Kornelia Rath (12)

Simeeni

Unendlich viele Jahre sind seit damals vergangen. Ich hin bereits siebenundachtzig. Noch deutlich sehe ich den Tag vor mir, an dem ich sie zum ersten Mal traf. Ich frage mich oft, wie es ihr jetzt geht.

Es ist eine lange Geschichte, zu erzählen, was damals passierte. Niemandem habe ich jemals davon erzählt. Ich weiß auch nicht, was mich je daran hinderte. Jedenfalls denke ich, dass nun die Zeit gekommen ist. Denn ich will nicht, dass sie für immer in Vergessenheit gerät; wenn ich sterben sollte, was sich nun nicht mehr ewig hinausschieben lässt.

Ich glaube, es war der 18. Juli, an dem ich sie getroffen habe. Jedenfalls war es ein schöner Tag gewesen, ziemlich sonnig und heiß. Laut Wetterstation war es der wärmste Tag seit zwanzig Jahren. In Bacâu, so heißt die Stadt, in der ich wohne, wurde die Hitze zusätzlich noch von Glas und Asphalt reflektiert.

Ich arbeitete wie jeden Tag in einer kleinen Bäckerei im Herzen der Stadt, als Verkäuferin. Mir machte die Arbeit in dem kühlen Verkaufsraum nicht sehr viel Spaß. Es kamen zwar viele Leute, um sich mit frischem Gebäck einzudecken, doch interessant war der Beruf nicht. Ich hatte die Stelle nur deswegen angenommen, weil es sonst keine freien Posten gegeben hatte.

Baia, die auch dem Personal angehörte, und ich hatten einiges zu tun. Wir kamen schon nach wenigen Arbeitsstunden zum Schwitzen.

Am Ende des Arbeitstages wurde uns der Lohn ausbezahlt. Nicht sehr hoch, aber er hatte bisher immer noch ausgereicht, um die Mietwohnung zu finanzieren und nicht zu verhungern.

Kurz nach sieben Uhr schlossen wir ab. Ich trat, unschlüssig, welchen Weg ich zu meiner Wohnung wählen sollte, aus der Bäckerei. Ich überlegte immer noch, als ich bemerkte, dass ich mich schon längst entschieden und den kürzeren Weg durch die engen Seitengassen gewählt hatte. Ich ging auf vielen Nebenwegen, auf denen sich nur Ortskundige zurechtfanden. Ich war schon fast angelangt, als ich um eine finstere Ecke bog.

In der Straße, die vor mir lag, sah ich ein Mädchen. Es schlenderte dahin und schien mich nicht wirklich zu bemerken. Sie trat gerade aus der Dunkelheit in den Lichtkegel einer Straßenlampe, und ich konnte erkennen, dass sie kaum älter als neun Jahre sein mochte. Das lange braune Haar fiel strähnig über ihre schmalen Schultern. Man sah ihrer Kleidung an, dass sie vom Land kam, aus eher armen Verhältnissen.

Plötzlich erblickte ich in einer im Schatten gelegenen Einfahrt eine dunkle Gestalt. Sie sah um sich, als wollte sie sich vergewissern, dass sich außer dein Mädchen niemand in dieser Gasse befand. Ich war für sie nicht sichtbar, da ich zu weit entfernt reglos an der Straßenecke stand.

Die Gestalt löste sich aus dem Schatten und eilte zu dem Mädchen. Dabei musste sie durch das Licht einer Laterne. Ich konnte nur erkennen, dass es sich um einen Mann mit dunkelbraunem Haar handelte. Er erreichte das Mädchen, das sich mittlerweile umgedreht hatte.

Mit einem Stock ging er auf sie los. Unschlüssig, was nun zu tun sei, zog ich mich, feige wie ich war, zurück. Ich wartete ab, bis ich kein Geräusch, außer den sich entfernenden Schritten, mehr hörte. Um sicher zu gehen, dass es wirklich die Schritte des Mannes gewesen waren, wagte ich vorsichtig, einen Blick auf die Straße zu werfen. Daraufhin harrte ich noch etwa fünf Minuten aus, damit er garantiert nicht mehr in der Nähe war.

Ich betrat die Straße und ging auf das Mädchen zu. Es lag am Boden, und ich sah eine Blutlacke, die sich langsam dahinrieselnd immer weiter ausdehnte.

Ich eilte zu der Stelle und glaubte, meine Feigheit verfluchend, es sei tot. Ich nahm die Hand und fühlte nach dem Puls. Zu meiner Überraschung war er vorhanden. Mein erster Gedanke war, dass ich das Mädchen unmöglich hier liegenlassen konnte. Das nächste Krankenhaus war allerdings sehr weit entfernt und ohne Auto, denn ich hatte keines, war es unmöglich, sie dorthin zu bringen. Also beschloss ich, sie bis zu meiner Wohnung zu tragen und sie heute Nacht dort übernachten zu lassen. Morgen würde ich dann weiter sehen. Vorläufig wurde es wohl ausreichen, die Wunden gründlich auszuwaschen und zu verbinden.

Darauf achtend, dass ich ihr nicht wehtat, hob ich das Mädchen auf. Zum Glück hatte ich nicht mehr weit zu gehen. So klein das Kind auch sein mochte, so war es trotzdem anstrengend zu tragen.

Angekommen, legte ich es auf die uralte Couch, die bei mir im Wohnzimmer stand, und holte einen nassen Fetzen zum Auswaschen. Ich war einigermaßen beunruhigt, da ich bis auf den Puls und den unregelmäßigen Atem noch immer kein Lebenszeichen erkennen konnte.

