. Der muffige Gestank der Zellen überflutete ihn. Nie wieder wollte er so etwas riechen. Nun wollte er, koste es, was es wolle, bis zu seinem Tode die Luft der Freiheit schnappen. Er kniff die Augen zusammen. Zwei Blitze zuckten durch den Himmel. Gespenstisch erhellten sie die steinalten Birken vor der Burg. Es dämmerte und die Donner rollten krachend durch den Himmel. Wie ein kleines Flämmchen im Wind flackerte das Licht der Blitze in Eduards Gesicht.
Konnte er dies durchstehen? Bittere Angst eiste Eudaurds Herz ein und die Furcht und Kälte breitete sich auf seinem ganzen Körper aus und ließ seine Glieder erstarren. Er war kaum fähig, sich irgendwie zu bewegen. An seinen Wimpern hingen schwere Regentropfen und an seiner Nase tropfte es herunter. Sein Haar hing klebend und schlaff an seinem Kopf.
Nun trat er ganz aus der Tür. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken und ließ seinen ganzen Körper erzittern. Eisige, schwere Regentropfen filen in den Kragen seiner Lumpen und rannen kalt über seinen Rücken. Er schlich weiter zum Stall. Er wollte ein Pferd stehlen und sich damit davon machen.
Leise ging er in den Stall. Die Tiere waren sehr aufgeregt wegen des Unwetters, wieherten schrill und traten nervös gegen die Türen der Boxen. Da sah er Ildiko. Er kannte den Mann, der die Stute an den Burgherren verkauft hatte und wusste von ihm, dass die Stute äußerst treu und schnell war. Kurzentschlossen öffnete er ihre Türe und führte sie hinaus. Unruhig tänzelte sie umher und Eduard sah ein schelmisches und temperamentvolles Glänzen in ihren Augen.
Er öffnete die Türe zum Stall, kalter Wind schlug ihm entgegen. Die Türe klapperte hin und her und der Regen prasselte aufs Dach des Stalles. Es schüttete wie aus Kübeln. Selbstbewusst schwang er sich auf Ildiko. Hätte man ihn gesehen, man hätte ihn bewundert. Aber was blieb ihm anderes übrig? Er klammerte sich an Ildikos Mähne. Der Schlamm spritzte nach allen Seiten.
Plötzlich machte Eduard einen Ruck. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er schrie auf. Jetzt durfte Eduard bloß nicht herunterfallen, das würde Schlimmes bedeuten. Doch ihm wurde schwindlig und schlecht. Es war so, als würde sich alles drehen. Eduard wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Und dieser Schmerz, oh, dieser Schmerz. Plötzlich spürte er, wie ihm der Pferderücken entglitt. Es war wie in einer Art Alptraum. Doch nun erwachte er.
Eduard hing an Ildiko. Die eine Hand ans Halfter geklammert, die andere in der Mähne vergraben. Ein Fuß hing quer über den patschnassen Rücken des Pferdes, der andere um die Flanke geklammert. Könnte er es schaffen, sich hochzuziehen? Er spannte seine Schenkel an. Dann seine Arme. Da begann seine Wunde wieder zu brennen. Es steckte ein Pfeil in seiner rechten Schulter. Oh nein!
Eduard versuchte sich hochzuziehen. Doch es scheiterte. Seine Schulter schmerzte so sehr. »Ich muss es schaffen!« dachte er. Sonst würde er sterben, inmitten des Schlammes und nichts würde mehr an ihn erinnern.
Er ließ mit der rechten Hand das Halfter los. Nun hielt alles seine linke Hand. Mit der rechten Hand packte Eduard den Pfeil und riss ihn aus seiner Schulter. Es schmerzte höllisch. Dann schlang er den rechten Arm um den Hals des Pferdes. Euduard schnitt Ildiko fast die Luft ab. Sie ächzte und stöhnte. Mühsam zog er sich hoch. Als er sich wieder gefasst hatte, trieb Eduard Ildiko streng an. Erbarmungslos schlug er sie. Die Wachen ritten mit einem Höllentempo hinter ihm her. Ildiko wiherte schrill und begann zu buckeln, Schläge ließ sie sich nicht gefallen! »Ruhig, Mädchen«, versuchte Eduard sie zu beruhigen.
Nie wieder in einem dunklen, kalten, feuchten Verließ sein! Nie wieder gefangen sein! Nie wieder einsam und verlassen sein! Nur mehr frei sein!
