Sophia Reissner (13)

Die Befreiung

1

Es war ein ziemlich kalter Morgen, ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Hier und dort kräuselte sich Nebel in der Luft, vermischt mit den Atemwölkchen der alten Hirschkuh. Sie äste gerade, doch sie war allein und daher gespannt wie ein Bogen und jeder Zeit bereit beim kleinsten verdächtigen Geräusch wegzulaufen. Sie ging im Zickzack, rupfte mal hier, mal dort ein Büschel taugetränkten Grases ab. Manchmal hob sie den Kopf und spähte hinüber zum düsteren Mischwald, der die große Lichtung einschloss. Wenn sie sich davon überzeugt hatte, dass keine Gefahr drohte, fraß sie mit der selben scheinbaren, doch keineswegs vorhandenen Gleichgültigkeit weiter wie bisher. Doch ganz plötzlich hob sie das schöne Haupt und musterte mit großen Perlaugen angespannt den Waldrand. Sie wurde immer unruhiger und ihr Schwanz zuckte heftig.

Da tauchte ein mächtiges Geweih aus dem Unterholz auf. Ihm folgte ein großer, muskulöser Hirsch. Er hielt seinen Kopf in die Luft und röhrte kurz. Die Kuh entspannte sich, sie kannte diesen Bullen. Er hatte sie nun auch entdeckt und trabte freudig auf sie zu. Neben ihr hielt er an und leckte ihr kurz den Hals, während die alte Kuh dasselbe bei ihm tat, aber nicht aus Freude, sondern weil es eine Art von Begrüßung war. Der Bulle war sehr viel größer als sie, ein stattliches Tier mit ausladendem Geweih, dessen Spitzen in der Morgensonne glänzten. Sein Fell schimmerte in einem Braunrot und sein Kopf war schön geformt. Er war vier Jahre alt, sein Geweih musste unglaublich schnell gewachsen sein. Doch die Kuh ließ sich davon nicht im Geringsten beeindrucken.

»Es ist noch nicht Brunftzeit. Verschwinde wieder«, sagte sie mürrisch.

»Deswegen bin ich nicht hier«, entgegnete der Bulle, ohne die Unfreundlichkeit der Kuh zur Kenntnis zu nehmen. Er senkte den Kopf und fing an zu grasen. Eine Weile sagte keiner etwas, doch bald wurde die Kuh neugierig und fragte: »Also, warum bist du hier, Atlax?«

Der Hirsch hob den Kopf und sah der Alten tief in die Augen. »Ich muss dich etwas fragen, Esther…«

Die Kuh stöhnte. »Nicht wieder dieses Thema!« Sie hatte sein Zögern richtig gedeutet.

»Doch, genau dieses Thema. Und diesmal«, sagte er rasch und stellte sich vor Esther, die Anstalten machte wegzugehen, »haust du nicht ab, bevor ich nicht deine Meinung gehört habe.«

Die Kuh lachte rau auf. »Nun gut, wenn du es willst… ich finde, du solltest dir über andere Dinge den Kopf zerbrechen. Suche dir zum Beispiel eine eigene Herde. Du bist jetzt alt genug, um bei der Brunft um eine von uns zu kämpfen.«

»Aber Esther. Bemerkst du es denn nicht? Wir sind eingesperrt! Unsere ganze Welt besteht aus einer Lichtung, einer größeren Wiese und einem Wald!«

»Ich habe dir meine Meinung gesagt, also… lass mich jetzt in Ruhe!«

Esther stieß den Bullen grob zur Seite und begann eine Pfütze zu suchen, aus der sie trinken konnte, denn der Tau hatte ihren Durst nicht gestillt. Doch Atlax trottete ihr nach wie ein Kalb seiner Mutter.

»Was willst du denn noch?« fragte die Kuh entnervt.

»Dir klarmachen, dass es Zeit wird, etwas zu unternehmen«, antwortete er schroff. Esther verdrehte die Augen und ging weiter, Atlax im Schlepptau. Sie ging ein paar Schritte, doch plötzlich fuhr sie herum und schnappte nach ihm, jedoch ohne ihn zu erwischen.

»Das war ’ne eindeutige Warnung, was?« meinte der Bulle spöttisch und nicht im mindesten beeindruckt.

»Was willst du von mir?« schrie Esther zornig. »Ich bin schon alt, siehst du es nicht? Ich bin in dieser… Welt aufgewachsen. Für mich ist es zu spät, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen! Rede mit einem deiner Freunde, vielleicht wollen sie ja darüber mit dir diskutieren!«

Plötzlich lächelte Atlax. Ja, Esther war schon alt. Zehn Jahre. Das war ein bemerkenswertes Alter für eine Kuh. Aber mit seinen »Freunden« konnte er nicht reden. Er hatte nämlich keine und zwar, das wusste er genau, deshalb, weil ihn die anderen Hirsche für verrückt hielten.

»Na dann«, sagte er steif und sein Lächeln verschwand. »Leb wohl, Esther.« Und er galoppierte davon, in den Wald hinein.

2

Auf der großen Wiese, die von der Herde zum Versammlungsplatz bestimmt worden war, sprangen kleine, braune Punkte herum. Manchmal fiel einer hin. Dann kam ein größerer Punkt und half ihm auf. So sah es jedenfalls aus der Vogelperspektive aus. Vom Boden aus offenbarten sich die kleinen Punkte als Kälber und die großen Punkte als Hirschkühe. Es herrschte fröhliche, ausgelassene Stimmung, was wohl an der angenehmen Wärme lag. Plötzlich betrat ein größeres Tier die Wiese. Es war ein Bulle. Sein mächtiges Geweih ragte hoch auf und er hatte einen weißen Huf. Jeder kannte ihn. Es war Ragonn.

Die Kälber drückten sich ängstlich an ihre Mütter und die Kühe senkten ergeben den Kopf, als der Herdenführer vorbeiging, gefolgt von seiner Leibwache, zwei jungen Bullen. Ragonn war sein Alter (acht) nicht anzusehen und er bewegte sich so geschmeidig wie ein einjähriger Hirsch. Bis jetzt hatte er noch keinen Kampf verloren, doch er besaß viele schreckliche Narben.

Die Kühe hatten sich seitlich aufgestellt und Ragonn ging bis an das Ende der Reihe. Dann riss er seinen Kopf hoch und gab ein gewaltiges Röhren von sich. Es hatte bis jetzt fast jeden Gegner eingeschüchtert und diejenigen, die dreist genug gewesen waren, Ragonn dann noch anzugreifen, gingen schwer verletzt oder mit nur einer Geweihstange nach Hause.

Ragonn sah die Kühe achtungheischend an und begann dann zu sprechen: »Meine Kühe!« rief er mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme. »Und meine Kälber! Ich bin hergekommen um euch mitzuteilen, dass bald wieder die Austeilung des Futters bevorsteht!« Er schwieg einen Moment, um seine Worte wirken zu lassen, was keinesfalls misslang, denn den Kühen und ihren Kindern lief sichtlich das Wasser im Maul zusammen. Dann fuhr er fort: »Die Menschen werden wiederkommen und es am ‚Verfluchten Ort‘ abliefern. Ich würde es gerne sehen, wenn niemand dort hingeht, doch diejenigen, die unbedingt dieses Heu fressen müssen, sollen erst drei Tage danach gehen. Ist das klar?«

Die Kühe nickten. Mittlerweile waren auch einige Bullen hinzugekommen. Sie standen stolz und aufrecht da, denn sie hatten das Futter noch nie angerührt.

Ragonn sah die Hirsche noch einmal gebieterisch an, dann legte er sich auf seinen Lieblingsplatz (ein großer Fels von dem aus man die ganze Wiese im Auge hatte). Die Herde zerstreute sich wieder und niemandem war aufgefallen, dass einer gefehlt hatte.

3

Atlax hatte alles vom Waldrand aus beobachtet. Und erst als Ragonn sich auf seinem Aussichtsposten sonnte, beschloss Atlax, sich zu den anderen zu gesellen.

Unbekümmert trabte er auf die Wiese. Die Kühe und die Bullen sahen kurz auf, doch sie kümmerten sich nicht weiter um ihn, da er für sie ja sowieso nur ein Verrückter war. Atlax lief zu den Kühen hinüber, was ihm von den anderen Bullen unwillige Blicke einbrachte. Bullen hatten nichts mit Kühen zu tun, außer in der Brunftzeit und für ihren Geschmack hielt sich Atlax viel zu oft bei ihnen auf.

»Esther!« rief Atlax, der die Kuh neben einer Gruppe Kälber entdeckte. Sie erzählte ihnen gerade eine Geschichte. Doch als Esther Atlax’ Stimme hörte, hob sie den Kopf und sah ihm zu, wie er sich durch die schnatternden Kühe und Kälber drängte, die gerade von der Futterausteilung redeten.

»Esther«, keuchte er, als er neben ihr stand. »Ich muss mit dir über etwas reden.«

Die Kälber sahen ihn ängstlich an. Der Bulle der vor ihnen stand musste Ragonn in Körperkraft und in Stärke und Größe seines Geweihs ebenbürtig sein. Doch keiner wusste, ob das auch stimmte, denn Atlax hatte noch nie gekämpft, obwohl er gute Chancen gehabt hätte, wenigstens drei oder vier Kühe zu erobern.

