Lisa Heidinger (12)

Ausbruch

Ich schreckte auf. Es war finster. Stockfinster. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich stieg aus dem Bett und schlich zur Tür. Vorsichtig legte ich mein Ohr an das Schlüsselloch. Von draußen waren Schritte zu hören. Sie entfernten sich, und kamen wieder näher. Ich wusste genau, wer das war. Es war Professor Krane. Jede Nacht machte sie hier ihre Runde, weil es den Kindern sogar verboten war, des Nachts aufs Klo zu gehen.

Ich entfernte mich wieder von der Tür und schlich zum Fenster. Vorsichtig drückte ich die blankpolierte Klinke hinunter. Ein leises Knirschen war zu hören. Ein Seufzer. Wie vom Blitz getroffen sah ich mich um. Ich atmete schneller. Es war nur Michael gewesen. Er atmete tief und regelmäßig und schnarchte manchmal leise, aber er schlief.

Vorsichtig öffnete ich das Fenster ganz. Dann begab ich mich zurück zu meinem Bett. Ich hob die Matratze an. Unter dieser lag ein dicker Strick. Ich holte das lange Seil heraus und knotete es an einem Fuß meines Bettes fest. Das andere Ende des Strickes ließ ich beim Fenster heraushängen. Ich nahm einen kleinen Rucksack und packte allerlei Gebäck aus meinem Nachtkästchen ein. Ich hatte es beim Abendessen vom Tisch weg gestohlen, denn das Aufbewahren von Lebensmitteln war den Kindern auch verboten. Dann legte ich ein kleines, versiegeltes Briefchen in die Lade von Michaels Nachtkästchen. Und ein zweites, auf dem »An Katharina weiterreichen« stand.

Ich zog mir meine Jacke an und begab mich wieder zum Fenster. Ich stieg über das Sims und hielt mich gekonnt am Seil fest.

»Marc!«, ertönte eine Stimme. »Lässt du mich hier alleine?«

Erschrocken sah ich auf. Es war David. Er hatte sich schlafend gestellt und gesehen, wie ich alles vorbereitet hatte.

»Oh… Äh, nein! Ich geh’ nur spazieren! Morgen Früh bin ich wieder zurück!«

David senkte den Kopf. »Hm, na dann, viel Glück da draußen! Ich hoffe wir sehen uns wieder!«

»Aber nein! Ich komme doch bald wieder zurück!« machte ich einen zweiten Anlauf.

»Jaja, das hat mein Vater auch gesagt, als er mich und Mum verlassen hat!« Eine Träne rann über seine Wange. Er wischte sie schnell weg.

»Ach, komm, irgendwann sehen wir uns wieder, dass versprech’ ich dir!« Ich lächelte ihm zu, doch David vermied es, mir in die Augen zu sehen. Vorsichtig glitt ich am Seil hinunter. Etwa einen Meter über dem Boden sprang ich ab.

David würde mich nicht verraten – nein! David nicht! Er war der Jüngste aus meinem Zimmer. Dann waren da noch Jakob und Michael. Leise lief ich an der Hauswand entlang. Irgendwann würde ich frei sein. Frei wie damals, bevor mich meine Eltern in das Internat gesteckt hatten. Aus Trotz hatten sie es getan. Weil ich nicht das Musterkind gewesen war, das sie sich vorgestellt hatten.

Ich kniete mich auf den Boden. Ich robbte im hohen Gras der Weide weiter. Am Tag grasten hier Kühe. Manchmal, wenn ich traurig war, hatte ich mich auf den hölzernen Weidezaun gesetzt und ihnen meine Sorgen anvertraut, doch nun schliefen sie im Stall. Ich drehte mich um. Weit hinter mir sah ich noch die Lichter des Internats.

»Auf nimmer Wiedersehen!« murmelte ich noch, dann verschwand ich im Wald.

Nach vielen Stunden des orientierungslosen Dahinmarschierens wurde es langsam wieder hell. Die Sonne ging auf und weckte neuen Mut in mir. Erschöpft ließ ich mich auf einen Baumstumpf fallen. Der Hunger quälte mich sehr. Ich packte eine zähe Semmel aus und machte mich gierig darüber her. Ich dachte nach. Irgendwo musste ich ein neues Zuhause finden. Irgendwo und möglichst bald, bevor der Winter hereinbrach. Ich stellte mich auf den Baumstamm und sah mich um. Viel war von hier aus nicht zu erkennen, doch ein paar Kilometer entfernt sah ich Rauch aufsteigen. Dort musste eine Stadt oder wenigstens ein Dorf sein. Ich nahm den Rucksack auf die Schultern und machte mich wieder auf den Weg.

