Elisabeth Leopold (13)
Als ob ich so anders wäre!
Meine Mutter sagte immer zu mir: Jeder Mensch ist etwas Besonderes, etwas Einzigartiges, denn jeder ist anders. Keiner ist gleich. Manche sind ähnlich, aber nicht gleich. Kein Mensch hat alles. Der eine keine Arme, der andere keine Achtung oder keinen Respekt. Bei dem einen fällt mehr auf, was ihm fehlt, bei dem anderen weniger. Du kannst dich eben nicht bewegen, dafür hast du bestimmt andere Eigenschaften, die du gut beherrscht. Du bist eben anders. Sei stolz darauf. So hat dich Gott in die Welt gesetzt. Wenn dich jemand beleidigt, dann denk an diese Worte. Und denk auch daran: Man sollte nie tun, was einem selbst nicht getan werden will.
Meine Mutter war wohl die Einzige, die in mir mein Inneres und nicht mein Äußeres sah. Dem Rest der Familie war ich peinlich. War eine Missgeburt, war von jemand anderem abhängig und stand im Weg, war eine Plage, ein Störenfried. Ob ich nun etwas dafür konnte oder nicht. Ich wurde verstoßen. Oft dachte ich an die Worte meiner Mutter, die ich nach ihrem Tod aufgeschrieben hatte, um nicht den Glauben an mich zu verlieren. Wenn jeder Mensch doch anders ist. Warum bin ich dann anders als anders, zu anders? Wenn die Kinder, die mich beleidigten, die Welt einmal mit meinen Augen gesehen hätten, hätten sie gewusst, wie sie sich bessern könnten.
Oft zweifelte ich an den Worten: »Sei stolz auf dich«. Auf was sollte ich denn auch stolz sein. Auf meinen Rollstuhl? Dass ich nie müde wurde, weil ich immer in einem rollenden Stuhl herumkutschiert wurde? Doch die Worte meiner Mutter bedeuteten mir zu viel, um sie für eine Lüge zu halten. Sie war nun mal die Einzige, die mich liebte und achtete, für die ich gleich viel bedeutete wie jeder andere auch. Ihr war gleichgültig, ob ich behindert war oder nicht. Das gab mir Lebenskraft. Doch, wie schon erwähnt, sie starb. Meine zwei älteren Brüder heirateten und zogen aus.
Man spricht oft von den guten, alten Zeiten. Doch ich bin froh, dass sich meine Situation mit der Zeit gebessert hat.
Ich möchte jetzt von meiner Kindheit erzählen.
Es war ein kalter Wintertag. Der 22. Dezember. Ich saß in meinem Rollstuhl in der Stube, vor dem Kamin. Die Flamme wurde kleiner. Bald würde sie ausgehen, und der Vater würde sich wieder aufregen, dass ich nicht das Holz holen konnte.
Die Flamme erlosch. Ich drehte mich um. Der Vater schlief im Lehnstuhl, er hatte den ganzen Tag im Straßenbau gearbeitet. Langsam fuhr ich zur Tür, wickelte den Schal um und zog Vaters Mantel an. Ich blickte zurück, sein Schnarchen übertönte das Knistern im Kamin. Ich öffnete die Tür und rollte in den Schnee.
Es war kühl, aber nicht viel kühler als in der Hütte. Wenn man nicht gerade vor dem Kamin saß. Ich musste achtgeben, dass ich auf dem abgegangenen Weg, der zum Wald führte, nicht abrutschte.
Der Wald warf finstere Schatten. Es war erst später Nachmittag, und trotzdem wurde es langsam dunkel, als ich den Wald erreichte. Ich kämpfte mich durch den Schnee, plötzlich fiel mir ein kleines Bäumchen mit dünnem Stamm auf.
Der Wunsch zur Weihnachtszeit, ein Bäumchen in der Stube stehen zu haben, wurde immer größer. So nahm ich ihn mit, in der Hoffnung, der Vater würde noch schlafen.
So war es aber nicht.
»Was schleppst du denn da an! Einen Christbaum? Fehlt nur noch, dass du auch noch ein Geschenk dazu haben willst. Außerdem sollst du dich nicht draußen herumtreiben. Muss ja nicht jeder wissen, dass ich eine Schande im Haus hab. Und jetzt steh nicht im Weg herum.«
Ich behielt ihn trotzdem und stellte ihn vor mein Bett. Am nächsten Tag schmückte ich ihn sogar mit ein paar Holzäpfeln, die mein Vater verkaufte. Auf die Spitze setzte ich einen Strohstern, der eigentlich aus Heu bestand.
Der Vater war wieder bei der Arbeit. Ich rollte in die Werkstatt, wo mein Vater die Holzäpfel und noch ein paar andere Sachen herstellte. Das waren unsere einzigen Räume, außer dem Stall mit zwei Schafen und zwei Ziegen. Doch er war undicht und so klein wie ein sehr schmales Bett. In der Werkstatt verbarg sich auch mein Geheimnis, von dem nur meine Mutter wusste, dass es es gab. Es waren Zeichnungen. Von Landschaften, Menschen, Häusern und Tieren. Doch es waren nicht einfach Zeichnungen, es waren richtige Bilder, und meine Mutter war stolz auf sie.