Mit einem Tuch band ich anschließend, so gut ich es vermochte, die verwundeten Stellen ab. Ich begutachtete meine Arbeit zufrieden und holte ein Glas Wasser. Mit Hilfe einer Pipette flößte ich dem Mädchen ein paar Tropfen ein. Mehr wollte ich noch nicht riskieren, da ich Angst hatte, sie könne daran ersticken. Aus einer Truhe holte ich ein dünnes Tuch, mit dem ich sie zudeckte. Ein zweites Tuch knüllte ich zusammen und legte es ihr unter den Kopf.

Vollkommen erschöpft begab ich mich daraufhin zur Ruhe und hoffte, das Kind am nächsten Morgen wach vorzufinden. Ich konnte noch länger nicht einschlafen und wälzte mich unruhig in meinem Bett. Es dürfte schon nach Mitternacht gewesen sein, als endlich die Müdigkeit siegte.

um halb fünf Uhr wurde ich durch den Wecker geweckt. Benommen stand ich auf und zog mir mein Lieblingskleid an. Frühstück nahm ich für gewöhnlich erst in der Bäckerei ein.

Neugierig stieg ich die kleine Treppe hinab und trat vor die Couch. Das Mädchen lag noch genauso da, wie ich es am letzten Abend hingelegt hatte. Ich nahm ein frisches Glas Wasser und benetzte ihre Lippen. Ich war enttäuscht, denn es gab so vieles, das ich sie fragen wollte.

Ich untersuchte noch einmal die Verbände und stellte fest, dass die Wunden nicht entzündet waren.

Ich musste schon um fünf Uhr in der Bäckerei sein und ließ daher das Mädchen bis zum Abend alleine. Ganz wohl war mir zwar nicht dabei, hatte aber keine andere Wahl.

In der Bäckerei frühstückte ich mit Baia, die zugleich auch meine beste Freundin war. Wir sprachen über alles Mögliche. Das Mädchen und den Vorfall von gestern erwähnte ich allerdings nicht.

Um sechs sperrten wir die Bäckerei auf und warteten auf die ersten Kunden. Es wurde ein ähnlich betriebsamer Tag wie der letzte. Ich habe mir einmal gedacht, dass es interessant zu wissen wäre, wie viele Gebäckstücke wir an einem Tag verkaufen. Es dürften wohl einige hundert sein.

Ich unterhielt mich noch mit einigen Stammkunden, wenn ich nicht gerade zu beschäftigt war.

Nach Ladenschluss eilte ich heim. Als ich nach dem Mädchen sah, erlebte ich eine freudige Überraschung.

Sie hatte die Augen offen und blickte mich skeptisch an. Sie machte einen fiebrigen Eindruck.

»Wer bist du?« fragte sie mich. »Ich hab dich noch nie gesehen.«

Ich erzählte ihr, wie ich sie gestern gefunden hatte und dass ich sie zu mir nach Hause brachte, um ihr zu helfen.

Sie nickte, so gut sie konnte. »Danke. Das war nett von dir. Es ist wirklich ein Glück, dass du zur Stelle warst.«

»Wohl wahr, aber es ist kein Verdienst von nur, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein. Ich weiß, es geht mich ja nichts an, aber vielleicht sagst du mir trotzdem, wer der Mann war.« Ich konnte nicht verbergen, dass es mich brennend interessierte.

»Wenn ich dir in einer Kurzfassung erzähle, wer er war und warum er mich niedergeschlagen hat, lautet es etwa so:

Als ich neu in die Stadt kam, hatte ich kein Geld. Ich begann also mit dem Betteln. Bald schon habe ich bemerkt, dass es sich davon nicht leben lässt. Zudem waren wir damals noch zu zweit: meine Mutter und ich. Sie starb kurz darauf an dem schlechten Essen, glaube ich jedenfalls.

Von da war es dann nicht mehr weit bis zum Stehlen. Ich klaute alles, was ich finden konnte. Den Mann habe ich nicht nur einmal bestohlen. Er hat einen Stand auf einem der Märkte. Dort verkauft er geräucherten Fisch. Er war mir schon oft hinterher gerannt, doch stets war ich ihm entkommen. In dem Labyrinth aus Seitengassen konnte er es nicht mit mir aufnehmen.

Dieses eine Mal jedoch ist er mir gefolgt, ohne von mir bemerkt zu werden. Er muss wohl eine ziemliche Wut auf mich gehabt haben. Du weißt ja, wie du mich gefunden hast.« Sie sah mich an.

So war das also gewesen. Ich konnte ihre verzweifelte Lage verstehen. Ich hätte wahrscheinlich auch zu stehlen begonnen, wenn mir nichts anderes übriggeblieben wäre. Darum machte ich ihr auch keinerlei Vorwürfe.

Da fiel mir wieder ein, dass ich mir doch gesagt hatte, heute zu überlegen, wohin ich sie jetzt bringen sollte.

»Soll ich dich in ein Krankenhaus bringen?« Ich wusste nicht, wie ich sie hier weiter pflegen könnte.

»Nein, bitte nicht. Ich will lieber hier bleiben.« Und schüchtern fügte sie noch hinzu. »Wenn es dir nichts ausmacht.«

Ich konnte einfach nicht nein sagen, ohne dass ich mir schlecht vorgekommen wäre.

»Es macht mir nichts aus. Aber ich hin kein Arzt und weiß nicht, wie ich dir helfen soll.«

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass du überhaupt etwas machen kannst oder musst. Jetzt werde ich noch ein bisschen schlafen, damit ich wieder zu Kräften komme.«

Ich reichte ihr vorher noch etwas zu trinken. Zu essen bot ich ihr auch an, doch sie lehnte ab.

Sie schlief schnell wieder ein, und so schlich ich aus dem Zimmer und legte mich auch schlafen.