Sie reasten in den Wald und ihre Verfolger waren dicht auf ihren Fersen. Die Äste der Bäume hingen herab. Sie peitschten hart gegen sein Gesicht. Regen, Schweiß, Tränen und Blut vermischten sich. Die peitschenden Äste prägten eine blutende Narbe nach der anderen.
Die zahlreichen Blätter und Äste bildeten ein Dach über dem Wald. Nur wenige Regentropfen konnten sich einen Weg durchs Blätterwerk bahnen. Seine Wunden schmerzten wie Feuer. Auch die Wahrheit schmerzte, denn plötzlich wurde ihm klar, dass er die Flucht nicht überleben würde.
Plötzlich durchbrach ein Schuss die Stille im Wald. Als ob er selber getroffen worden war, zuckte Eduard zusammen. Eine Zeit lang traute er sich nicht, nach links oder rechts zu schauen. Ildiko jaulte und quietschte schrill. Sie bremste. Eduard hörte die Wachen lachen, bald würden sie ihn haben. Ildiko wimmerte. Er klopfte mit zitternden Händen auf ihren Hals: »Weiter, Mädchen!« Alle Glieder verkrampften sich. Entsetzt starrte er Ildiko an. So viel Pech konnte nur er haben! Das musste immer nur ihm passieren, typisch!
Langsam, starr vor Schreck, hob er seine Hand. Eine rote Flüssigkeit rann um seine Finger. Dort, wo er Ildiko am Hals geklopft hatte, war eine blutende Wunde. Sie war vom Schuss getroffen worden! Sie sank in die Knie.
»Jetzt ist keine Zeit zum Rasten, komm schon!« fauchte Eduard. Wild trommelten die Regentropfen aufs Blätterdach und das Licht der Blitze zuckte durch den Walt. »He, willst du frei sein oder wieder in den kalten Stall gesteckt werden?« schrie Eduard. Ildiko hatte große Schmerzen, sie schnaufte. Eduard konnte nicht ruhig sein. Die Freiheit war so nah und doch so fern. Die Wachen waren nur mehr 50 Meter entfernt. Verzweifelt blickte Eduard sich um. In den Gesichtern seiner Verfolger sah er eub grausames Grinsen, ihre Augen leuchteten siegessicher. Gleich würden sie ihn haben!
Nein, nein, das durfte nicht wahr werden! »Verdammtes Vieh, du treuloser Gaul, laufen sollst du, so schnell wie der Wind!« schrie Eduard und Tränen der Wut und Hilflosigkeit traten in seine Augen.
Wild und wütend trommelte er mit den Fäusten auf Ildikos Nacken. »Verlogenes Vieh, herzloses Miststück«, dachte er, aber am Liebsten hätte er es in die Welt hinaus geschrien. Wie von Zauberhand stand Ildoko auf. Eduard freute sich, nun konnte es endlich weitergehen!
Der Wind ließ die Bäume tanzen. Knarrend wogen sie sich hin und her. Farbfetzen flogen an ihm vorbei.
Plötzlich wurde eine ganze Schar von Schüssen abgefeuert. Als ob das Pferd wusste, was es zu tun hatte, schleug es mehrere Haken. Mit den Füßen klammerte sich Eduard an Ildikos Flanke und die Hände vergrub er tief in ihrer patschnassen Mähne. Ihn riss es gefährlich hin und her. Irgendwann hörte der Pfeilhagel auf. Wahrscheinlich war ihnen die Munition ausgegangen.
Plötzlich breitete sich vor ihnen eine Schlucht aus. Angst, Verzweiflung und Wut stieg in Eduard hoch. Angst zu sterben, Verzweiflung beim Gedanken, wieder eingesperrt zu werden und Wut, als ob er das Schicksal dabei erwischt hatte, ungair mit falschen Karten gespielt zu haben. Er versuchte zu überlegen.
Gab es keinen anderen Ausweg? Doch sein Hirn war irgendwie zusammengekrampft. Es fühlte sich an, als wären tausend schwere Steine darin. Plötzlich merkte er, dass sein ganzer Körper verkrampft war. Der Regen schlug immer noch hart gegen ihn. Er sah nach hinten. Seine Verfolger sahen ihn so seltsam an, als ob sie erwarteten, dass er aufgab. Nein, nie würde er es wagen, er würde weiterreiten bis ans Ende der Welt.
Er musterte deren Pferde. Kräftige Beine hatten sie nicht, den Sprung über den Graben würden sie nicht meistern können. Doch würde es Ildiko schaffen? Sie lief mit kräftigen Bewegungen und trampelte alles, was sich ihr in den Weg stellte, nieder. Eduard war überzeugt davon, ja, sie hatte die Kraft dazu, dieses Wunder zu vollbringen.