»Hallo«, sagte er zu den Kälbern, deren Antwort ein scheues Quietschen war.

»Auf Wiedersehen«, knurrte Esther und funkelte ihn böse an. »Ich will nicht mehr mit dir streiten.«

»Ich glaube, ich habe eine Idee«, erzählte Atlax unbeirrt. »Es gibt einen Weg nach draußen!«

Esther sah ihn erschrocken an. »Sei doch leise, wenn du so etwas sagst!« zischte sie und scheuchte die Kälber weg. »Du hast aber nicht ernsthaft vor, von hier wegzugehen, oder?«

»Aber sicher.«

»Und wie willst du es anstellen?«

»Ich habe mich nach unserem Streit ein wenig umgesehen.«

Esther senkte den Kopf, als würde sie grasen. »Und was hast du entdeckt?«

»Es hat etwas mit dem ‚Verfluchten Ort‘ zu tun.« Atlax blinzelte Esther triumphierend zu und tat ebenfalls so, als wäre er damit beschäftigt, seinen Bauch zu füllen.

Esther schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist nicht dein Ernst!« keuchte sie. Atlax konnte ihr Entsetzen verstehen. Er hätte nicht anders reagiert. Der ‚Verfluchte Ort‘ war die Stelle, an der die Menschen das Futter ablieferten. Es war im dichtesten Teil des Waldes, dort, wo sich der nördliche Teil des Zaunes erstreckte. Alles, was die Menschen berührt hatten, war für die Hirsche verflucht. Keiner, der noch halbwegs bei Verstand war, ging dorthin.

»Ich habe auch schon einen Plan.«

»Du kannst mich nicht dazu überreden, dich zu begleiten.«

»Wer weiß«, schmunzelte Atlax und bevor Esther etwas entgegnen konnte, fuhr er fort: »Ich werde warten, bis sie wieder Futter bringen und wenn sie den Zaun öffnen, renn’ ich sie über den Haufen.«

Esther nickte anerkennend. »Das könnte sogar noch funktionieren. Aber was ist mit den Hunden, die sie immer bei sich haben?«

»Um die kümmere ich mich, wenn es so weit ist. In zwei Tagen, wenn das Heu kommt, verschwinde ich

»Viel Glück«, murmelte Esther. Atlax wusste, dass das Thema hiermit für sie beendet war und ging langsam davon. Als er an den Bullen vorbei kam, tuschelten sie verächtlich, doch Atlax kümmerte sich nicht darum. Er wollte den »Verfluchten Ort« auskundschaften und herausfinden, wo sich die Öffnung im Zaun befand.

4

Die zwei Tage, die er auf das Futter warten musste, kamen Atlax wie eine Ewigkeit vor. Er vertrieb sich die Zeit mit größeren Spaziergängen, die ihn am Rande des Zaunes entlangführten. In der Nacht vor der Futterverteilung besuchte er noch einmal den »Verfluchten Ort«. Er würde sich hinter dem umgestürzten Baum verstecken und warten, bis die Menschen die Tür im Zaun öffnen würden. Dann musste er nur noch über sie hinwegspringen… und war frei! Atlax fasste bei diesem Gedanken neuen Mut und trottete auf die große Wiese, wo die anderen schliefen. Auch Atlax schloss die Augen, doch er war zu aufgeregt, um zu schlafen. Immer wieder sprang er auf und ging ein paar Schritte, nur um sich dann wieder hinzulegen. Den anderen Hirschen fiel das sehr wohl auf, doch bei einem Verrückten war das ja nichts Besonderes und so schliefen sie weiter.

Kurz vor Morgengrauen machte sich Atlax auf den Weg zum "Verfluchten Ort". Er wusste, dass die Menschen ganz früh am Morgen kamen. Atlax brauchte eine Viertelstunde, bis er dort war. Er kauerte sich hinter den großen Baumstamm, der etwa zehn Meter von der Öffnung entfernt war. Von hier aus hatte er den Zaun und den Steintrog, in den die Menschen das Heu gaben, gut im Auge. Das Einzige, was man von ihm sah, war das Geweih, doch es sah von größerer Entfernung genauso aus wie die Äste des umgefallenen Baumes. Nun wurde Atlax zum ersten Mal klar, warum dieser Teil des Waldes »Verfluchter Ort« genannt wurde.

Es roch leicht nach Moder und die Äste, die am Boden lagen, waren nass und leicht faulig. Rankenpflanzen umschlangen die Bäume und schienen sie ersticken zu wollen. Kein einziges Tier ließ sich blicken und Atlax fragte sich, warum die Blätter so bleich waren, wenn doch genügend Sonnenlicht durch das Blätterdach drang. An manchen Stellen fiel es sogar bis auf den Boden, doch dort wuchs nicht einmal Moos. Warum brachten die Menschen das Futter nicht an einen sauberen Platz? Weil sie Angst vor den Hirschen hatten? Das konnte sich Atlax nicht vorstellen. Die Menschen hatten vor nichts Angst… Ein ohrenbetäubender Lärm riss Atlax aus seinen Überlegungen.

Ein riesiges Ungeheuer aus glänzendem Metall fuhr den Zaun entlang. Atlax unterdrückte den Drang wegzulaufen und duckte sich noch tiefer. Das Ungeheuer hielt langsam an und zwei Menschen sprangen aus seinem Inneren heraus… mit einem riesigen Hund! Atlax sog erschrocken die Luft ein. Was, wenn der Hund ihn roch? Doch der Hund war viel zu sehr damit beschäftigt, um die Menschen herumzuspringen. Er war wohl sehr verspielt. Einer der Männer zog einen großen Sack aus dem Wagen und ging mit ihm auf die Türe zu. Atlax konnte nicht sehen was er tat, doch plötzlich sprang sie auf. Der Mann leerte den Sack über dem Trog aus und heraus fiel das frische Heu. Die Menschen schienen nicht zu bemerken, in welch schlechter Verfassung der Wald hier war. Der andere Mann holte nun auch einen Sack und leerte ebenfalls Heu in den Steintrog. Der Hund kläffte aufgeregt. Atlax spannte sich. Gleich war es soweit. Gleich würde er springen…

»He! Guck mal! Ist das ‘n Hirsch?« Einer der Männer hatte Atlax gesehen und deutete mit ausgestrecktem Finger auf ihn. Der Bulle konnte nicht verstehen, was er sagte, doch der Umstand, dass er entdeckt worden war, fiel ihm sofort auf.

»Das ist einer!« rief der andere Mann und holte von irgendwoher einen langen, glänzenden Ast hervor. »Es ist zwar noch nicht Jagdzeit, aber den Brocken lass ich mir nicht entgehen. Auch egal, wenn wir dem Förster dafür etwas zahlen müssen.« Er hob den Ast und zielte damit auf Atlax. Obwohl er nicht wusste, was es war, spürte er die Gefahr, die davon ausging. Eine Sekunde lang starrte er den Mann noch an, dann fuhr er herum und rannte davon.

»Mach schon! Schieß endlich«, brüllte der Mann mit dem Hund. Atlax spürte den Luftzug von etwas, das mit unglaublicher Geschwindigkeit an ihm vorbeiflog. Es traf einen Ast, welcher daraufhin in einem Regen aus Holzsplittern explodierte. Atlax packte die Panik und er rannte noch schneller.

»Los, Billy! Schnapp ihn dir!« Wütendes Kläffen erklang hinter Atlax. Sie hatten den Hund auf ihn gehetzt! Er war verdammt schnell und der Abstand zwischen Atlax und dem Hund wurde immer kleiner. Der Hund war im Vorteil, da er den Bäumen leichter ausweichen konnte. Schon konnte Atlax sein gieriges Hecheln hören. Er beschleunigte noch einmal. Die Männer hatten sich nun auch in Bewegung gesetzt und verfolgten ihn und den Hund.

Bald ließen sie den »Verfluchten Ort« hinter sich. Atlax fiel ein, dass er die Männer auf keinen Fall auf die große Wiese führen durfte. Er schlug einen Haken und änderte die Richtung. Zu seinem Unbehagen zeigte der Hund, im Gegensatz zu ihm, noch keine Müdigkeit. Die Männer waren weit zurückgeblieben, doch der Hund würde früher oder später alles für sie erledigen. Der Wald lichtete sich und sie kamen auf die riesige Lichtung, auf der Atlax Esther getroffen hatte. Hier war er wieder im Vorteil. Er griff weiter aus und langsam vergrößerte sich der Abstand wieder. Da gewahrte er keine zwanzig Meter von sich entfernt, eine Hirschkuh. Es war (wie konnte es auch anders sein) Esther!

Verdammt, dachte Atlax und versuchte den Hund abzulenken, doch der hatte die Kuh bereits entdeckt.

»Esther!« brüllte Atlax aus Leibeskräften. Die Kuh hob den Kopf – und erstarrte, als sie Atlax und den Hund sah. Der Hund ließ von Atlax ab und steuerte auf Esther zu. Sie war zu geschockt, um sich zu bewegen. Atlax blieb stehen, doch der Hund lief weiter.