Michael war schon vor einer halben Stunde aufgewacht, weil David ihn geweckt hatte mit den Worten: »Marc ist abgehaut.« Betrübt zog Michael sich an. Zuerst hatte er geglaubt, es sei ein Scherz, doch nachdem David ihm den Strick gezeigt hatte, wusste er, dass es eine traurige Tatsache war. Er hatte sich schon geduscht und angezogen. Er öffnete die Nachtkästchenlade, um seine Zahnbürste herauszuholen, doch die Zahnbürste war sofort nebensächlich, als er die Briefe erblickte. Er faltete den an ihn gerichteten auf.

Lieber Michael!

Es tut mir Leid, euch einfach so im Stich lassen zu müssen, doch ich hab es nicht mehr ausgehalten. Ich werde eine Stadt suchen, und mich dort nach einem Zuhause und einer Arbeit umzusehen – Schwarzarbeit, versteht sich. Ich habe dir einen Brief für Katharina beigelegt. Bitte gib ihn ihr mit allerliebsten Grüßen von mir. Ich dachte mir, wenn ich einen Beruf finde, kann ich euch Briefe schreiben. WENN! Die Adresse weiß ich ja, nur das Geld für die Marken müsste ich dann auftreiben! Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Irgendwann einmal!

Also, liebe Grüße noch!

Marc.

PS.: Es tut mir Leid, dass ich mich so nach Freiheit gesehnt habe.

Michael war entsetzt. Für einen Moment war er sprachlos. Dann versteckte er Marcs Brief unter der Matratze und ging mit dem anderen los zu den Mädchenschlafkammern. Um diese Zeit war hier kein Professor, der Gangaufsicht hatte, weil die Professoren sich alle auf den Unterricht vorbereiteten. Michael klopfte drei Mal kurz und zwei Mal lang an das Zimmer Nummer 21. Nach einiger Zeit erst war das Klicken eines Schlüssels zu hören und Katharina öffnete verschlafen die Tür.

»Michael! Was willst du denn hier? Um diese Zeit?« Michael sagte nichts, er gab ihr nur den Brief und verschwand wieder.

Als Katharina die Türe wieder versperrt hatte und sich am Bett niedergelassen hatte, entfaltete sie den Brief.

Liebe Katharina!

Ich hab es endlich geschafft, von hier zu türmen. Es tut mirLleid! Aber (ich habe es Michael schon mitgeteilt) wenn ich eine Arbeit finde, werde ich dir und Michael Briefe schicken, oder besser gesagt, ich werde Michael einen Brief für dich mitschicken, den er dir dann geben soll.. Ich wollte dir nur sagen (falls du es nicht eh schon bemerkt hast), ich finde dich einfach toll! Ich mag dich sehr und finde es eigentlich schade, dass ich dich nicht mehr sehen werde. Aber ich verspreche dir, irgendwann treffen wir uns wieder.

Mit Grüßen,

Marc.

Neben Marcs Unterschrift war ein kleines Herzchen gezeichnet. Katharina lief eine Träne über die Wange. Ja, sie hatte ihn auch sehr gerne. Leise weinte sie in ihren Polster. Zum Glück schliefen ihre Zimmerkolleginnen noch.

Hier endete der Wald. Ein weites Feld zog sich über die ganze Landschaft. Am anderen Ende dieses Feldes sah ich eine Stadt. Meine Vermutungen hatten sich also bestätigt. Es war sogar eine gar nicht so kleine Stadt! Ich war nur mehr ein paar hundert Meter von meinem Ziel entfernt. Das letzte Stück lief ich noch.

Fröhlich schlenderte ich durch die sauberen Straßen der Stadt. Ein Markt fand statt und viele Menschen strömten aus allen Richtungen hierher. Bei einem Obststand blieb ich stehen. Eine dicke Bäuerin stand hinter vielerlei glänzenden Apfelsteigen. Ein Apfel war auf die Straße gefallen. Da er ein bisschen verdreckt war, hob ich ihn auf, um die Marktfrau zu fragen, ob sie ihn mir schenken könnte, doch gerade als ich ihn hochhob, tippte mir jemand auf die Schulter. Blitzschnell drehte ich mich um. Hinter mir stand ein großer, stämmiger Polizist, der drohend mit einem Knüppel wedelte.