Der nächste Tag hatte begonnen, und ich sah als erstes nach meiner Patientin, die aber noch immer schlummerte, und so verließ ich das Haus, ohne mich von ihr zu verabschieden. Ich legte jedoch einen Zettel neben die Couch, für den Fall, dass sie lesen konnte. Ich schrieb, dass ich zur Arbeit müsse und erst am Abend wieder zurück wäre. Ich hatte auch einen Teller mit einem Butterbrot bereitgestellt.

In der Bäckerei musste ich feststellen, dass Baia nicht mehr hier arbeitete. Sie hatte sich, ohne mir etwas zu sagen, eine neue Arbeit gesucht. Was, weiß ich nicht.

Dafür gab es jetzt eine neue Verkauferin. Sie hieß Nicolae. Ich wusste nicht recht, war ich von ihr halten sollte. Sie war schon um einiges älter als ich. Wohl so um die vierzig. Sie schien schlecht gelaunt und schüchtern zu sein. Dick war sie ebenfalls, und ihr kurzes schwarzes Haar war fettig.

Ich zweifelte jedenfalls daran, ob wir jemals so gute Freundinnen werden würden, wie ich und Alwa.

Einige Stunden später war die Arbeit erledigt, und ich betrat wieder die Wohnung.

Das Mädchen war wach und begrüßte mich lächelnd, als ich ins Wohnzimmer trat. Auf den ersten Blick sah sie recht munter aus. Fieber haue sie trotzdem starkes.

Ich sah mir die Wunden an. Eine hatte sich entzündet. Daraufhin wechselte ich die Verbände aus.

»Das wäre geschafft«, sagte ich. Mir fiel ein, dass ich sie noch gar nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.

»Ich heiße Simeeni. Den Namen hat einst meine Großmutter ausgewählt«, antwortete sie auf meine Frage.

»Ich heiße Piatra.« Ich hatte einmal gewusst, was der Name bedeutet. Ich denke, es hatte irgendetwas mit Wasser zu tun.

»Du hast mir doch gestern gesagt, dass du noch nicht lange hier in der Stadt bist. Wo hast du dann zuvor gewohnt?« Die Frage war mir gerade wieder eingefallen.

»Ich habe in einem winzigen Ort in der Nähe von Sulina gewohnt, falls dir das etwas sagt. Das Dorf war so klein, dass es nicht einmal einen Namen hatte. Es wohnten dort fast nur Verwandte von mir.«

»Wieso bist du dann in die Stadt gekommen? Wenn ich die Wahl zwischen einem solchen Dorf und Bacâu hätte, wurde ich auf keinen Fall hierher kommen.«

»Wenn du willst, kann ich dir alles von Anfang an erklären.

Ich nickte. Darauf erzählte sie mir ihre lange Geschichte…

Ich wohnte in diesem winzigkleinen Dorf, weitab von jeder Stadt. Wir hatten eine Hütte am Rande des Dorfes. An klaren Tagen konnte man bis zum Meer sehen, wo mein Vater mit einem Onkel oft fischte.

Neben uns wohnten meine Großeltern. Ich besuchte sie fast jeden Tag. Dann erzählte mir meine Großmutter immer Geschichten. Meistens lustige, aber hin und wieder waren sie auch richtig spannend.

Eine Hündin hatten wir, die hieß Iasi. Er war sehr klein und kläffte fast die ganze Zeit. Mein Opa mochte ihn nicht. »Er macht zu viel Lärm«, hat er immer gesagt. Mit Iasi konnte ich immer Spaziergänge zum angrenzenden Wald machen. Dort spielten wir immer Stöckchen werfen. Das war Iasis Lieblingsspiel.

Wir lebten gut in unserem kleinen Dorf, und wir hatten nie zu klagen. Bis dann vor einem Jahr das große Unglück passierte.

In der Früh ging mein Vater mit meinem Onkel zum Hochseefischen. Das taten sie oft, und sie hatten auch spezielle Boote, mit denen sie so weit hinaus fahren konnten. Ich durfte einmal mitfahren. Das haben sie mir dann aber nicht mehr erlaubt, da ich angeblich immer im Weg stand.

Ich rannte ihnen bis zu der Stelle, an der sie ihre Boote abstellten, nach und verabschiedete mich von ihnen. Ich winkte ihnen noch lange nach.

Mit Iasi ging ich zurück zu unserer Hütte und half meiner Mutter beim Kochen. Sie machte Linsensuppe.

Da wir nicht über elektrischen Strom verfügten, kochten wir immer über einem kleinen Feuer. Wir hatten in und vor unserer Hütte zwei Feuerstellen.

Dieses Mal kochten wir vor der Hütte, weil das Wetter zu schön sei, um im Haus zu kochen, meinte meine Mutter.

ich durfte aufpassen, damit nichts anbrennt.

Als es dann fertig war, luden wir Oma und Opa ein. Sie lobten meine Kochkünste, obwohl das meiste meine Mutter gemacht hatte.

Nach dem Essen blieben sie noch einige Zeit bei uns, um auf meinen Vater zu warten, der bald vom Fischen zurück sein sollte. Wir gaben meinen Großeltern auch immer etwas von dem Fang ab, weil es für uns alleine meistens zu viel war und es wäre schließlich schade gewesen, den Fisch verderben zu lassen.

Doch mein Vater kam nicht. Auch nach zwei Stunden war er nicht da. Doch wir dachten uns nichts dabei. Es kam öfter vor, dass wir länger warten mussten. Unruhig wurden wir erst, als auch nach Einbruch der Dunkelheit niemand kam. Das war höchst ungewöhnlich.

Meine Mutter machte sich Sorgen. Wir gingen zum Strand, um nach dem Boot Ausschau zu halten. Es war jedoch keines zu sehen.

