Beatrix Reif (10)

Frei

Der weiße Mond spiegelt sich in der reißenden Strömung. Es ist eine klare, kalte Sommernacht. Die Sterne leuchten am schwarzen Nachthimmel. Eine erdrückende, fast beängstigende Stille liegt über der dunklen Straße. Es ist unheimlich. Aber nein, da ist nichts, überhaupt nichts. Überhaupt nichts? Na gut, ein paar Bäume, eine hohe Brücke, unter der ein dunkler, fast schwarzer Fluss durchfließt und ein hoher Wohnblock, der etwas weiter entfernt liegt. Sonst aber nichts. Oder doch?

Ist da nicht gerade etwas Schwarzes vorbeigehuscht? Ja! Eine schemenhafte Gestalt läuft geduckt Richtung Brücke. Wer ist das bloß? Lisa, ein 16jähriges Mädchen. Doch nicht irgendein Mädchen. Nein, sie ist drogensüchtig. Sie vergewissert sich, dass ihr niemand zusieht und klettert vorsichtig auf das Brückengeländer. Zuerst steigt sie auf den ersten Balken, dann sieht sie sich wieder um und steigt schließlich – wenn auch etwas zittrig – auf den zweiten Balken. Dort richtet sie sich auf und streckt ihre Arme von sich. Entschlossen sieht sie in das reißende Wasser des Flusses unter sich. Sie wird springen. Warum?

Schon Lisas Eltern waren Säufer. Sie waren nie zu Hause und deshalb war Lisa oft allein. Sie schlugen Lisa oft. Und wie man weiß, schlagen die, die geschlagen werden, meistens auch andere. Also schlug Lisa auch ihre Klassenkameraden. Außerdem hatte sie nie Unterschriften und dergleichen mit, die sie in der Schule brauchte. Noch eine schlechte (Schul-)Nachricht: Ihre Noten waren nicht gerade besonders gut (immer 4er und 5er und so… Na ja, ich glaube, ihr wisst schon…). Einmal, sie war wie immer allein – ihre Eltern soffen sich wahrscheinlich gerade in irgendeinem Gasthaus voll – beschloss sie, in die Stadt zu fahren.

Dort angekommen, schlenderte das noch nicht drogensüchtige Mädchen durch die Straßen. Nach einiger Zeit – Lisas Beine waren schon müde und schwer wie Blei – kam sie in eine dunkle Gasse. Dort setzte sie sich erst einmal auf einen großen Stein, um sich auszurasten.

Als schon etwas Zeit vergangen war – Lisa wollte schon wieder aufstehen und weitergehen – wankten fünf Jugendliche mit schwarzen Ringen unter den Augen in die Gasse. Lisa erschrak, denn sie dachte, es wären Schläger. Und da hatte Lisa auch Recht. Doch: Die Jugendlichen taten ihr nichts. Sie traten nur näher zu ihr; Lisa kam fast um wegen ihres Gestanks, doch sie traute sich nicht, den Mund aufzumachen, aus Angst, dannach im Krankenhaus zu landen.

»He, du«, sagte plötzlich einer mit einer Stimme, die sich anhörte, als ob er mindestens zehn Flaschen in sich hineingekippt hätte, »komm mal her!« Lisa ging mit steifen Schritten näher zu ihm hin, fast so als wäre sie ein Roboter.

Der Junge drückte ihr eine Packung Zigaretten und ein kleines, schwarzes Schächtelchen in die Hand, in dem mindestens 20 Pillen waren. Die Pillen sahen komisch aus, länglich waren sie, jede Hälfte hatte eine andere Farbe und von ihnen ging ein undefinierbarer Geruch aus.

Zuerst wollte Lisa all diese gefährlichen Sachen nicht annehmen, doch dann, als einer von den Jugendlichen ein Messer zückte, überlegte sie es sich doch anders und nahm die Drogen an.

»Los, schluck!« befahl der, der sie schon vorher angekrächzt hatte (scheinbar war er der Anführer der Gruppe). Den Blick starr auf die Jungen gerichtet, nahm sie im Zeitlupentempo eine Pille aus der Schachtel und steckte sie sich in den Rachen. Mit einem zu einer Grimasse verzogenen Gesicht schluckte Lisa die Pille.

Plötzlich bekam sie ein mulmiges Gefühl im Bauch und fühlte sich wie von Geisterhand in Trance versetzt. In Lisas Augen wurde die ganze Welt lustig und fröhlich. Aber nach ungefähr einer Stunde ließ die Wirkung nach und Lisa kam es vor, als ob sie in ein tiefes Loch fallen würde. Ihr Körper verlangte nach mehr Stoff.

Bald bemerkte auch Lisa, dass sie drogensüchtig war. Lisa ging es immer schlechter und schlechter. Sie musste eine Lösung finden. Lange Zeit überlegte sie und kam zu dem Schluss, dass der Tod für sie das Beste wäre, denn eine Entziehungskur wäre zu teuer.

Gut, nun sind wir wieder an der Stelle, an der Lisa mit ausgestreckten Armen auf dem Brückengeländer steht.

Lisa atmet noch einmal tief durch und… springt. Und noch bevor sie mit dem Kopf auf einen Stein im kalten Wasser aufschlägt und stirbt, fühlt Lisa sich FREI.