Ildiko bemerkte den Graben. Sie stockte. Ihre Nüstern blähten sich und sie riss die Augen auf. Würde sie aufgeben? Langsam schritt sie vor. Sie blickte in den tiefen, schwarzen Abgrund. Dann schüttelte sie den Kopf, als ob sie sagen wollte: »Keine zehn Pferde bringen mich da drüber.«
Plötzlich wackelte unter ihnen die Erde. Schrill wiehernd sprang Ildiko zur Seite. Der Erdteil, auf dem sie standen, rutschte in die Tiefe. Eduard sah ihm nach und irgendwann hörte er ein leises Platsch. Ihm lief die Gänsehaut über den Rücken. Die Wächter waren schon so nah wie noch nie.
»Mädchen, Mädchen, das schaffen wir!« stotterte Eduard und schluckte. Ildiko stand wie angewurzelt da. Sie zuckte nicht einmal mit den Wimpern. »Du kannst mich jetzt doch nicht im Stich lassen!« schrie er und dann schluchzte er mit tränenerstickter Stimme: »Doch nicht jetzt.«
Eine bestimmte Macht beherrschte ihn nun. Diese Macht hatte ein Gefühl, und dieses Gefühl trieb ihn zur Schlucht. Vom Gefühl angetaucht, trieb er Ildiko an, doch diese blieb stehen. Es war hoffnungslos! Er ließ seinen Kopf auf Ildikos nassen Hals sinken. Alles war aus!
»Lauf endlich«, rief er. Ildiko senkte den Kopf. Wenn sie reden könnte, hätte sie gesagt: »Du hast unser Todesurteil gesprochen, doch wenn du es willst, will ich mich hingeben!«
Der Regen hatte aufgehört, es sah so aus, als würde das Wetter, alle Elemente und die ganze Welt den Kopf heben und erwartungsvoll zusehen. Ildiko ging rückwärts einige Schritte zurück, sie schnaubte nervös. Dann begann sie zu laufen. Alles war still, man hörte nur das Getrampel ihrer Hufe. Je näher sie dem Abgrund, kamen umso größer wurde die Last, die an Eduards Schultern hing. War es ein Fehler?
Nun war keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Nun musste er sich auf den Sprung konzentrieren. Doch als er zur Schlucht sah, verschwamm diese vor seinen Augen. Er konnte nichts mehr wahrnehmen. Er hörte nur das Wiehern von Ildiko. Irgendwie kam es bei ihm nicht an. Es hörte sich an, als käme es von weit her und es echote in Eduards Kopf, der sich zusammengedrückt und angschwollen zugeleich anfühlte. Er blickte zu Ildiko, aber sie verschwamm vor seinen Augen. Er hatte das Gefühl, Ildikos Rücken unter den Beinen zu verlieren und in einen dicken Wattebausch zu fallen, der alle Töne dämpfte. Er würde in der Watte ertrinken. So sehr er sich auch bemühte, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Verwirrt sah er sich um, aber seine Umgebung sah er nur unscharf, es war, als schwebte er weit weg in einem weißen Wolkenmeer. Er wollte schreien, laufen, diese unbekannte Verwirrung machte ihm Angst, doch seine Zunge fühlte sich unbeweglich wie Blei an.
Dann war es soweit. Nun kam es zur Entscheidung. Sieg oder Tod. Die Wachen bremsten. Sie hatten keinen Mut, über die Schlucht zu springen. Ildiko war ängstlich und doch fest entschlossen, ihrem Herrn zu gehorchen. Mit einem kräftigen Stoß stieß sie sich von der Erde ab. Es war so, als wollte sie ihre Flügel aufspannen.
Eduard, der immer noch völlig nüchtern war, blickte in das schwarze Loch, irgendwie zog es ihn hinab, doch er ignorierte das Gefühl und klammerte sich an die Mähne des Pferdes. Mit einer gewaltigen Wucht landete Ildiko auf der anderen Seite der Schlucht und brach tot zusammen.
Eduard schleuderte es gegen einen Stein. Hart prallte er mit dem Kopf auf. Sein Herz fühlte sich eingeeist an und die Kälte breitete sich auf dem ganzen Körper aus. Er fühlte, wie das Leben aus ihm wich. Doch er war glücklich, er würde in Freiheit sterben. Es war die Erfüllung seines Traumes. Mit letzter Kraft murmelte er zur toten Ildiko: »Wir haben es geschafft.« Er schloss seine Augen. Eine letzte Träne rann über seine Wange, sie tropfte herunter und versickerte im Schlamm.