Sophia Reissner (13)

Das Leben einer Eintagsfliege oder
tiefere Einblicke in das Phänomen des Schmarotzens

»Igitt!« schreit das kleine Mädchen und schlägt erschrocken nach der Fliege, die sich vor ihm an den Rand des Tischtuches gesetzt hat. Die Flügel zerreißen, der Panzer bricht, die Eingeweide werden zerquetscht. Alles in weniger als einer Sekunde. Zurück bleibt ein unförmiger, gelblicher Fleck auf dem Baumwolltischtuch, der keine Anstalten macht, auszusehen, als wäre er einmal eine Fliege gewesen.

Die Leute vom Nachbartisch und vorbeigehende Kellner, die alle die Köpfe gewandt hatten, als das Mädchen schrie, denken jetzt wahrscheinlich: »Geschieht ihm recht, dem kleinen Schmarotzer.« Aber woher wissen sie, dass die Fliege an diesem Tag schon schmarotzt hatte? Vielleicht war sie auch gerade erst kurz davor gewesen, zu schmarotzen? Oder sie hatte sich das Schmarotzen für den Abend aufgehoben, als Henkersmahlzeit sozusagen, denn sie war ja eine Eintagsfliege. Aber es hat jetzt keinen Sinn mehr, weiter um diesen einen von vielen gewaltigen Verlusten in den Reihen der Schmarotzer zu trauern. Ruhe in Frieden und Amen.

Themawechsel.

Dass Fliegen so gehasst werden, liegt wohl an ihrer Schmarotzerei und daran, dass niemand weiß, wie es ist, eine Fliege zu sein und was genau sie den ganzen Tag lang so macht. Die Menschen wissen zwar, was Hunde und Katzen und Seegurken tun (letztere tun eigentlich gar nichts), aber es weiß eben fast niemand, was Fliegen tun. Sie sind nämlich nicht so faul und unnütz, wie jeder glaubt. Außer Schmarotzen haben sie nämlich noch viele andere – und für sie wichtige – Dinge zu tun. Um ihr Leben zu fliegen, zum Beispiel. Man ist doch nicht faul, wenn man die ganze Zeit mit 10-15 km/h durch die Luft rast, in dem Versuch, den Dutzenden von Fliegenklatschen und Händen zu entgehen, die einen unabschüttelbar auf dem Weg begleiten.

Außerdem sind Fliegen nicht die einzigen, die schmarotzen. Schmarotzen ist nämlich in diesem Fall nur eine andere Bezeichnung für »essen«, was jedes Lebewesen tut. Auch eure Meerschweinchen und Wellensittiche schmarotzen, nur erlaubt ihr es ihnen. Ihr haltet ihnen sogar noch was zum Schmarotzen hin, zum Beispiel Gurken. Und weil der Fliege niemand etwas zum Schmarotzen gibt, muss sie es sich holen. Natürlich ist es nicht gut, wenn sie dann ihre Eier auf das Schmarotzte legt, doch dann sind wir selber schuld, weil wir erstens das Fenster und zweitens die Süßigkeitenlade offen gelassen haben. Apropos Eier!

Es ist keineswegs so, dass Fliegen ihre Eier allein lassen, wenn sie sie einmal gelegt haben. Nein, sie bewachen sie. Auch wenn sie nur alle paar Stunden mal vorbeischauen, um sicher zu gehen, dass ihre eigenen zukünftigen Schmarotzer ja noch nicht selbst schmarotzt wurden, von einem Wesen, dass nicht wusste, dass es kleine Schmarotzer schmarotzte. Aber natürlich vergisst die Schmarotzermutter inmitten von diesem familiären Chaos nicht auf sich selbst. Man hat ja nur knapp vierundzwanzig Stunden zu leben – wenn man nicht vorher von einem rot-blau karierten Geschirrtuch mit Fettflecken drauf verurteilt wird, zu einem weiteren Fettfleck zu werden – und diese paar Stündchen will man ausnutzen.

Also dann, denkt sich das Fliegenhirn. Was uns zu einem neuen Thema führt. Es ist keineswegs die Fliege, die das alles tut. Sie tut nur schmarotzen und Eier legen, aber den Befehl dazu gibt ihr das Fliegenhirn. Denn Fliegen sind nicht dazu in der Lage, selber zu denken. Nee, das tut alles das Fliegenhirn. Und Fliegenhirne sind eine Ausgeburt an Intelligenz und Logik. Zumindest in der Welt der Insekten. Wir sollten uns davor in Acht nehmen.

Das Leben einer Fliege, vor allem das einer Eintagsfliege, ist also gar nicht so uninteressant und langweilig, wie man glaubt. Aus allem, was mir noch so dazu einfällt, könnte ich womöglich ein Buch schreiben, doch das würde nichts an ihrer »schmarotzerhaften Bedeutung« ändern.

Aber auch wenn die Schmarotzer in diesem ungerechten Deal, was Macht und Beliebtheit betrifft, eindeutig den kürzeren gezogen haben, so ergatterten sie sich doch noch heimlich einen Vorteil: Sie werden nie aussterben.