Mein Großvater meinte, dass wir vorerst nichts anderes tun könnten, als abzuwarten. Wenn mein Vater und mein Onkel am nächsten Tag nicht da sein sollten, wollte er sie mit seinem eigenen Fischkutter suchen.

In der nächsten Nacht schlief keiner von uns. Ich träumte die ganze Nacht hindurch von einem wilden Sturm. Mein Vater und mein Onkel hatten dagegen keine Chance. Gerade, als das Boot unterging, wachte ich auf.

Meine Mutter war schon wach und redete vor der Hütte mit meinen Großeltern. Nach Sonnenaufgang fuhr mein Opa los, um nach ihnen zu suchen.

Wir anderen setzten uns in den Schatten der Bäume. Um mich aufzuheitern, erzählte mir meine Großmutter lustige Geschichten. Damit ich sie nicht kränkte, lachte ich immer, wenn ich glaubte, dass sie es von mir erwartete. Meine Mutter schälte Reis. Eigentlich warteten wir alle nur darauf, meinen Opa mit meinem Vater und meinem Onkel kommen zusehen. Wir mussten uns aber noch lange gedulden.

Erst am späten Nachmittag erblickten wir Großvaters Fischkutter am Horizont. Wir eilten zum Strand. Noch bevor das Boot anlegte, wussten wir, dass die Suche erfolglos war.

»Leider.« Mein Opa schüttelte den Kopf. »Ich habe das ganze Gebiet abgesucht. Ich kann sie nicht übersehen haben.«

»Was sollen wir machen?« Ich war ratlos.

»Vorerst gar nichts. Sie werden schon wieder kommen«, sagte meine Großmutter, nicht wirklich zuversichtlich.

Niedergeschlagen zogen wir uns in die Hütten zurück. Wir warteten. Auch nach zwei Wochen noch. Niemand war gekommen

Mein Opa suchte noch öfter nach ihnen, kehrte aber immer mit der gleichen Nachricht, sie nicht gefunden zu haben, zurück.

Langsam wurde es zur Gewissheit, dass sie wohl nie wieder kommen würden. Jeden Tag ging ich mit Iasi zum Strand und suchte das Meer nach Booten ab. Manchmal sah ich welche. Ich glaubte dann immer, es wäre ihres, aber wenn sie näher kamen, bemerkte ich meinen Irrtum.

Irgendwann war ein Jahr vergangen. Wir begannen, uns damit abzufinden, dass sie nie wieder kommen würden.

Keiner sprach die Wahrheit aus, und vor den anderen meinte jeder, dass noch Hoffnung bestünde. Man merkte jedoch, dass sie logen.

Eines Tages machte ich eine Entdeckung, die mich sehr beunruhigte:

Meine Mutter begann Landkarten zu studieren, was sie noch nie getan hatte. Oft saß sie stundenlang davor.

Als ich mich einmal leise ins Wohnzimmer schlich, beobachte ich sie dabei, wie sie die wichtigsten Dinge zusammenpackte.

Als ich sie fragte, warum sie das tat, erschreckte sie sich ziemlich. Es war ihr sichtlich nicht recht, dass ich sie beobachtet hatte.

»Wir werden in die Stadt ziehen. Ich habe keine Lust mehr, hier in diesem Dorf zu bleiben.«

Das kam so abrupt, dass ich im ersten Moment gar nicht recht begreifen wollte. »Warum sagt mir denn keiner etwas?« Ich fühlte mich übergangen. Ich mochte nicht weggehen.

»Ich habe noch niemandem etwas gesagt. Ich hatte keine Lust, es dir zu sagen. Du hättest dann so lange gejammert, bis ich es mir noch anders überlegt hätte.« Meine Mutter wirkte so entschlossen wie selten zuvor.

Ich war wütend. Doch es half nichts. Ich musste noch am selben Tag alles zusammenholen, was ich benötigte. Ich wollte alle meine Spielsachen mitnehmen, doch meine Mutter war dagegen.

»Die Rucksäcke werden zu schwer, wenn wir auch das noch mitnehmen. Hol nur, was du brauchst. In der Stadt werde ich dir neue Spielsachen besorgen.«

Also trug ich sie wieder zurück in mein Zimmer. Mein Rucksack wurde trotzdem noch voll. Ich ging noch vor Sonnenuntergang zu Bett, um ausgerastet zu sein. Das tat ich sonst nie, weil ich um diese Zeit für gewöhnlich nicht müde bin.

Am nächsten Tag brachen wir früh auf, ohne meine Großeltern benachrichtigt zu haben.

Ich durfte nicht einmal Iasi mitnehmen. Meine Mutter meinte, dass sie nicht das richtige Tier für eine großes Stadt sei. Sie war nicht an Autos gewöhnt und würde sich ängstigen.

Wir kamen aus unserem Dorf hinaus und gingen durch den Wald, in dem ich immer mit Iasi gespielt hatte.

Es wurde bereits Nachmittag, als wir ihn verließen. Weit im Westen konnte man nun hohe Berge erkennen. Der höchste und nächste ragte wie ein von Schnee gekrönter Zahn in den Himmel. Ich war froh, dass sie nicht in der Richtung lagen, die wir einschlagen mussten.

Unser Weg zog sich nun auf dem Grund einer Senke dahin. Hier waren kaum Bäume zu sehen, außer denen, die wir weit hinter uns gelassen hatten.

Gegen Abend kamen wir in ein anderes tieferes und hinteres Tal, das von hohen Hügeln umgeben war.

Mir taten meine Beine schon so weh, dass ich meine Mutter bat, hier Rast zu machen.

Wir ließen uns nieder und machten es uns so gemütlich, wie nur irgendwie möglich.

»Wie viele Tage müssen wir noch gehen, um zur Stadt zu gelangen?«

Ich hatte mich nie für Entfernungen interessiert und es längst aufgegeben, sie zu schätzen.