»Da sind ja gleich zwei!« Die Männer waren schneller gewesen, als Atlax gedacht hatte. Sie standen nun am Waldrand. Jetzt zielten sie auf Esther. Der Hund war zwei Meter vor ihr stehen geblieben und knurrte sie drohend an. Aus dem Augenwinkel konnte Atlax sehen, wie sich der Zeigefinger des Mannes einem kleinen Hebel am Ast näherte und wenn er ihn erreichte, das wusste Atlax, war es um Esther geschehen.

Er reagierte aus einem Reflex heraus und bevor der Mann sich umsehen konnte, flog er durch die Luft. Atlax hielt sein Geweih nun dem anderen Mann entgegen. Das Gewehr flog zehn Meter weit und blieb in den Sträuchern hängen. Der zweite Mann lief schnell in den Wald, doch Atlax verfolgte ihn nicht. Stattdessen lief er zu Esther und dem Hund. Dieser zog sich mit eingezogenem Schwanz zurück, als er sich plötzlich zwei Hirschen gegenübersah.

»Los, komm, Esther! Der Zaun ist noch offen!« rief er ihr zu. Ihr Blick war zwar immer noch etwas glasig, doch sie lief Atlax trotzdem nach. Der zweite Mann (der andere lag bewusstlos im Unterholz) hatte das Gewehr erreicht. Esther stellte keine Fragen, denn sie stand immer noch unter Schock. Sie folgte Atlax in den Wald. Sie setzten über niedrige Büsche hinweg und wichen geschickt Bäumen aus. Schließlich erreichten sie den »Verfluchten Ort«. Atlax lief durch die Öffnung im Zaun, doch Esther blieb wie angewurzelt stehen. Der Bulle wandte sich um.

»Esther, komm!«

Doch die Kuh schüttelte den Kopf. »Nein, ich… ich kann das nicht tun.«

»Bitte, Esther! Er ist gleich hier!« schrie Atlax sie an. Doch sie wich einen Schritt zurück. »Das ist die einmalige Chance! Mach einen Schritt und du bist frei!«

»Was wohl da draußen ist?« fragte Esther leise und mit nebligem Blick. Atlax erschrak heftig, als er die hastigen Schritte des Mannes hörte.

»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit! Wenn er hier ist, ist es um uns geschehen! Bitte, Esther. Was hast du zu verlieren? Denk doch mal nach. Immer nur im Kreis gehen? Da gibt es Besseres! Komm mit mir.«

Doch Esther wich noch weiter zurück.

Atlax seufzte. »Du bewunderst doch die Berge. Gibt es hier einen? Nein, aber da draußen! Dort kannst du sie besteigen, so hoch wie du willst. Seen gibt es da! Und riesige Wälder! Zehnmal so groß wie unserer! Das alles hat mir einmal eine Krähe erzählt«, er grinste kurz. »Na los, Esther. Diese Gelegenheit bietet sich nicht noch einmal.«

Einen Moment stand Esther noch verwirrt da, doch dann wurde ihr Blick auf einmal wieder klar. Sie sah kurz hinter sich, wo sie den Mann heranlaufen sah. Dann wandte sie sich wieder Atlax zu und nickte entschlossen. »Du hast recht. Lass uns verschwinden!«

Sie preschten los und ließen die wütenden Schreie des Menschen, zusammen mit der Herde und allem was sie kannten, hinter sich.

5

Wie lange waren sie schon unterwegs? Atlax konnte es nicht sagen. Wahrscheinlich drei Tage. Sie kamen nur sehr langsam voran, da Esther viele Pausen einlegen musste. Nach ihrer Flucht durch den Wald hatten sie eine Lichtung erreicht, auf welcher Esther sofort zusammengebrochen war. Die Anstrengung und der Schock waren zu viel für sie gewesen, doch zum Glück hatte sie sich schnell wieder erholt und war nun in ziemlich mürrischer Laune. Bis jetzt hatte es noch keine Schwierigkeiten gegeben. Sie waren nicht von Raubtieren angegriffen worden und zu fressen und zu trinken gab es genug.

Sie befanden sich jetzt in einem Mischwald wie ihrer einer gewesen war, allerdings weit weg vom Gehege. Atlax stand Wache, während Esther sich auf einem Haufen Blätter ausruhte. Es war ein sehr ungewohntes Gefühl, so weit weg von einer Herde zu sein. In einiger Entfernung sah man die schneebedeckten Berge, was wohl der einzige Grund war, aus dem Esther noch weiterging.

»Es ist ein seltsames Gefühl, nicht?« fragte sie plötzlich. Atlax drehte sich zu ihr um und nickte.

»Aber irgendwie ist doch nichts anders«, murmelte Esther.

»Wir sind nicht mehr von einem Zaun eingeschlossen«, wies Atlax sie zurecht.

»Und allein. Wenn wir wenigstens eine andere Herde treffen würden. Ob sie genauso sind wie wir?«

Atlax wiegte nachdenklich den Kopf. »Wer weiß. Aber wahrscheinlich schon. Im Moment solltest du dich aber ausruhen.«

Doch Esther stand, Atlax’ Rat missachtend, auf. Sie stellte sich neben ihn und leckte ihn kurz am Hals. »Weißt du«, murmelte sie. »Du hattest völlig recht. Ich glaube, ich wäre eingegangen in diesem Käfig. Es tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe.«

»Schon vergessen«, grinste Atlax. »Sollen wir weitergehen oder willst du dich noch einmal hinlegen?«

Esther schüttelte entschlossen den Kopf und trabte an Atlax vorbei in den Wald hinein. Dieser seufzte und lief ihr nach. Sie wandten sich nach Norden, in Richtung der Berge. Einige Stunden gingen sie durch den Wald, doch die Zeit verging wie im Flug. Sie sahen Tiere, von denen sie keine Ahnung gehabt hatten, dass es sie überhaupt gab. Besonders gut gefiel ihnen ein Eichhörnchen mit einem buschigen Schwanz. Diese Tiere waren ihnen zwar sehr wohl bekannt, doch die Eichhörnchen im Gehege waren klein und mager gewesen. Dieses Exemplar jedoch war fast doppelt so groß. Es begleitete die Hirsche von Baum zu Baum springend. Schließlich keuchte Esther, dass sie dringend noch eine Pause brauchte. Also hielten sie neben einem kleinen Wildbach. Esther schlief sofort ein, doch Atlax beschloss, einen Spaziergang zu machen. Wieder war das Eichhörnchen da, nur zehn Meter über dem Boden auf einem Baum.

»Warum verfolgst du uns?« rief Atlax hinauf. Doch das Eichhörnchen verschwand keckernd in einem Astloch, anstatt zu antworten. Atlax schüttelte den Kopf und ging weiter. Das Eichhörnchen war aus seinem Versteck herausgekommen und war ihm weiterhin dicht auf den Fersen. Atlax kümmerte sich nicht mehr darum. Er wollte ihren Weg auskundschaften.

Atlax legte gerade neben einer Eiche eine Rast ein, als ihn ein schriller Schrei herumfahren ließ. Das Eichhörnchen raste den Baumstamm der Eiche hinunter, die Augen in Panik geweitet. Nach einer Sekunde sah Atlax den Grund dafür: Ein Marder, fast dreimal so groß wie das Eichhörnchen, verfolgte es geifernd. Das Eichhörnchen erreichte den Boden und flitzte hinüber zum nächsten Baum, der Marder folgte ihm. Es konnte ihm immer wieder mit geschickten Haken ausweichen – bis es abrutschte.

Quietschend stürzte es vom Ast und am Ende verdankte es sein Leben Atlax’ Reaktionsfähigkeit. Er war aufgesprungen und lief mit erhobenem Geweih genau an die Stelle, an der das kleine Nagetier landen musste. Zum Glück erkannte es Atlax’ Plan und krallte sich im Sturz an der äußersten Geweihsprosse fest. Der Marder war nachgesprungen, doch Atlax wich schnell aus. Mit einem hässlichen Geräusch schlug der Räuber am Boden auf. Atlax wandte sich schaudernd ab und lief in den Wald hinein.

6

»Ist dir etwas passiert?« fragte er das zitternde Eichhörnchen, nachdem er hundert Schritte gelaufen war. Es hatte den größten Schock überwunden, doch der Schreck saß ihm immer noch in den Knochen. Keuchend sprang es auf den Boden.

»Ist dir etwas passiert?« wiederholte Atlax seine Frage.