Ich kochte, wusch und lernte ein wenig. Ich konnte nicht zur Schule gehen. Wie auch, ich war zu weit weg, um mich jeden Tag mit dem Rollstuhl hinunter zu kämpfen. Noch dazu wohnten wir auf einem steilen Abhang und es wäre geradezu lebensmüde, sich allein mit dem Rollstuhl dort hinunter zu wagen. So lehrte ich, mit Hilfe Mutters alter Schulbücher, mich selbst das Wichtigste, so gut es eben ging.
Nach einiger Zeit kam der Vater nach Hause. Betrunken. Hier fing alles an, er trank immer öfter und schlug mich auch.
Eines Tages wurde es mir zu viel und ich schlich mich in den Wald, während er schlief. Ich rollte mich unter eine Tanne und zeichnete, dass ich meine Kälte vergaß.
»Du malst sehr schön!« hörte ich eine Stimme hinter mir sagen.
Langsam drehte ich mich um. Es war ein Mädchen in meinem Alter.
»Ich heiße Anika«, sagte sie und lächelte.
»Ich bin Mara«, gab ich leise zurück und wendete mich wieder meiner Zeichnung zu.
Ihr war anscheinend langweilig, denn schon nach kurzem wusste ich über ihre ganze Familie Bescheid. Doch ihre Gesprächigkeit machte mir Mut, besonders weil sie kein Wort über meine Behinderung verlor. Wir unterhielten uns lange, bis wir über meine Familie zu sprechen begannen. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte so ein Vertrauen zu ihr, dass ich ihr von allem erzählte, vom Tod meiner Mutter und vom Trinken meines Vaters.
Sie tröstete mich, als ich zu weinen begann, sprach mir gut zu, wenn ich unsicher war. Es kam mir vor, als kannte ich sie schon ewig. Ich hatte Angst, nach Hause zurückzukehren.
Doch als ich zu Hause ankam, schlief mein Vater. Anika und ich hatten uns für den nächsten Tag verabredet und dann für den übernächsten und den überübernächsten.
Die Zeit verging, mein Vater kam spät in der Nacht und stand vor mir wieder auf. Ich bekam ihn kaum zu Gesicht und wenn, dann war er betrunken und schlug mich. Es wunderte mich, dass er seinen Job behielt, das glaubte ich eben.Wir waren dicke Freunde geworden. »Hallo, hallo«, schrie ich der laufenden Anika entgegen.
Es war ein schöner Frühlingstag, und wir suchten nach einer hübschen Gegend, die sich als Bild eignete. Anika zeichnete so gern wie ich. Nur beschwerte sie sich immer, dass ich es besser konnte.Wir lachten und kicherten, als plötzlich ein junger Mann vor uns stand. Anika lachte ihn an. Ich schämte mich dafür, dass ich Anika mit meiner Anwesenheit blamierte. Doch sie machte nicht den Eindruck, als ob es so wäre. Sie plauderte munter drauf los und stellte mich vor. Anscheinend kannte sie ihn.
Der Mann, der, wie sich herausstellte, Paul hieß, war mir sehr sympathisch, er schaute nicht einmal aufmerksam auf meinen Rollstuhl. Mir wurde plötzlich klar, dass nicht, wie ich immer glaubte, die Mehrheit der Menschen so wie mein Vater waren, sondern so wie Anika, und dafür war ich ihr plötzlich sehr dankbar. Ich plauderte so munter drauf los, dass sogar Anika ein wenig verwundert war.
Anika erzählte ihm, dass wir uns morgen treffen würden, und fragte ihn, ob er auch Lust hätte zu kommen.
Ich war ganz aus dem Häuschen, schließlich war ich fast nie unter Leuten. Den restlichen Nachmittag tat ich etwas, was ich noch nie zuvor getan hatte, ich zog ein Kleid meiner Mutter an. Eines, das mir an ihr immer besonders gut gefiel. Ich musste nur achtgeben, dass Vater mich nicht so sah.
Als ich die Kleider am nächsten Tag anzog, wurde mir erst klar, wie vernachlässigt ich neben Anika gewirkt haben muss. Ich wusch mir die Haare und machte mich auf den Weg. Ich kam mir richtig hübsch vor und hoffte, Anika würde es auch gefallen.
»Wau, da hast du dich aber schön herausgeputzt. Hast du dich etwa in meinen Bruder verliebt?«Der Gedanke kam mir zum ersten Mal. Aber eigentlich stirnmte es. Doch jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. Was, wenn er das auch dachte. Dass ich mich für ihn herausgeputzt hatte. Länger konnte ich mir keine Gedanken darüber machen, denn Paul bog um die Ecke.
Wir verstanden uns gut, er war Anika sehr ähnlich. So kam es dazu, dass er mich einmal fragte, ob ich nicht ein paar Gehversuche machen wollte. Zuerst erschütterte mich diese Frage. Doch ich versuchte es. Es tat höllisch weh, als ob ein Schwarm Wespen einen auf einmal stechen wollte, doch ich biss die Zähne zusammen. Bei meinem zweiten Versuch tat es schon weniger weh, und mit der Zeit wurde der Wunsch, dass ich laufen konnte, immer größer. Ich übte und übte, bis ich mit Hilfe eines anderen schmerzenfrei gehen konnte, und ich heiratete Paul.
Wenn ich zurückdenke, danke ich für mein Glück, dass ich Anika und Paul jemals kennengelernt habe, und wünsche mir heute noch, dass meine Mutter mich so sehen könnte, im Brautkleid und ganz ohne Rollstuhl.