»Noch zwei Wochen, denke ich. Dafür müssten wir uns aber beeilen. Das würde bedeuten, den ganzen Tag hindurch zu gehen und erst, wenn es dunkel wird, zu rasten.«

Ich hatte mir vorgestellt, so zwei oder drei Tage unterwegs zu sein. Aber mit zwei Wochen hatte ich nicht gerechnet.

Ich verzehrte die mickrige Mahlzeit, die mir meine Mutter gab, und legte mich mit knurrendem Magen nieder, um zu schlafen. Meine Mutter gab mir dicke Decken, in die ich mich hineinkuschelte. Ich schlief sofort ein und wachte erst wieder auf, als ich unsanft geweckt wurde.

Als Frühstück bekam ich ein Stück Maisbrot. Dann machten wir uns auf den Weg. Wir erstiegen einen der uns umgebenden Hügel. Vor uns erkannten wir zwei weitere Hügelrücken, die aber um einiges steiler waren. Dahinter schien es flacher zu werden. Der anschließende Marsch über die zwei Rücken ließ uns den darauf folgenden Weg umso bequemer erscheinen.

Nach einiger Zeit, in der wir nichts anderes als öde Gegend durchwanderten, kamen wir abermals in einen Wald. Dieser hier war noch um einiges größer und dunkler als der andere. Ich nahm mir unterwegs einen Ast, den ich als Stock benutzte.

Wir mussten jetzt öfters Halt machen, da sich meine Mutter nicht sicher war, wohin wir gehen mussten. Ich denke, nach einiger Zeit kam sie darauf, dass wir von der Ideallinie abgewichen waren. Jedenfalls war es das, was ich ihren Flüchen entnehmen konnte. Angeblich mussten wir nun längs durch den Wald und würden erst später wieder auf unbewaldetes Gebiet stoßen. Mir konnte das völlig egal sein, ich hatte es nicht eilig, in die Stadt zu kommen.

Wir mussten einigen irreführenden Mooren ausweichen, die uns noch weiter von unserer Route abbrachten. Irgendwann warf meine Mutter die Nerven weg und wich den Mooren nicht mehr aus. Wir durchquerten sie, um wieder zum richtigen Kurs zu gelangen. Die Stechmücken ließen uns dabei nicht in Frieden. Ich wurde von einer ganzen Armee angefallen.

Durch Moore zu gehen ist anstrengend. Man kann nicht einfach stur geradeaus gehen. Es verlangt daher eine Menge Umsicht.

Den besten Weg hindurch zu finden, war beinahe unmöglich.

Nach zwei Tagen ließen wir jedoch die Moore und ihre Tücken hinter uns und gelangten in wegsamere Gegenden. Die Landschaft wandelte sich schlagartig und wurde unbewaldet und gewellt. Von jeder Erhöhung hatte man eine gute Aussicht.

Wir kamen zu einem Flusslauf, dem wir ein langes Stück stromaufwärts folgten. Ich blieb oft zurück und warf Steine hinein. Dann rannte ich wieder, um meine Mutter einzuholen.

Nachdem wir den Bach überquert hatten, floss er nun nicht mehr zu unserer Rechten, sondern zu unserer Linken.

Bald aber trennten wir uns von ihm. Er führte in Richtung der hohen Berge, wo er vermutlich seinen Ursprung hatte. Wir gingen in die entgegengesetzte Richtung.

In unserer Richtung wurde die Gegend flacher. Ich fand das gar nicht gut. Wenn man nämlich weit nach vorne blicken kann, hat man das Gefühl, eine Schnecke zu sein und nicht vorwärts zu kommen.

In der Landschaft gab es länger keine Veränderung, und sie zog sich eben und langwierig dahin.

Wir durchwanderten sie noch zwei Tage, bis wir zum ersten Mal in besiedeltes Gebiet gelangten. Wir kamen durch mehrere Dörfer, die unserem in der Größe glichen. Ich fand nur, dass sie nicht so heimelig wirkten.

Wir gingen noch eine Woche lang durch dünn bewohntes Land und trafen selten auf größere Ortschaften.

Die Leute sahen uns dort schief an, weil wir noch die Sachen aus unserem Dorf trugen. Zusätzlich hatten wir uns lange nicht mehr gewaschen und waren auf unserem Weg schmutzig geworden. Woran vor allem das Moor schuld war. Ich stellte mit Entsetzen fest, dass mein Haar, auf das ich immer so stolz gewesen bin, total verfilzt war. Ich hoffte, die Knoten wieder mit einer Bürste herauszubekommen, wenn wir erst einmal in Bacâu wären.

Beschwerlich war unser Weg vor allem deswegen gewesen, da es bisher nicht wirklich Straßen gab, die uns weiterhalfen. Es waren meistens nur Pfade, denen man auf kurzem Stück folgen konnte. Doch sie hörten dann irgendwo auf oder machten eine Kurve, und führten dann in die falsche Richtung. Die meisten dieser Wege waren klein und wurden nur selten einmal zum Jagen benutzt.

Nach dieser einen Woche änderte sich das aber schlagartig. Die Orte wurden größer, und es gab richtige Straßen. Das machte unsere Reise bequemer, und wir kamen schneller voran.

Nur das Finden eines Schlafplatzes wurde dadurch erschwert. Wir mussten immer im Freien übernachten, weil unser Geld nicht für eine Unterkunft gereicht hätte. Abgesehen davon, gab es kaum welche. Da es nicht angenehm war, mitten in einem Ort auf der Straße zu schlafen, gingen wir immer ein Stück querfeldein. Dort legten wir uns an einer geschätzten Stelle nieder.