»N-nein«, fiepte es schrill. »Ich d-danke dir.«

»Keine Ursache«, sagte Atlax und lächelte dem kleinen Nager aufmunternd zu. Es lächelte zurück. »Was war das für ein Tier?«

»D-du weißt nicht, w-was das war?« Es starrte den Bullen ungläubig an. »D-das war ein B-baummarder. G-ganz üble Burschen sind das, k-kann ich d-dir sagen.«

»Und warum verfolgst du uns?«

»Ich v-verfolge euch n-nicht«, stotterte es. »Ei-eigentlich ist d-das mein Beruf.«

»Also verfolgst du uns doch.«

Das Eichhörnchen knirschte mit den Zähnen. Die letzte Angst wich aus seinen Augen und als es weitersprach, stotterte es nicht mehr. »Ich will nichts Böses, das musst du mir glauben. Eigentlich bin ich nur hier, um… um euch den Weg zu zeigen.«

»Den Weg zeigen?« Fragte Atlax überrascht. »Den Weg wohin?«

»Nun ja, ihr befindet euch zur Zeit in Melchiors Revier. Ich soll jeden Fremden ankündigen. Wenn er harmlos ist, helfe ich ihm, den Weg zur Herde zu finden, wenn er Böses im Sinn hat, muss ich die anderen warnen.«

»Diese Herde… wo ist sie?«

»Ich kann euch hinbringen. Aber zuerst müssen wir die Alte wieder in Form bringen.« Mit diesen Worten sprang das Eichhörnchen wieder auf Atlax Rücken, von dem aus es geschickt aufs Geweih kletterte. Atlax galoppierte tiefer in den Wald, zurück zu Esther. Diese empfing in schon mit loderndem Blick.

»Was denkst du dir eigentlich?« fauchte sie und funkelte ihn böse an. »Ich wache auf, sehe mich um – und stelle fest, dass ich allein bin! Allein, verstehst du? Allein!«

»Beruhige dich, Esther«, begann Atlax, doch Esther unterbrach ihn.

»Was hätte ich getan, wenn mich ein Raubtier angegriffen hätte? Vielleicht ein lustiges Gespräch unter vier Augen und einem Dutzend Reißzähnen anfangen? Versprich mir, dass du das nie wieder machst!« Plötzlich lächelte sie und fuhr, mit freundlicher Stimme und einem Blick auf Atlax’ Geweih, fort: »Wie ich sehe, hast du das Eichhörnchen gefangen. Und, warum verfolgt es uns?«

»Eigentlich habe ich es gerettet, aber das tut jetzt nichts zur Sache«, erklärte Atlax, doch das Eichhörnchen plapperte dazwischen: »Können wir jetzt bitte aufbrechen? Melchior möchte euch unbedingt kennen lernen.«

Atlax warf Esther einen Blick zu und wollte weitererzählen, doch Esther schienen die wenigen Worte des Nagers zu beweisen, dass er ein Freund war. Also machten sie sich auf den Weg, wobei das Eichhörnchen sie lotste.

»Wie heißt du eigentlich?« fragte Esther, um das plötzlich eingekehrte Schweigen, das nur durch die Anweisungen des Eichhörnchens gestört wurde, zu brechen.

»Mirzel, mein Name. Meine Familie dient schon seit Jahren Melchiors Herde. Ich bin einer der Boten«, Mirzel strich sich stolz über ihren Schnurrbart. »Aber wie heißt ihr eigentlich?«

»Ich bin Esther und«, die Kuh nickte in Atlax’ Richtung, »das ist Atlax.«

Mirzel nickte und begann wieder, ihnen die Richtung anzusagen. Bald lichtete sich der Wald – und Atlax und Esther hielten den Atem an.

Vor ihnen lag eine Wiese, doppelt so groß wie das Gehege. Und auf der Wiese tummelten sich Hirsche. Es mussten mehrere Dutzend sein.

»Das ist Melchiors Herde«, verkündete Mirzel. »Seht, dort drüben! Er erwartet euch schon.«

Auf einem kleinen Hügel in einiger Entfernung stand ein Bulle, an seiner Seite eine Kuh. Sie mussten beide sehr jung sein, denn das Geweih des Bullen war ziemlich klein, wahrscheinlich hatte es nur neun Enden. Atlax konnte das nicht genau sagen, denn das Geweih hatte eine seltsame Form. Die anderen Tiere standen still, als die beiden Hirsche aus dem Wald traten. Atlax fiel auf, dass sie eher klein waren (Atlax überragte sie um fast eine Geweihlänge) und die Bullen hatten alle schaufelförmige Geweihe, fast ohne Spitzen und weiße Tupfen auf dem Fell. Schließlich erreichten sie den Hügel, doch gerade als sie hinaufgehen wollten, kamen ihnen der seltsame Hirsch und seine Gefährtin entgegen. Sie schauten sich überrascht an, als sie die riesigen Hirsche sahen. Man konnte jetzt sehen, dass der Winzling keineswegs jung war, denn sein Maul wurde schon grau. Das Weibchen allerdings schien erst drei Jahre alt zu sein.

»Willkommen, Fremde«, sprach der Bulle. »Ich bin Melchior, führender Hirsch dieser Herde. Mirzel erzählte mir, dass ihr Freunde seid. In diesem Fall stelle ich dir natürlich gerne einen Schlafplatz zur Verfügung.«

»Äh, danke«, stammelte Atlax und wusste nicht, was er sagen sollte. »Es ist wirklich nicht nötig, denn wir sind nur auf der Durchreise. Mein Name ist Atlax und das ist…«

»Der Name der Kuh interessiert mich nicht«, unterbrach ihn Melchior. »Sie wird bei den anderen Kühen untergebracht. Du bekommst einen eigenen Schlafplatz, drüben bei den Bullen. Du kannst mir später erzählen, woher ihr kommt. Folge Lufa, sie zeigt dir deinen Platz.« Der Bulle wandte sich ab und schritt an Atlax und Esther vorbei den Hügel hinunter.

»Folgt mir«, sagte plötzlich die Kuh mit leiser Stimme zu Atlax. »Eure Begleiterin kann sich zu den Kühen legen.« Sie ging über über den Hügel, auf die andere Seite. Atlax zögerte, ihr zu folgen.

»Geh nur«, grummelte Esther. »Ich werde mich zu diesen Tratschtanten legen.«

Atlax drehte sich schulterzuckend um und trabte Lufa hinterher. Sie wartete kurz und ging dann weiter. Während sie den Hügel hinuntergingen, sah sie Atlax von der Seite neugierig an.

»Wie kommt es, dass Euer Geweih so riesig ist?« fragte sie schließlich, wieder mit leiser Stimme und beeindrucktem Blick auf Atlax’ dreizehnendiges Geweih.

»Bei uns hat jeder Bulle ein solches Geweih. Es gibt noch größere als meines«, antwortete Atlax.

»Ihr seid ein Rothirsch, nicht wahr? Wir sind Damwild. Melchior hat mir von euch erzählt. Er hat nicht übertrieben, als er sagte, ihr seid furchteinflößend.«

Atlax lachte laut auf und Lufa zuckte ein wenig zusammen. »Furchteinflößend? Das war nicht sein Ernst, oder? Aber warum sprichst du mich immer mit »Ihr« oder »Euch« an? Und warum war Melchior so unfreundlich zu Esther?«

»Bullen sind etwas Besonderes, wir Kühe sind ihnen untertan. Eine Kuh ist nichts wert. Ist es bei euch denn nicht so?«

Atlax schüttelte heftig den Kopf. »Unser Führer ist zwar immer ein Bulle und Kühe haben sich nicht in diplomatische Angelegenheiten einzumischen, doch davon abgesehen sind sie genauso viel wert wie wir Bullen.«

Lufa nickte verstehend. »Wir sind da«, sagte sie. »Ich lasse Euch jetzt allein. Einer der Bullen wird Euch gleich abholen.«

Sie drehte sich um und galoppierte den Hügel wieder hinauf. Erst jetzt fiel Atlax auf, dass Mirzel gar nicht mehr da war. Doch da kam auch schon ein Bulle auf ihn zu. Zur Begrüßung senkte er das Geweih, Atlax tat es ihm nach.

»Ich bin Ezra«, brummte er. »Ich bringe dich zu den anderen Bullen.«

Atlax ging ihm nach. Der Weg war nicht lang, denn schon nach fünf Minuten erreichten sie eine zweite Herde. Sie bestand nur aus Bullen, doch alle waren kleiner als Atlax. Sie sahen nur kurz auf und dösten weiter, als sie Atlax’ Geweih genug bestaunt hatten.

»Wenn du Fragen hast, dann wende dich an mich«, erklärte Ezra. Er musste so alt wie Atlax sein. »Hast du welche?«

»Ähm, nein«, antwortete Atlax, während er sich über die seltsamen weißen Tupfen auf den Rücken der Bullen wunderte.

»Gut«, Ezra nickte. »Ich liege dort drüben, bei der ‚Oberen Schicht‘. Du kannst dir einen Platz bei diesen hier, der ‚Unteren Schicht‘, aussuchen.« Er ließ Atlax stehen und legte sich zu einer Gruppe Bullen mit besonders großen Geweihen. Atlax ging zu der anderen Gruppe, den Jungbullen. Er fand einen besonders schönen und weichen Fleck, auf dem es sich sicher gut schlafen ließ. Er schloss die Augen und entspannte sich. Das war das erste Mal, dass Atlax nach der Flucht wieder richtig ausschlafen konnte.

7

Atlax gähnte. Er fühlte sich so müde wie noch nie. Er lag allein auf der großen Wiese und deshalb beschloss er, Esther zu besuchen. Wie es ihr wohl ergangen war? Hoffentlich waren sie nett zu ihr, denn sonst… Atlax schnaubte aufgebracht. Er galoppierte den Hügel hinauf, auf dem die Morgensonne ihre Strahlen spielen ließ. Als er oben stand, konnte er nur staunen. Die Aussicht war wundervoll. Erst jetzt konnte er die gesamte, gewaltige Größe der Wiese erkennen. Sie zog sich endlos hin, bis zu den Bergen, die nun schon sehr nahe waren. Atlax atmete tief die Morgenluft ein. Es kam ihm vor, als würde er die Sonne selbst einatmen, so klar war die Luft hier.