»Du wolltest doch nicht etwa das Obst stehlen, oder, junger Mann?!« Ein Grinsen ging über sein Gesicht.

»N… Nein! Der Apfel war auf die Straße gefallen, ich wollte ihn bloß aufheben und der Marktfrau zurückgeben!«

»Soso, wie anständig von dir! Kann das auch jemand beweisen?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Wo wohnst du denn, sind deine Eltern hier?«

»N… Ja!«, stotterte ich und sah mich hilfesuchend um. Dann erblickte ich eine Frau, die mit dem Rücken zu mir stand.

»Die da! Das da ist meine Mutter!«, rief ich und zeigte mit dem Finger auf die Frau.

»Soso, dann werden wir das gleich mal überprüfen!« Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der Polizist packte mich am Arm und zog mich zu meiner angeblichen Mutter. »Guten Tag Ma’am. Ist das hier zufällig ihr Sohn?«

Die Dame drehte sich um. »Nein, ich habe keine Ki… Ah ja, Jonny! Da bist du ja! Du kleiner Ausreißer! Ich hab dich überall gesucht!« Sie fiel mir um den Hals. Erstaunt blickte ich sie an. »Danke, Officer! Das ist wirklich zu nett!«, rief sie. »Komm Jonny, gehen wir!« Sie nahm mich an der Hand und entfernte sich mit mir vom Marktplatz. Der Polizist blickte mir zornig nach.

Als wir außer Reichweite waren, bedankte ich mich bei der Frau.

»Danke, Ma’am! Das war wirklich cool von Ihnen. Aber warum haben Sie das eigentlich getan?«

»Erstens: Sag nicht immer ‚Ma’am‘ zu mir! Ich heiße Samantha. Zweitens: Ich war ja auch mal jung! Was glaubst du, wie oft ich von Zuhause ausgebrochen bin!« Sie lachte. Diese Frau faszinierte mich. Sie hatte so eine Ausstrahlung… »Und drittens: Du bist doch der Junge, der aus dem Hannsschen-Internat ausgebrochen ist, Marc, oder?«

»Woher wissen Sie das?«

»Mein Junge, die Presse berichtet den ganzen Tag darüber!« Ich war verdutzt. Darum also hatte mich der Polizist festgehalten! Wahrscheinlich hatte er es schon geahnt…

»Und was willst du jetzt machen?« fragte sie mich.

»Ich weiß nicht, ich werde irgendwohin gehen, wo mich keiner kennt… Zum Beispiel nach Deutschland oder in die Schweiz.«

Ich wusste zwar selbst, dass ich nicht ausreichend Geld dazu hatte, aber es war nur so ein Einfall gewesen. Wieder lachte sie. Es war kein Auslachen, nein, es war eher ein sonniges, aufheiterndes Lachen!

»Und wo willst du jetzt wohnen?«

»Hm…« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Wenn ich das recht verstehe, dann hast du im Moment kein Zuhause.«

Ich nickte. Jetzt erst fiel mir auf, wie altmodisch ihre Kleidung war. Sie trug ein blaues, knöchellanges Kleid mit Rüschen an den Ärmeln, an Kragen und Fußende. Dann trug sie noch einen im gleichen Blauton gefärbten Filzhut mit einer aufgenähten Pfauenfeder. Ihre Strümpfchen waren schneeweiß, hauchdünn und auch am Saum verrüscht. Außerdem trug sie einen Schirm, der mit altmodischen Mustern bestickt war und statt einer Handtasche hatte sie einen geflochtenen Korb bei sich, der mit einem rotweiß-karierten Tuch bedeckt war. Ihre blonden Haare bewegten sich leicht im Wind. Sie war jung, vielleicht 25.

»Kind, ich hätte da eine grandiose Idee! In meinem Häuschen hab ich ein unbewohntes Gästezimmer. Was wäre, wenn du bei mir wohnen würdest?«

Mein Gesicht hellte sich auf. »Das wäre das Tollste, was je jemand für mich getan hat!« Ich war echt froh, dass sie die letzten Worte gesagt hatte. Doch wusste ich nicht, ob ich mich je einmal dafür würde revanchieren können.

Katharina beobachtete Professor Krane. Nervös marschierte diese im Zimmer umher. David und Michael saßen auf den Stühlen neben Katherina.

»Kollegin Krane! Bitte erklären Sie mir, wie das passieren konnte! Sie waren doch diejenige, die in der betroffenen Nacht Aufsicht hatte, oder täusche ich mich da?« Die magere, in schwarz gehüllte Direktorin funkelte Professor Krane zornig an, die abrupt stehen blieb.