Das ging noch einige Zeit ganz gut, aber irgendwann blieb uns nichts anderes übrig, als uns in Seitengassen einen Platz für die Nacht zu suchen. Es wäre schon zu weit gewesen, jeden Tag die besiedelte Gegend zu verlassen.

Am zehnten Tag unserer Reise sah ich zum ersten Mal ein Auto. Ich kannte so etwas nur aus Erzählungen. Im ersten Moment hatte ich eher Angst vor diesen vierrädrigen Geschossen. Später fand ich sie sogar interessant.

Immer dichter reihten sich die Häuser, bis wir irgendwann von ihnen eingeschlossen wurden.

Und dann hatten wie es geschafft. Am dreizehnten Tag unserer Reise lag die Stadt vor uns.

Die Häuser wurden immer höher, und der Verkehr nahm stetig zu.

Vor der Ortstafel blieb meine Mutter stehen, als würde es sich um einen historischen Platz handeln.

»Wie lange habe ich mich auf diesen Moment gefreut… Aber so habe ich mir die Stadt nicht vorgestellt.«

Sie blickte die grauen Mauern an, die rundherum bedrohlich in die Höhe ragten.

Mir wurde schwindlig, wenn ich an ihnen empor sah. Leider musste ich meiner Mutter Recht geben. Auch ich hatte es mir nicht so vorgestellt. Wenn ich das Wort »Stadt« gehört hatte, stellte ich mir einen bunten Ort vor, an dem sich viele lustige Leute, wie die in unserem Dorf, treffen. Auch stellte ich sie mir nicht so laut und endlos vor. Das einzige, was mir wirklich gefiel, waren die Autos, die zwar einen Höllenlärm verursachten, aber sonst meinen Vorstellungen entsprachen. Meine Mutter lud sich wieder das Gepäck auf.

»Nicht gleich verzweifeln. Lass uns zuerst weitergehen. Vielleicht ist das Zentrum schöner.«

Gegen Nachmittag hatten wir das Zentrum erreicht. Es sah zwar wirklich schöner aus, war aber auch nicht so toll wie gedacht. Die meisten Häuser waren moderne Bauten, und nur sehr selten entdeckte man ein altes Gemäuer. Eine große Menschenmenge wälzte sich durch die Straßen, und wenn man nicht aufpasste, wurde man von ihr mitgerissen.

Doch meine Aufmerksamkeit wurde auf den knurrenden Magen gelenkt. »Ich hab Hunger«, jammerte ich.

»Wir werden schon was zu essen finden«, beruhigte mich meine Mutter.

Wir suchten einige Zeit lang planlos nach etwas Essbarem, bis sich meine Mutter mit mir an einem Maisfladen-Stand anstellte. Als wir an der Reihe waren, wusste sie nicht recht, was sie sagen sollte.

»Wollen Sie eines der besten Maisfladen der ganzen Stadt«, warb der Verkäufer für seine Ware.

»Ja bitte. Zwei Stück. Es ist nur so… Wir haben leider kein Geld, um zu bezahlen, wären Ihnen aber dankbar, wenn Sie uns vorläufig etwas gratis geben würden. Wir werden es Ihnen später zahlen.«

Der Gesichtsausdruck des Verkäufers änderte sich, und er sah auf einmal zornig aus. »Dann macht, dass ihr wegkommt. Hier kriegt niemand etwas gratis! Das würde euch so passen!«

Wir duckten uns und liefen davon. Verstört zogen wir uns in eine Seitengasse zurück. Man muss verstehen, dass wir so etwas einfach nicht gewohnt waren.

Meine Mutter ließ ihren Blick durch die schmale Gasse schweifen. Sie hatte einen entschlossenen Gesichtsausdruck und ging zu einem der überquellenden Abfallübel.

»Wenn es sonst nichts zu essen gibt, müssen wir uns eben mit dem begnügen, was die anderen übriglassen.« Sie langte hinein und wühlte darin, ehe sie ein halb verschimmeltes Brot hervorhob. Sie riss die schimmligen Stellen ab und warf sie wieder in den Müllcontainer. Den Rest reichte sie mir.

»Da, nimm. Wir können es uns nicht leisten, wählerisch zu sein.«

Ich nahm das Brot und betrachtete es mit Ekel. Es roch nach dem Abfall im Container. Wenn ich nicht so einen Hunger gehabt hätte, wäre es mir erst gar nicht eingefallen, es zu essen.

Ich hielt. die Luft an und machte einen großen Bissen. Es schmeckte übel, aber trotzdem besser, als ich es mir gedacht hätte.

Meine Mutter hatte derweilen auch für sich etwas Genießbares gefunden. Sie kam mit ein paar überreifen Orangen.

Gesättigt zogen wir uns in eine Nische zurück und schliefen erschöpft ein.

Am nächsten Morgen musste ich mir in Erinnerung rufen, wo ich mich befand. Zuerst dachte ich, ich wäre zu Hause und alles wäre wieder so wie früher. Doch als ich mit meiner Hand den kühlen Stein fühlte, wusste ich sofort wieder, wo ich mich befand und dass nichts so war, wie es sein sollte. Ich hätte weinen können vor Enttäuschung.

Neben mir schlief meine Mutter noch immer. Ich hörte auf der anderen Straßenseite ein Rascheln und fuhr hoch. Ein Schatten huschte über die Pflastersteine. Zu meiner Erleichterung handelte es sich um eine Ratte. Doch musste ich feststellen, dass sie von ungewöhnlicher Größe war. Sie schlüpfte in den Container, aus dem wir gestern unser Essen geholt hatten. Angewidert verkroch ich mich noch tiefer in die Nische.

Später bemerkte ich, dass mich der Schlaf wohl noch einmal übermannt hatte. Meine Mutter streckte sich bereits neben mir. Es schüttete in Strömen, und ich war total nass. Ich zitterte am ganzen Körper.