»Es liegt an den Bergen.«

Atlax fuhr herum. Hinter ihm stand Lufa. Sie sah ihn schüchtern an und nach einer Weile senkte sie den Blick.

»Es tut mir leid, wenn ich Euch erschreckt habe«, murmelte sie.

»Macht doch nichts«, erwiderte Atlax. »Einen schönen Morgen. Was liegt denn an den Bergen?«

»Die Luft. Die Berge haben etwas damit zu tun.«

Atlax drehte wieder den Kopf und betrachtete die beschneiten Gipfel. Er bemerkte, dass die anderen Hirsche sich nun alle auf der Wiese tummelten, von der er und Esther gestern gekommen waren. »Kann ich Esther sehen?« fragte er Lufa. Ihre Augen blitzten bei dieser Frage kurz auf, doch innerhalb von einer Sekunde sah sie wieder ganz normal aus.

»Ist sie Eure Partnerin?« fragte sie mit seltsamer Stimme.

»Nein«, antwortete Atlax wahrheitsgetreu. »Ich habe keine.«

»Sie ist dort unten.«

»Begleitest du mich?« fragte er Lufa. Ihre Augen fingen an zu glänzen und sie nickte. Gemeinsam gingen sie den Hügel hinunter. Sofort fiel Atlax die seltsame Spannung auf, die in der Luft lag. Ein paar Bullen begannen kleine Raufereien und die Kühe hielten sich seltsam nahe bei ihnen auf.

»Ihr habt zwei Tage geschlafen«, erklärte Lufa, während sie sich durch die röhrenden Bullen schlängelten. »Inzwischen ist es Brunftzeit geworden.«

Atlax blieb wie angewurzelt stehen. »Brunftzeit?!«

»Natürlich. Spürt ihr es nicht?«

Doch, er spürte es. Eine seltsame Gereiztheit lauerte in seinem Verstand. Er hatte es schon vorher bemerkt, doch es nicht beachtet. Langsam ging er weiter. »Wessen Kuh bist du?«

»Ich?« Lufa sah überrascht aus. »Ich gehöre natürlich Melchior.«

Atlax hatte Esther entdeckt und deshalb stellte er seine nächste Frage nicht mehr. Sie war von Bullen umringt, obwohl sie schon viel zu alt war um zu setzen. Wütend sprang er zwischen die Bullen, die mit ihren Geweihen protzten.

»Verdammt! Lasst sie in Ruhe!« schrie er zornig. Tatsächlich wichen die Bullen ein paar Schritte zurück, doch wahrscheinlich nur aus Respekt vor Atlax Geweih. Sie dachten anscheinend auch, dass Esther Atlax’ Kuh war.

»Bin ich froh, dass du da bist«, seufzte sie erleichtert. »Die sind ziemlich aufdringlich.«

»Haben sie dir etwas getan?«

»Nein, nein«, Esther kicherte. »Sie erzählen nur lauter Lügengeschichten, um mich zu beeindrucken. Ich weiß gar nicht, was sie von mir wollen. Ich bin doch viel zu alt.«

»Du bist anders als sie«, brummte Atlax. »Sie wollen mit dir angeben. Wahrscheinlich gehörst du für sie schon zur Herde.«

Esther senkte den Blick. »Nicht nur für sie.«

»Was soll das heißen?«

»Ich bleibe hier.«

Atlax schnappte erschrocken nach Luft. »Das kannst du nicht machen!« schrie er außer sich. Esther senkte nur den Blick. »Ich bin alt. Eine weitere Reise überlebe ich nicht. Du musst alleine weitergehen.«

Eine Geweihsprosse stach Atlax schmerzvoll in die Hinterhand. Eine großer Bulle hatte sich vor ihm aufgebaut.

»Willst du um sie kämpfen?« knurrte er und senkte schon das Geweih, da trat Atlax zur Verwunderung der Hirsche, nachdem er noch einen traurigen Blick auf Esther geworfen hatte, zur Seite und sagte: »Du kannst sie haben. Sie braucht mich nicht mehr.«

Er schritt seelenruhig zum Fuß des Hügels. Dort blieb er stehen. Eine Träne brannte in seinem linken Auge, während er zu dem Bullen hinübersah, der gerade mit erhobenem Haupt Esther wegführte.

»Warum hast du nicht gekämpft?«

Atlax drehte sich nicht um, er hatte Melchiors Stimme erkannt. »Sie gehörte nicht mir.«

»Trotzdem. Es geht darum, so viele Kühe wie möglich zu ergattern.« Melchior trat an seine Seite.

»Es hatte keinen Sinn«, murmelte Atlax traurig, während er sich zu dem Herdenführer umdrehte. Zu seiner Überraschung stand Lufa hinter ihm. »Außerdem gehöre ich nicht zur Herde.«

»Na ja, wie man’s nimmt. Aber falls du eine Kuh eroberst, gehörst du automatisch zu uns«, erklärte Melchior. Atlax wollte etwas entgegnen, doch da raste plötzlich ein Bulle den Hügel herauf. »Melchior!« brüllte er und schwang sein Geweih. »Ich fordere dich heraus!«

Melchior senkte ebenfalls sein Geweih und stampfte mit dem Vorderhuf. Atlax hatte ganz vergessen, dass man den Führer nur während der Brunftzeit angreifen durfte. Nun begann vor seinen Augen ein atemberaubender Kampf.

Die zwei Bullen schlugen Haken, machten Ausfälle und dann griffen sie wieder direkt an. Atlax war sich nicht sicher, ob er gegen einen der beiden gewonnen hätte, denn sie machten ihre Größe durch unglaubliche Geschicklichkeit wett. Sie verstanden es, wie man mit dem Geweih umgehen musste. Sie waren sich ebenbürtig, immer wieder konnten sie parieren. Mit lautem Krachen schlugen die Geweihe aufeinander. Doch plötzlich rutschte der Angreifer aus und Melchior nützte die Möglichkeit und stieß ihm das Geweih in die Schulter. Der andere Bulle schrie schrill auf und ergriff rasch die Flucht. Stolz kehrte Melchior zu Atlax und Lufa zurück, die den Kampf gespannt verfolgt hatten. Melchior leckte Lufa kurz zärtlich über die Stirn.

»Das war ja unglaublich« murmelte Atlax.

»Willst du nicht auch hinuntergehen und deine Bestimmung erfüllen?« fragte Melchior grinsend.

»Nein!« Atlax lachte. »Das überlasse ich lieber erfahrenen Bullen wie dir.«

»Wir sind nur so erfahren geworden durch unsere Kämpfe.« Melchior seufzte. »Aber wenn du nicht willst, dann lass es.«

Er drehte sich um und ging mit Lufa den Hügel hinunter zu den anderen Hirschen.

»Idioten! Alles nur dumme, aufgeblasene Besserwisser!«

Atlax spürte ein Kribbeln auf der Stirn und schielte. Ein großes Eichhörnchen kletterte auf seine Nase. Mirzel schien sehr schlecht gelaunt zu sein.

»Hallo Mirzel! Ich habe dich lange nicht mehr gesehen.«

»Hi« grummelte das Eichhörnchen. »Kannst du mir sagen, was mit meinem Schnurrbart nicht stimmt?«

Atlax schielte noch mehr, um dem Nager ins Gesicht sehen zu können. Tatsächlich war der Schnurrbart etwas gewellt, um nicht zu sagen lockig.

»Er ist etwas anders, als ich ihn kenne. Warum?«

»Warum?!« Mirzel schien erst richtig in Rage zu kommen. »Warum weiß ich nicht! Es war eher ein Unfall. Ich habe ihn mir wo eingezwickt und er ging nicht raus. Dann habe ich so lange gezogen, bis er schließlich frei war, beziehungsweise ich. Aber da sah er plötzlich so aus!«

»Ich finde nicht, dass es so schlimm aussieht.« Atlax kniete sich nieder und Mirzel sprang von seiner Nase. Sie blieb im Gras sitzen und fuhr mit vor Wut zitternder Stimme fort.

»Ich lief in meiner Panik zu Bertram – ein Dachs – doch er hatte gerade Besuch von seiner Kusine achtundvierzigsten Grades und ihrer Familie! Also musste ich mir das Gelächter von einem halben Dutzend unterbelichteter Möchtegernskunks anhören!« Sie fuchtelte wütend mit dem Schwanz und ihr Fell war aufgestellt. Zornig lief sie vor Atlax hin und her.