»Es… Es tut mir Leid, Frau Direktor, aber ich habe den Gang genauestens beobachtet… Er kann nur durchs Fenster entkommen sein!«

»Mhm…!« Ein böses Lächeln huschte über das Gesicht von Direktor Hannsen. »Wie sie vielleicht schon bemerkt haben… Oder scheinbar doch nicht… Der Junge IST durchs Fenster getürmt! Der Strick, mit dem er sich abgeseilt hat, hing noch an seinem Bett befestigt aus dem Fenster!«

»Oh… Ähm… Davon wusste ich nichts.« Nach einer kurzen Pause fügte Krane hinzu: »Aber da sehen Sie’s ja! Ich hatte nur Gangaufsicht! Und außerhalb des Schulgebäudes gibt es keine Aufsicht!« Verzweifelt trat sie von einem Fuß auf den anderen.

»Hören Sie mir gut zu, verehrte Kollegin! Die Presse belagert mich schon den ganzen Vormittag! Ich kann keinen Schritt vor die Tür tun, ohne von Sensationsreportern fotografiert und interviewt zu werden!«

»Aber ich kann doch nichts dafür…«

»Verdammt noch mal! Halten Sie die Klappe! Wenn ich rede; dann hat hier niemand anderer zu reden! Wenn Sie es in Zukunft nicht schaffen sollten, so einen Vorfall zu verhindern, dann SIND SIE SUSPENDIERT!«

Krane war dem Heulen nahe. Zum ersten Mal in ihrem Jahren an dieser Schule tat sie Katharina richtig Leid.

»Und nun kommen Sie mir am besten für den Rest des Tages nicht mehr unter die Augen!« schrie Hannsen die am Boden zerstörte Professorin an. Diese verließ unter Verbeugungen den Raum. Hannsen fasste sich an die Zornesfalte auf ihrer Stirn. Diese war in der letzten halben Stunde enorm angeschwollen. »Nun zu euch«, murmelte sie.

Samantha blieb vor einem kleinen, altmodischen Häuschen stehen, das von der Farbe her genau zu ihrem Kleid passte. Sie holte einen Schlüssel aus ihrem Korb und sperrte die Wohnungstür damit auf. Die Tür knarrte laut, als sie geöffnet wurde. Ich war nicht besonders erstaunt, als ich in den ersten Raum eintrat. Wie ich es mir vorgestellt hatte, war auch er mit altmodischen Möbeln angefüllt. Ein abgetretener Perser-Teppich schmückte den Boden, das anscheinend handgezimmerte Holztischchen mit dem Elfenbeinmuster war einladend mit alten Keramiktassen gedeckt. Alles war feinsäuberlich hergerichtet. Ein Tellerchen mit Keksen stand auch schon am Tisch. Die Wände waren mit alten Ölgemälden verziert, teilweise waren Bauern und Feldherrn bei der Arbeit abgebildet, teilweise waren es einfach nur Stillleben. Das Zimmer war so sauber, und so einladend, dass ich mich gar nicht mehr davon losreißen konnte. Da weckte mich eine Stimme aus meinen Gedanken.

»Marc, willst du nicht meinen Mitbewohner kennenlernen?« Mitbewohner? Sie hatte einen Mitbewohner? Neugierig trat ich durch die Tür. Samantha stellte sich lächelnd neben mich. Mit festem Griff hielt sie einen Kater in ihren Händen.

»Das ist ‚Mäuschen‘, mein Kater. Ich weiß, ‚Mäuschen‘ ist nicht gerade der passendste Name für einen Kater, aber er ist ein seltsames Tier. Er ist irrsinnig ängstlich und bei dem kleinsten Geräusch verkriecht er sich unter dem Tisch und wenn er Hunger hat, dann quiekt er immer so komisch!« Sie lachte. Sie setzte den Kater auf den Boden. Dieser kam auf mich zu, beschnupperte mich und begann sich wie wild an meine Füßen zu schmiegen.