Wir begaben uns auf die Suche nach einem trockenen Platz, den wir schließlich unter einem Vordach fanden.

Dort harrten wir aus, bis der Regen am Nachmittag endlich nachließ. Nach einem spärlichen Mittagessen versuchten wir, uns erst einmal in der Stadt zu orientieren. Durch viele Gässchen gelangten wir schließlich zu einer Art Hauptstraße. Hier wimmelte es nur so vor Leuten. Die Gebäude wirkten hier gepflegter. Es schloss ein Geschäft an das andere, und wer Geld hatte, bekam alles, was er sich nur vorstellen konnte.

Ich schaute nur einige Auslagen an und hätte am liebsten alles gekauft. Wir irrten planlos umher.

Plötzlich ergriff meine Mutter meinen Arm und zerrte mich in einen Seitenweg. »Mir ist gerade eine Idee gekommen. Frag jetzt nicht viel und mach, was ich dir sage.«

Sie schmierte mein Gesicht mit Schlamm ein, den es hier überall am Wegrand gab. »Du wirst für uns betteln.« Als sie meine betretene Miene sah, fügte sie noch schnell hinzu: »Es wird nicht wieder vorkommen.«

Sicher war ich mir da zwar nicht, machte ihr aber den Gefallen.

Sie stöberte noch in einem Abfalleimer und holte triumphierend eine Blechdose hervor. In der Dose war Fisch gewesen, am Etikett und vor allem am Gestank erkennbar.

mit der Blechdose und dem schmutzigen Gesicht schickte mich meine Mutter auf die Straße. Sie selber würde immer in der Nähe bleiben, sich aber im Hintergrund halten. Ich hatte schon vorhin, als wir die Straße entlang gingen, ein paar Bettler beobachtet, wie sie so etwas machten.

Ich bat die Leute anfangs noch unsicher um Geld, doch mit der Zeit beherrschte ich meine Rolle besser. Die meisten Leute stießen mich einfach aus dem Weg und gaben mir gar nichts. Viele schienen mich nicht einmal zu bemerken. Ihre einzige Reaktion war, dass sie noch ein bisschen eiliger weitergingen, sofern das möglich war. Dann gab es Leute, die mich verächtlich anschauten, und vereinzelt wurde ich sogar beschimpft. Die allerwenigsten aber gaben mir etwas. Auch dann war es nicht viel.

ich merke schnell, dass wir mit dem Betteln nicht weiterkommen würden. Gegen Abend war die Dose erst viertelvoll, und die meisten Münzen waren so gut wie wertlos.

Wir konnten uns von dem Geld einen Teller Bohneneintopf kaufen und mussten ihn teilen. »Wir werden uns eben etwas anderes einfallen lassen müssen«, meinte meine Mutter.

»Was denn anderes?«

»Das weiß ich doch nicht. Bis morgen wird mir noch eine Idee kommen. Aber lass uns erst einmal ausruhen.«

Doch am nächsten Morgen ging es ihr nicht gut. Sie klagte über starke Bauchschmerzen, und ich bemerkte dass sie Fieber hatte.

Ich ging zu den Abfalleimern und holte uns zwei Scheiben Karottenbrot. Sie aß ihren Teil sofort auf. Anschließend legte sie sich wieder nieder, weil sie dann, wie sie sagte, nicht ganz so starke Kopfschmerzen hatte. Ich saß, während sie ruhte, die ganze Zeit neben ihr, um ihr zu helfen, wenn sie etwas brauchen sollte.

Sie übergab sich einige Male, und ich war ziemlich besorgt um sie. Ich dachte mir, dass vielleicht das verdorbene Essen schuld an ihrer Erkrankung war. Deswegen wollte ich uns eine bessere Mahlzeit besorgen, als das aus dem Container.

Ich nahm wieder meine Dose und machte mich auf den Weg zur Hauptstraße. Dort begann ich abermals zu betteln. Ich sagte immer, ich würde das Geld für meine kranke Mutter brauchen, doch niemand gab mir etwas.

Ich hatte noch weniger Erfolg als am vorhergehenden Tag. Nach vier Stunden waren erst wenige Münzen in meiner Dose, und ich hatte versprochen, spätestens nach fünf Stunden wieder zurück zu sein. Es blieb nur also nicht viel Zeit, weiter zu betteln, und so ließ ich es bleiben.

Ohne etwas Essbares wollte ich aber nicht zurückkommen, und so überlegte ich, was ich machen könnte.

Da kam mir eine ziemlich verwegene Idee. Ich wollte älteren und unaufmerksamen Damen ihre Handtaschen stehlen.

Ich hatte ein kleines scharfes Messer, das ich immer bei mir trug für den Fall, es zu benötigen. Das war jetzt genau das, was ich brauchen konnte.

Ich suchte nach einem geeigneten Opfer und schlich mich von hinten an eine grauhaarige Frau an, die eine Auslage studierte. Sie schien kurzsichtig zu sein. Zudem sah sie nicht sehr gelenkig aus.

Ich blickte noch einmal um mich, ob mich auch niemand beobachtete, dann setzte ich das Messer an. Mit der scharfen Klinge war es kein Problem, den Henkel schnell durchzuschneiden. Mit einem Ruck entriss ich ihr die Tasche, und noch bevor sie sich umdrehen konnte, war ich zwischen den Leuten verschwunden. Ich rannte, so schnell mich meine Beine trugen, zu einer Seitengasse und rastete kurz.

Das hatte ich geschafft. Um ehrlich zu sein, war ich sogar stolz auf mich. Zu meiner Freude schien mich niemand gesehen zu haben, denn ich wurde nicht verfolgt.