»Beruhige dich wieder. Ich finde, dein Schnurrbart sieht sehr schön aus. Steht dir richtig.«

Mirzel blieb abrupt stehen und musterte den Bullen zweifelnd. »Das ist nicht dein Ernst!«

»Doch!« Atlax nickte heftig. »Hör’ nicht auf die anderen. Die haben doch gar keinen Geschmack.«

»Du hast recht. Absolut!« Mirzel strich sich liebevoll über ihren neuen, gelockten Schnurrbart. »Was meinst du? Sollte ich mir überall solche Locken machen?«

»Nein, Mirzel.« Atlax beeilte sich aufzustehen. Das Eichhörnchen kletterte wieder auf sein Geweih. »Es sieht viel besser aus, wenn nur dein Schnurrbart so aussieht.«

Er trabte die Hügelkuppe entlang, bis er zu ihrem anderen Ende kam. Die Bullen hatten sich wieder beruhigt und einer nach dem anderen legte sich in die Wiese, um zu schlafen. Der Sonnenuntergang zeichnete Bilder auf die Schlafenden und auf die Wiese. Es war immer noch warm, obwohl die Berge so nahe waren. Es war das Paradies für Atlax und das wäre es auch für andere gewesen, die Atlax kannte. Er gab sich einen Ruck. In diesem Moment hatte er einen Entschluss gefasst und nichts würde ihn daran hindern, ihn in die Tat umzusetzen.

8

»Esther!«

Atlax bahnte sich mit Gewalt einen Weg durch die Hirsche und nicht wenige warfen ihm unfreundliche Blicke zu.

»Esther! Wo bist du? Komm her!« brüllte er zornig.

Da löste sich eine Gestalt aus der Menge. Sie schritt langsam auf Atlax zu.

»Hier bin ich. Willst du irgendetwas?« fragte Esther gelangweilt.

»Ja, ich will etwas!« fauchte Atlax sie wütend an. »Ich will dir mitteilen, dass ich gehe!«

Esther sah verwundert auf. Dann lächelte sie unsicher. »Meinst du nicht, dass du wegen unserer kleinen Auseinandersetzung ein wenig überreagierst?«

»Es ist nicht wegen dir! Es reicht mir jetzt, das ewige schlechte Gewissen. Ich hole die anderen!«

»Das… das geht doch nicht! Du kannst dort nicht mehr hinein! Und falls du das schaffst, wie kommst du wieder hinaus? Und wer sagt überhaupt, dass sie dir folgen werden?«

»Über das alles zerbreche ich mir den Kopf, wenn es so weit ist. Kommst du wieder mit?« Atlax sah sie eindringlich an. »Ich frage dich, obwohl du mir klar gemacht hast, dass du mich nicht mehr brauchst.«

Esther senkte schuldbewusst den Kopf. »Es… tut mir Leid aber ich komme nicht mit.«

Atlax nickte. »Na dann… auf ein Wiedersehen.«

»Natürlich kannst du sie herbringen. Es ist schließlich genug Platz für alle da!«

Atlax hatte Melchior von seinem Plan erzählt und befand sich nun mit ihm und Lufa gerade auf einem Spaziergang im Wald.

»Aber bist du sicher, dass du es alleine bis dorthin schaffst?«

»Was soll das heißen?«

Melchior grinste bedeutungsvoll. »Ich denke, Lufa sollte dich begleiten.«

»Diese Reise ist viel zu gefährlich für eine Kuh. Lufa sollte bei dir bleiben.«

»Aber Esther hat es doch auch geschafft, oder?« Melchiors Grinsen verschwand wie weggewischt und er seufzte. »Denkst du vielleicht, ich merke nicht, wie sie dich andauernd ansieht, wenn du vorbeigehst?« Er musterte Lufa kurz mit einem seltsamen Blick und sie schien sofort im Boden versinken zu wollen. Atlax übrigens auch.

»Nein, nein«, fuhr Melchior fort. »Und du starrst sie doch genauso an. Ich schenke sie dir. Ich habe genug Kühe, da macht es mir nichts aus, wenn ich meine Lieblingskuh herschenke.«

Atlax war der Sarkasmus in Melchiors Stimme nicht entgangen.

»Du kannst mir doch nicht einfach deine Kuh schenken!«

»Warum nicht? Was nützt sie mir, wenn sie nicht mich, sondern einen anderen Bullen liebt?« Melchior seufzte noch einmal. »Es ist schon richtig so. Eine Kuh ist nur so lange zu gebrauchen, solange sie dich noch haben will. Merke dir das gut.«

»Aber vielleicht will sie mich ja auch nicht.«

»Doch!« Lufa war vorgetreten. »Ich möchte mit dir gehen, Atlax. Ich begleite dich zu deiner alten Herde zurück und gemeinsam befreien wir sie!« Das war das erste Mal, das sie Atlax duzte.

»Ihr solltet gleich aufbrechen«, riet Melchior.

Atlax nickte. »Wir gehen den selben Weg zurück, auf dem wir hergekommen sind. Wenn wir genau hier in den Wald gehen, müssten wir auf die vorherige Route zurückkommen.«

»Viel Glück!« war das letzte, was Melchior ihnen noch nachrufen konnte, denn die zwei Hirsche waren nur noch zwei dunkle Schatten im Wald.

9

Sie machten gerade Pause an dem Wildbach, an dem auch schon Esther bei ihrer ersten Reise geschlafen hatte, nur an einer breiteren und tieferen Stelle. Doch sie schliefen nicht. Lufa hatte beschlossen, ein Bad zu nehmen, was sehr ungewöhnlich war für einen Hirsch.

»Möchtest du nicht auch? Eine kleine Erfrischung würde dir gut tun!« prustete sie, während Atlax ihr belustigt zusah.

»Nein, danke«, erwiderte er. »Ich bin nicht für so etwas geschaffen.«

Plötzlich mischte sich ein schrilles Jaulen in die ruhige Geräuschkulisse des Baches. Atlax’ Instinkt sagte ihm, dass es nichts Gutes bedeutete. Lufa sprang mit einem Satz aus dem Wasser und Mirzel (sie hatte die Hirsche unbedingt begleiten wollen) spuckte ihre Nuss aus und kletterte auf Atlax’ Geweih, auf dem sie schon den größten Teil des Weges verbracht hatte. Lufa streckte ihre Nase in die Luft und versuchte, Witterung aufzunehmen. Plötzlich durchlief ein Schauer ihren Körper.

»Wölfe«, flüsterte sie voll Grauen.

»Was ist das?« Atlax kannte keine Raubtiere und er war auch nicht scharf auf eine erste Begegnung.

»Wölfe«, flüsterte Lufa und ihre Augen weiteten sich vor Angst. »Wölfe sind schrecklich. Die schrecklichsten Raubtiere, die du dir vorstellen kannst. Sie jagen in Rudeln und wenn sie ein Opfer erwählt haben, hat es keine Möglichkeit zu entkommen.«

»Wir sollten abhauen, solange es noch geht«, schlug Mirzel ungeduldig vor. »Nicht einmal du, Atlax, mit deinem riesigen Geweih, kannst etwas gegen sie ausrichten.«

»Ich könnte es versuchen.«

»Vergiss es! Rennen ist die einzige Möglichkeit, die wir haben.«

Ein Rascheln ließ sie herumfahren. Ein paar gelber Augen tauchte aus dem Unterholz auf.

»Zu spät«, murmelte Mirzel und sprang von Atlax’ Geweih auf einen nahe Ast. Sie brauchte keine Angst zu haben.

Immer mehr Augen tauchten auf, bis die Hirsche hoffnungslos umzingelt waren. Atlax schätzte die Zahl der Wölfe auf acht.

»Wir geben nicht auf«, sagte er und leckte Lufa zärtlich die Wange. Sie nickte und nahm festen Stand wie Atlax.

»Ich bin bereit«, knurrte er und schwang sein mächtiges Geweih in Richtung des Leitwolfes, der drei Meter von ihm entfernt stand. Die Wölfe wichen tatsächlich ein wenig zurück, doch der Leitwolf rührte sich nicht vom Fleck.

»Bist du sicher, dass du kämpfen willst?« fragte er mit rauer Stimme.

Atlax senkte zur Antwort das Geweih.

Der Wolf nickte. »Du willst es nicht anders.«

Ohne Vorwarnung, ohne ein Zucken des Schwanzes, ohne ein Knurren, sprang der Leitwolf los. Doch Atlax war vorbereitet. Er sprang im selben Moment wie der Wolf, doch der Wolf konnte durch einen Glücksfall ausweichen. Eine Sprosse hatte ihm die Flanke aufgerissen. Nun griffen auch die anderen an. Atlax stellte sich schützend vor Lufa, welche sich tapfer mit ihren Hufen verteidigte. Atlax schaffte es, die Wölfe immer rechtzeitig mit dem Geweih wegzufegen, bevor sie ihn oder Lufa ernsthaft verletzen konnten. Doch wie lange würde er das noch durchhalten? Und dann, als hätten sie seine Gedanken gelesen, griffen alle zusammen an.