»Dich mag er wohl! Das ist selten, dass er einen Fremden auf Anhieb mag!«

Ich beugte mich hinab und streichelte das Tier. »Samantha, ich will ja nicht unhöflich sein, aber darf ich fragen, warum Sie sich so altmodisch kleiden?«

Wieder lächelte sie mich an. »Klar darfst du. Weißt du, ich bin eine entfernte Verwandte von Hubert Lichtenstein. Der war ja früher mal Fürst in Österreich. Um genau zu sein bin ich seine Nichte. Damals, als er noch einen eigenen Hof hatte und ein altmodisches Haus, das fast so groß war wie ein Schloss, da ging ich zusammen mit seinen Töchtern und meinen anderen Cousinen in Österreich auf eine Privatschule. Doch ich war nicht so die Brave, ich hing immer mit den Buben ‘rum, und wenn ich die Nase voll hatte, dann schlüpfte ich durch ein kleines Loch in der Mauer, die um seinen Besitz gezogen war und lief mit meinem besten Freund in den Wald. Dann kam ich meistens erst spät am Abend heim. Hubert versuchte immer das Loch zu finden, aber es war gut versteckt hinter einer alten Eiche!« Sie lachte geheimnisvoll.

»Wirklich! Dann hab ich es ja mit einer richtigen Adeligen zu tun!«

Sie grinste. »Nana, wir wollen ja nicht gleich übertreiben! Aber weißt du, es hat mir damals so gut gefallen, dieser edle, altmodische Stil und ich dachte mir, wenn ich einmal Nachkommen kriegen sollte, dann sollten sie das weiterführen!«

»Das kann ich verstehen!« gab ich zur Antwort.

Mit hochrotem Kopf trat Katharina aus dem Zimmer der Direktorin. David und Michael saßen noch immer drinnen. Da kam Jakob angerannt. »Katharina! Was ist los? Hat sie euch wieder mit dem Bambusstock auf die Finger geschlagen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber die blöde Hexe hat sich doch ernsthaft gedacht, ich verrate ihr, wo Marc sich hinbequemt hat!«

»Und was hast du ihr gesagt?«

Sie grinste verschwörerisch. »Na, was glaubst du denn! Sie hat gefragt: ‚Und, weißt du, wo er ist?‘ und ich hab gesagt ‚Ja.‘ Und sie hat gewartet und gewartet, dass ich es ihr endlich verrate, doch ich hab nix gesagt, und dann hat sie gesagt: ‚Und, wo ist er?‘ Und dann hab ich gesagt: ‚Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Ihnen das verrate!‘ Boah! Ich sag’s dir! Die ist voll ausgezuckt! Dann hat sie schon den Bambusstock geschwungen, und auf einmal hat das Telefon geläutet und dann hat sie gesagt, ich solle verschwinden. Aber die anderen Zwei sind noch drinnen.«

»Aha«, sagte Jakob, doch dann flüsterte er ihr zu: »Und weißt du wirklich, wo er steckt?«

»Nein, bist du wahnsinnig?! Ich wusste ja nicht einmal, dass er vorhatte zu türmen!«

Jakob lachte, doch plötzlich war ein lauter Schrei aus dem Zimmer von Hannsen zu hören. Die Türe wurde aufgerissen, und David kam tränenüberströmt heraus. Er heulte wie am Spieß und seine Finger bluteten. »Oh Gott, oh Gott«, stöhnte Katharina nur. Zusammen mit Jakob half sie David in sein Zimmer. Dort suchte sie Verbandsmaterial aus dem Medizinschrank. Während Jakob ihn tröstete, verband sie ihm die Hand. Als David sich ein bisschen beruhigt hatte, erzählte er: »So fest hat die Alte noch nie geschlagen! Ich glaub, diesmal hat sie mir wirklich die Finger gebrochen!« Und wieder fing er zu weinen an.

Samanthas Haus war zwei Stockwerke hoch. Dann gab es noch den Dachboden, aber der war nur mit einer Stehleiter zu erreichen. Gerade stehen konnte man nur in der Mitte dieses schmalen Raumes, denn links und rechts ging es schräg hinunter, weil da ja das Dach war.

Samanthas Schlafzimmer, das Gästezimmer und das Badezimmer waren im ersten Stock, Wohnzimmer, Küche, Esszimmer und Toilette im Erdgeschoss.

»Hast du Lust, ein bisschen bummeln zu gehen?« fragte Samantha mich, nachdem sie mir mein Zimmer gezeigt hatte.