Ich kramte in der Tasche. Ich fand zwei Brillen, mehrere Medikamente und noch anderes Zeug, für das ich keinen Gebrauch hatte. Schließlich entdeckte ich auch eine Geldtasche. Ich öffnete sie und staunte, da ich noch nie so viel Geld auf einmal besessen hatte.

Nun musste ich mich allerdings beeilen und uns etwas zu essen kaufen. Ich ließ die Handtasche zurück und nahm nur die Brieftasche mit.

Ich kaufte an einem Stand zwei riesige Portionen Kartoffelgulasch zum Mitnehmen.

Meine Mutter freute sich, als sie die beiden Riesenteller sah. Sie hatte aber kaum Appetit, und so aß ich auch noch die Hälfte ihrer Portion.

In der Nacht warf sie sich unruhig umher und schien nicht einschlafen zu können. Da ich immer aufwachte, wenn sie sich umdrehte, lag auch ich die meiste Zeit wach. Erst am Vormittag konnte ich dann endlich schlafen.

An diesem Tag musste ich nicht nach Geld suchen. Ich hatte noch genug vom letzten Tag übrig, um uns etwas zu besorgen.

Es wurde ein öder Tag. Mit meiner Mutter konnte ich mich nicht einmal mehr unterhalten. Die meiste Zeit dämmerte sie vor sich hin. Gegen Abend bekam sie Schüttelfrost, und es schien ihr trotz der enormen Hitze kalt zu sein.

Es besserte sich auch nach einer Woche nicht. Sie konnte überhaupt nichts mehr essen, ohne sich zu übergeben. Das bereitete nur große Sorgen.

Und irgendwann, an einem regnerischen Morgen, wachte sie nicht mehr auf. Ich fühlte nach ihrem Puls, spürte aber keinen. Ihr Gesicht und ihre Hände waren steif und kalt.

Ich weinte einige Stunden lang und wollte es nicht wahrhaben.

Ich hatte keine Lust, sie hier in der finsteren Gosse liegen zu lassen. Ich konnte sie aber auch nicht wegtragen, denn ich wusste nicht, wohin. Also deckte ich sie nur mit ihrem Lieblingstuch zu.

Am Nachmittag ging ich in die Kirche und zündete eine Kerze für sie an. Lange stand ich davor und blickte in die kleine Flamme, die munter vor sich hin brannte. Es ärgerte mich, dass sie sich zu freuen schien und nicht den Ernst dieser Minuten begriff. Erzürnt blies ich sie aus und verließ traurig die Kirche.

Ich wollte nicht zu dem Platz zurückkehren, an dem ich mit meiner Mutter stets übernachtet hatte. Er würde mich zu sehr an sie erinnern. Ich suchte in den Seitenwegen nach einem neuen Schlafplatz und fand in letztendlich. Er kam mir nicht so gemütlich vor wie der andere, reichte aber vollkommen aus.

»Ich denke nicht, dass ich dir noch viel erzählen muss. Den Rest kennst du ohnehin schon.

Ich begann also immer mehr zu stehlen, und bald wagte ich es sogar in den großen Warenhäusern. Irgendwann entdeckte ich dann den einen Marktstand, der dem Mann gehörte. Und jetzt bin ich hier.«

»So kamst du also in die Stadt.«

Sie hatte alles sehr ausführlich berichtet.

Wenn man bedachte, was sie schon mit neun Jahren erlebt hatte, musste man zugeben, wie ereignislos mein Leben war. Ich wurde hier in dieser Stadt geboren. lebte bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr bei meinen Eltern und zog dann in diese Wohnung. Ich bekam gleich darauf Arbeit in einer Bäckerei. Das war es dann auch schon.

»Warum soll ich dich dann nicht in ein Krankenhaus bringen?«

»Weil ich glaube, dass das nichts bringen wird. Ich fühle mich nicht sehr gut. Es tut nur schrecklich Leid, dir zur Last zu fallen, aber bitte bring mich nicht in ein Krankenhaus.«

Sie sah mich bittend an.

Ich gewährte ihr den Wunsch und versprach, sie nicht in ein Krankenhaus zu bringen.

»Weißt du, was ich später einmal machen werde?« fragte sie mich plötzlich. Ich hatte natürlich keine Ahnung.

»Ich werde zurück zu meinen Großeltern gehen und Iasi wieder treffen. Ich freue mich schon so darauf.« Ein Leuchten trat in ihre vom Fieber trüben Augen.

Eine Woche später war es so weit. Simeeni würde ihre Familie wiedersehen. Besonders freute sie sich auf ihren Vater und auf ihre Mutter. Sie hoffte, früher oder später, auch ihre Großeltern und Iasi wiederzusehen.

An der Türschwelle drehte sich Simeeni noch einmal um. »Wirst du mich auch einmal besuchen kommen?«

»Ich denke schon. Aber erwarte mich nicht zu früh. Es können noch viele Jahre vergehen, ehe ich komme.«

Sie gab sich mit der Antwort zufrieden.

Ich begleitete sie bis vor die Tür.

»Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen.«

Ich winkte ihr zum Abschied, und sie winkte zurück. Ich sah ihr noch nach, bis sie im grellen Licht verschwand.

Eine Woche später ließ ich sie in ihrem Dorf begraben.

Nun liege ich hier in einem kleinen Raum mit weiß gekalkten Wänden.

Schon vor einem Jahr haben sie mich hergebracht, als ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Wie lange das alles schon her ist.

Ich denke, ich werde hier schon alleine aus Langeweile ein Buch über Simeeni schreiben. Die Frage ist nur, wer einer alten und verkalkten Frau glauben wird.

Anmerkung: Piatra starb am 22. August 1988 in einem Altersheim. Vor ihrem Tod verfasste sie ein Buch mit dem Titel »Simeeni«, das in Rumänien spielt. Der Text ist eine Zusammenfassung davon.