Atlax warf sich herum und sein Geweih wurde zu einem tödlichen Blitz, der in hohem Bogen auf die Wölfe niederzuckte. Drei lagen regungslos am Boden, die anderen waren verletzt. Doch Atlax wurde müde und schließlich erwischte einer der Wölfe eine Lücke in seiner Verteidigung. Er sprang vor und bohrte seine Zähne in Atlax Hinterschenkel. Atlax brüllte auf und ging zu Boden, doch als er sah, wie die Wölfe versuchten, Lufa zu überwältigen, hievte er sich trotz seiner Schmerzen wieder hoch und sein Geweih machte zwei weitere Wölfe kampfuntauglich. Nun schienen sie endlich festgestellt zu haben, dass ihr gefährlichster Gegner der Bulle war und sie ließen von Lufa ab. Sie hatte einige Kratzer, doch sonst war ihr nichts passiert. Atlax sah sich nun drei Wölfen gegenüber. Sein Bein blutete heftig und er spürte, dass er anfing zu lahmen. Die Wölfe waren nur noch zu dritt. Und sie wussten, dass Atlax verletzt war, doch sein Geweih war für sie zu einem furchtbaren Gegner geworden. Zwei sprangen vor, doch Atlax wich aus und rammte ihnen die Hufe hinten nach, so, dass sie drei Meter über den Waldboden segelten. Die beiden Tiere flüchteten winselnd in den Wald. Jetzt war nur noch einer übrig. Es war der Leitwolf.

»Verschwinde«, knurrte Atlax drohend, doch der Wolf fletschte die Zähne.

»Noch nie hat mich meine Beute besiegt!« fauchte er und sein Schwanz zuckte aufgebracht. »Und es wird auch diesmal nicht passieren!«

»Es gibt immer ein erstes Mal«, entgegnete Lufa und stellte sich neben Atlax.

Der Wolf ließ sich nicht beirren. Er setzte zum Sprung an, doch plötzlich fiel ein rotes, buschiges Etwas von einem Baum und auf das Gesicht des Wolfes. Mirzel fauchte und zeterte und schlug gleichzeitig mit ihren scharfen Krallen und Zähnen nach den Augen und der empfindlichen Schnauze des Wolfes. Dieser jaulte auf und verschwand eiligst im Wald, wie seine Vorgänger. Mirzel setzte sich zufrieden auf einen großen Ast.

»Das hast du toll gemacht«, lobte Atlax das Eichhörnchen.

»Ach was. Kinderspiel.« Mirzel kicherte. »Gegen die Großen haben die Kleinsten eben die besten Chancen.«

»Verlassen wir diesen Ort«, murmelte Lufa. »Er gefällt mir nicht.«

Sie machten sich wieder auf den Weg, doch nach wenigen Schritten brach Atlax keuchend zusammen. Sein Bein hörte nicht auf zu bluten, denn der Wolf hatte tief gebissen.

»Wir sollten etwas dagegen tun«, murmelte Mirzel fachmännisch. »Eindeutig. Sonst verblutest du uns mitten am Weg.«

»Ich kenne ein paar Kräuter«, erinnerte sich Lufa plötzlich. »Aber Mirzel, du musst bei Atlax bleiben.« Sie verschwand leise im Unterholz.

Mirzel setzte sich neben Atlax und streichelte ihm tröstend das rechte Ohr.

»Wird schon wieder«, beruhigte er Mirzel. Doch diese schüttelte den Kopf und entgegnete: »Wenn Lufa die Kräuter nicht findet, die dein Blut stoppen, dann wird überhaupt nichts gut. Aber ich sollte nicht so pessimistisch sein. Schließlich liegt ja eine Leiche vor mir.«

Atlax lächelte, doch er sagte nichts mehr. Das Reden strengte ihn an und wenn er sich anstrengte, wurde der Schmerz in seinem Bein noch größer.

Lufa brauchte nicht sehr lange, um die Kräuter zu finden. Schon nach einer Viertelstunde kam sie zurück, das Maul voll Grünzeug.

»Reinige die Wunde«, befahl sie Mirzel, die sofort damit begann, das Blut wegzulecken. Es brannte, doch Atlax biss tapfer die Zähne zusammen. Als Mirzel fertig war, legte Lufa die Kräuter darauf.

»Wir müssen heute hier übernachten«, erklärte die Kuh. »Denn wenn du dich bewegst, helfen die Kräuter nichts.«

So verbrachten sie die Nacht neben den stinkenden Wolfskadavern. Keiner konnte schlafen; erstens wegen dem Gestank, zweitens wegen Atlax, der mitten in der Nacht Fieber bekam und zu schreien begann. Glücklicherweise tauchten keine weiteren Raubtiere auf, denn jetzt hätte Atlax sie nicht vertreiben können.

Am Morgen war sein Fieber verschwunden und das einzige Problem war sein verletztes Bein. Lufas Kräuter hatten sehr gut geholfen, die Wunde war am Verheilen. Unter diesen Umständen machten sie sich wieder auf den Weg. Sie legten viele Pausen ein, doch sonst verlief die Reise ohne Zwischenfälle. Die kleine Gruppe erreichte nach wenigen Tagen die letzte Lichtung vor dem Gehege. Man konnte es jetzt noch nicht sehen, doch der Geruch der Menschen war schon sehr stark.

»Wir sollten es bei Nacht tun«, schlug Mirzel vor. Alle waren einverstanden.

»Es gibt aber noch ein Problem«, meinte Atlax. »Irgendetwas hängt vor dem Zaun. Wir brauchen etwas Kleines, um es aufzumachen.«

»Woher weißt du das?«

»Das sagt mir mein Gefühl.«

»Denkst du, dass meine Pfoten klein genug sind?« fragte Mirzel und hielt Atlax ihre Krallen hin.

»Das müsste funktionieren.« Er nickte. »Heute Nacht, okay?«

Sie schliefen sich noch einmal kräftig aus. Leider machte Atlax’ Wunde keine Fortschritte, doch sie wurde auch nicht schlimmer und der Schmerz war fast verschwunden. Mitten in der Nacht kam Mirzel und weckte die Hirsche mehr oder weniger sanft aus ihren unruhigen Träumen.

»Showtime«, grummelte sie und bezog ihren Posten auf Atlax’ Geweih.

Ein Beobachter hätte in dieser Nacht ein Ereignis gesehen, das er nie in seinem Leben vergessen würde: Zwei Hirsche und ein Eichhörnchen, die an einem Schloss herumfingerten und es auch tatsächlich aufbekamen. Es geschah so: Als sie beim Zaun standen, entdeckten sie auch tatsächlich, dass etwas davor hing. Sie drückten und stemmten sich gegen die Türe, doch sie ließ sich nicht öffnen. Und wieder war Mirzel ihre Retterin in der Not.

Sie fuhr mit ihren winzigen Händen in das Loch des Schlosses und benützte sie als Schlüssel. Die ganze Angelegenheit dauerte zwar einige Zeit, doch nach zwei Stunden sprang das Tor mit einem leisen Klicken auf.

»Das hast du wieder wundervoll gemacht«, wurde Mirzel von Lufa gelobt.

Die Hirsche schlichen sich hinein und Atlax erkannte den "Verfluchten Ort" sofort wieder. Sie gingen weiter, den Weg, auf dem Atlax vor den Männern geflüchtet war. Doch diesmal bog er vor der großen Wiese nicht ab. Der Weg erschien ihm viel länger, doch das lag wahrscheinlich nur daran, dass er so lange nicht mehr hier gewesen war. Im Mondlicht konnte er bereits ein Stück der Wiese erkennen. Und die Hirsche, die darauf lagen.

Sein Herz schlug schneller.

»Lass mich reden«, sagte er zu Lufa. Dann trat er aus dem Wald.

Ein paar Hirsche hoben verschlafen den Kopf, doch keiner erkannte ihn. Atlax entdeckte Ragonn auf seinem Felsen und ging auf ihn zu. Ragonns Leibwächter erhoben sich und musterten Atlax neugierig.

»Lasst mich zu ihm! Ich muss mit dem Führer dieser Herde sprechen!«

Nun erwachte auch Ragonn. Und er erkannte Atlax sofort.

»Du?!« fragte er ungläubig. »Du kommst zurück?«

Atlax nickte und sah Ragonn fest in die Augen. Nun standen auch die anderen Hirsche auf, da sie neugierig geworden waren. Jetzt schienen auch sie sich an Atlax zu erinnern, denn einige sogen überrascht die Luft ein.

»Ich bin hier, um euch zu befreien«, erklärte er. Die umstehenden Hirsche begannen hoffnungsvoll zu tuscheln, doch Ragonn reagierte völlig anders. Er sprang auf und funkelte Atlax so böse an, als hätte er gerade das Todesurteil über ihn gesprochen.

»Du?« Er kicherte spöttisch. »Du und wer?«

Da trat Lufa neben ihn und Mirzel sprang auf seinen Kopf.

»Wir drei werden euch befreien«, sagte Lufa entschlossen.

Doch Ragonn lachte nur. »Ein verrückter Bulle, eine naive Kuh und ein größenwahnsinniges Eichhörnchen wollen uns befreien! Das muss ich mir merken, dann kann ich es meinen Kindern erzählen.«

»Immerhin sind wir ja auch hereingekommen«, entgegnete Mirzel und verschränkte die Arme vor der Brust. Die anderen Hirsche waren unsicher geworden. Sollten sie Atlax Glauben schenken oder bei Ragonn bleiben? Sie wurde immer nervöser.

»Was wollt ihr?« fragte Atlax die Herde und drehte sich im Kreis um sie alle anzusehen. »Esther und ich, wir sind entkommen. Wir haben andere Hirsche getroffen. Lufa ist eine von ihnen und ich sage euch: Das Leben dort draußen ist besser als das hier drinnen!«

Manche Hirsche nickten zustimmend, doch Ragonn fuhr dazwischen: »Und woher hast du deine Verletzung? Du willst mir doch nicht erzählen, dass das Leben draußen sicherer ist.«

»Das waren Wölfe. Sie sind die größten und gefährlichsten Jäger, doch das ist ein kleiner Preis für die Freiheit«, knurrte Lufa den Bullen an.

»Und wo ist Esther?« fragte ein Kuh leise. »Haben sie auch diese Wölfe geholt?«

Atlax schüttelte den Kopf. »Sie ist bei den anderen Hirschen geblieben, da sie nicht mehr genug Kraft hatte.«

»Es wäre Selbstmord, da hinaus zu gehen«, meinte Ragonn. »Hier sind wir sicher und genug Platz haben wir auch.«

»Platz nennst du das?« Atlax schnaubte ungläubig. »Lufas Herde lebt auf einer Wiese, die größer ist als das ganze Gehege! Und man kann hingehen wo man will, das Gras schmeckt viel besser. Und einmal im Jahr von Wölfen angegriffen zu werden, ist immer noch besser, als gleich die Hälfte der Herde durch die Menschen zu verlieren.«

»Er hat Recht«, sagte ein Bulle, den Atlax nur vom Sehen kannte. »Und dort draußen haben wir nichts von den Menschen zu befürchten.«

»Wir sollten gehen, Ragonn«, meinte ein anderer.

»Ihr geht nirgendwohin ohne meine Erlaubnis!« brüllte Ragonn und die Hirsche duckten sich ängstlich.

»Das lasst ihr euch gefallen?« Mirzel grinste verächtlich. »Ihr könnt selber entscheiden, was gut für euch ist.«

»Er ist unser Führer«, verteidigte sich eine Kuh, doch dieses Argument wurde von Mirzel rücksichtslos niedergemacht.

»Weicheier seid ihr, wisst ihr das? Jämmerlich! Wenn ihr gehen wollt, dann geht!«

Darauf wusste die Kuh nichts mehr zu sagen.

»Kommt ihr?« fragte Atlax und drehte sich demonstrativ um. Einige machten sogar tatsächlich Anstalten, ihm zu folgen, doch da ertönte ein gewaltiges Röhren hinter ihnen.

Ragonn kam im vollen Galopp und mit gesenktem Geweih auf Lufa zugerannt. Sie war starr vor Schreck, doch Atlax brüllte zornig auf und stieß Ragonn zur Seite. Dieser sprang sofort wieder auf und schlug in Atlax’ Richtung aus.

»Verschwinde!« brüllte er und ein gefährliches Glitzern trat in seine Augen. »Die Herde bleibt bei mir!«

»Dann muss ich sie mit Gewalt holen«, antwortete Atlax ruhig. »Oder du gibst sie freiwillig her.«

»Hier ist meine Antwort!« Ragonn attackierte Atlax wieder und Atlax konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf senken.

Die Geweihe verhakten sich knirschend ineinander. Atlax drückte mit aller Macht, doch Ragonn war ein kleinwenig strärker. Er zwang Atlax langsam zu Boden. Doch bevor er ihm das Geweih in den Hals stoßen konnte, befreite Atlax sein Geweih und lief einige Meter fort. Dann blieb er stehen und startete einen Gegenangriff. Auch Ragonn griff wieder an und die Bullen prallten mit einem ohrenbetäubenden Krachen aufeinander. Diesmal war Atlax stärker und Ragonn wurde zu Boden geworfen. Leider hatte Atlax nicht mit seiner Schnelligkeit gerechnet.

Ragonn drehte sich auf den Rücken und schlug mit allen vier Hufen nach Atlax. Dieser wurde zur Seite geschleudert und Ragonn nützte die Möglichkeit. Er setzte ihm nach und wollte den Kampf beenden, doch in dem Moment, in dem er sprang, sprang auch Atlax und während er in der Luft war, spürte er einen harten Ruck am Geweih. Er landete und zog sein Geweih langsam aus Ragonns Körper. Dieser sank keuchend in die Knie. Atlax’ längste Geweihspitzen hatten sich zwischen seine Rippen gebohrt, aus den tiefen Wunden quoll das Blut. Ragonns Blick wurde stumpf, ein letzter Schauer durchzuckte seinen Körper.

Atlax stand einfach da, während er Ragonn dabei zusah, wie er verblutete. Schließlich, nach einer Ewigkeit, wie Atlax schien, stockte sein Atem und er war tot. Atlax drehte sich traurig um und sah die Hirsche erwartungsvoll an. Endlich setzten sich einer, dann zwei und schließlich alle in Bewegung und steuerten auf den Wald zu.

»Gut gemacht«, flüsterte Lufa und bohrte ihre Nase zärtlich in Atlax’ Fell.

10

Die Rückreise war ohne jegliche Probleme verlaufen und Atlax konnte schon das leuchtende Grün von Melchiors Wiese erkennen.

»Wir sind da!« verkündete er und rannte das letzte Stück, gefolgt von seiner Herde.

Die Hirsche strömten auf die Wiese und wurden sofort von dem Damwild begrüßt. Melchior selbst kam ihnen entgegen.

»Atlax!" rief er erfreut. »Und Lufa! Ich bin froh, dass es keine Probleme gab.«

»Na ja, das ist es nicht ganz, aber das erzähle ich dir später.« Atlax sah sich neugierig um. »Wo ist Esther?«

Melchior machte plötzlich einen traurigen Eindruck. »Sie ist… nun, seht selbst.«

Atlax entschuldigte sich bei den Hirschen und folgte Melchior, zusammen mit Lufa. Sie überquerten den Hügel und spazierten auf die Bullenwiese, auf der Atlax das erste Mal, als er hier gewesen war, geschlafen hatte. Ein kleiner Erdberg verstärkte Atlax’ Verdacht. Als er davor stand, wurden seine Befürchtungen bestätigt.

»Esther!« Er fiel keuchend auf die Knie. »Warum?!«

»Es geschah, kurz nachdem ihr weg wart«, murmelte Melchior traurig. »Sie klagte über große Schmerzen, doch alle Kräuter, die wir ihr gaben, halfen nichts. Und nach zwei Tagen… ist sie… gestorben.«

Atlax wusste nicht, was er sagen sollte. Er war entsetzt, traurig und wütend zugleich. Ein trockenes Schluchzen kam aus seiner Kehle.

»Die Eichhörnchen haben sie begraben«, erklärte Melchior.

Doch Atlax war egal, wer sie begraben hatte. Für ihn zählte nur, dass sie es nicht mehr erleben konnte, wie er die befreite Herde brachte und dass sie jetzt nicht mehr da war. Eine stumme Träne fiel auf das Grab. Lufa nickte Melchior zu und sie ließen den Bullen allein in seiner Trauer.

Atlax verbrachte acht Tage und Nächte an Esthers Grab, bis er schließlich aufgab und sich damit abfand, dass sie nie mehr zurückkommen würde. Bald kehrte er in sein altes Leben zurück und nach einiger Zeit vergaß er sie und von da an zählte für ihn nur noch Lufa, die er beschützen musste.

11

Es war ein ziemlich kalter Morgen, ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Hier und dort kräuselte sich Nebel in die Luft, vermischt mit den Atemwölkchen der alten Hirschkuh. Sie äste gerade, doch sie war allein und daher gespannt wie ein Bogen und jeder Zeit dazu bereit, beim kleinsten verdächtigen Geräusch wegzulaufen. Sie ging im Zickzack, rupfte mal hier, mal dort ein Büschel taugetränkten Grases ab. Manchmal hob sie den Kopf und spähte hinüber zum düsteren Mischwald, der die große Lichtung einschloss. Wenn sie sich davon überzeugt hatte, dass keine Gefahr drohte, fraß sie mit der selben scheinbaren, doch keineswegs vorhandenen Gleichgültigkeit weiter wie bisher. Doch ganz plötzlich hob sie das schöne Haupt und musterte mit großen Perlaugen angespannt den Waldrand.

Da tauchte ein Kalb aus dem Unterholz auf. Es sah sich kurz um, dann entdeckte es die Kuh und lief freudig zu ihr.

»Mama!« rief es und die Kuh leckte ihm freudig über die Stirn.

»Was ist, Atlax?« fragte sie.

»Erzähl mir etwas über meinen Vater.«

»Nicht heute. Geh spielen, morgen erzähle ich es dir.« Sie scheuchte das Kalb sanft weg und als es im Wald verschwunden war, seufzte sie. Sie ging ebenfalls durch den Wald auf die große Wiese. Die Bullenwiese wurde nicht mehr benutzt, seit dort zwei Gräber lagen. Die Kuh ließ ihren Blick traurig über die zwei Erdhügel gleiten, die sich mitten auf der Wiese erhoben.

»Jetzt bist du wirklich frei, Atlax«, murmelte sie. Sie gab sich einen Ruck und galoppierte zurück zu der Herde und ihrem Kalb. Sie drehte sich nicht um, denn sie wusste, das dort auch bald ein dritter Hügel liegen würde.

»Dort liegen die drei, die uns befreit haben«, würden die Hirsche dann sagen. »Atlax, Esther und Lufa.«