Ich stimmte begeistert zu. »Ich müsste sowieso dringend ein paar Briefe schreiben.«

»An deine Freunde, nicht wahr?« Samantha zwinkerte ihm zu. Er nickte. »Ja, es ist nur so… ich hab kein Geld!«

»Ach, diese sieben Schilling für eine Briefmarke sind doch wirklich kein Problem! Nur für deine weitere Zukunft hier müssen wir uns was ausdenken. Denn für zwei reicht mein Gehalt nicht aus!«

Marc dachte nach. »Was arbeitest du denn eigentlich?«

Sie lächelte verschmitzt. »Ich bin Schauspielerin!«

»Cool! Adelige und Schauspielerin auf einmal!« Marc staunte nicht schlecht, was sich hinter dieser einfach aussehenden Person alles verbarg. »Wo spielst du denn?«

»Mmm… Ich spiele beim ‚Jedermann‘ mit. Das ist ein österreichisches Theaterstück und aus Österreich sind extra ein paar Schauspieler gekommen, um uns zu zeigen, wie das zirka sein sollte. Da muss ich den Tod spielen… Und im Moment proben wir gerade für irgend so was vom Hamlet!« Sie stellte sich so hin, als würde jemand vor ihr stehen, dem sie auf die Schultern greifen konnte. Ich blieb stehen und verfolgte genau mit, was jetzt geschah.

»Jedermann, deine Zeit ist gekommen! Du gefühlloser Mensch! Endlich darf ich dich mitnehmen in die Hölle!« sprach sie in ziemlich geschwollen klingenden Worten. Ich lachte! Sie fuhr herum und rief: »Schweiget! Wer lästert hier über den Tod? Oder wollt Ihr der Nächste sein?«

Ich reagierte schnell und kniete vor ihr nieder. »Wie konnte ich nur so schelmisch lachen, oh Herrscher über Tod und Leben?! In Respekt will ich mich Euch unterwerfen!« Ich machte einen Knicks und der Tod kicherte. Die vorrübergehenden Passanten sahen uns verständnislos an. Lachend schlenderte ich mit Samantha die Straße entlang. Sie war wirklich Rettung in Not für mich. Und nicht nur das, sie war für mich, wie die coolste Mutter überhaupt. Sie verstand mich, sie wusste immer, was mir durch den Kopf ging, sie war charmant und witzig und außerdem eine exzellente Schauspielerin!

In einer Trafik kaufte sie mir eine Briefmarke. »Wie heißt diese Stadt hier eigentlich?«

»Das? Wir befinden uns hier in Exeter. Das ist ganz in der Nähe des Dartmoors. Exeter ist nicht gerade beliebt, weil es so viele Geheimnisse rund um das Dartmoor gibt, neben dem wir liegen. Mir soll's egal sein. Hauptsache, ich fühle mich hier wohl!«

»Aha, Exeter!« murmelte ich.

Bei einem Schaufenster blieb sie stehen. Es war ein Designer-Modegeschäft für Damen. Samantha zeigte mit dem Zeigefinger auf ein ganz ausgeflipptes Kleid. Es war pink, ein so grelles Pink, dass man erst einmal geblendet war, wenn man das Kleid bewunderte. Am Dekolletee befestigt waren auffällige lila Plastikrosen. Außerdem war das Kleid am Fußende schräg abgeschnitten und den Saum hinauf schlängelten sich Quasten. Aber das Allerschrillste an diesem Kleid war, dass es mit durchsichtigem Plastik überzogen war. Ja wirklich! Mit so was am Körper musste man sich ja fühlen wie ein Einkaufssack!

Sie kreischte entzückt auf, packte mich an der Hand und zog mich in den Laden. »Das muss ich probieren! Jetzt gibt's gleich was zum Lachen. Ich will den Verkäufer ein bisschen schälen. Komm, hilf mir dabei. Spielen wir Familie Steinreich!«

Ein Verkäufer kam auf uns zu. Nein, es war eher ein wandelnder Schminktisch! Man sah deutlich, dass er auch wirklich Puder auf seine Wangen aufgetragen hatte. Seine chlorgebleichten Haare sahen aus, als hätte ein Hund darübergeschleckt.

»Die Dame – der Herr – darf ich Ihnen behilflich sein?« Samantha spitzte die Lippen. »Hm… Was haben Sie denn so im Angebot für eine edle Dame, wie ich es bin? Geld spielt keine Rolle! Davon haben wir ja zu Hause genug herumliegen, nicht wahr, Amadee?!«

»Jawohl, Mutter!« antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. Es war wie Kabarett vom Feinsten. Der Verkäufer räusperte sich. Scheinbar schien er zu wittern, dass diese Kundschaft nicht ohne war.

»Meine, Dame, ein spezielles Designerangebot, direkt aus London eingeflogen vor einer halben Stunde. Das, jawohl, DAS ist das Richtige für eine Dame von Welt, wie Sie es sind!« Er stolzierte zur Auslage und brachte das rosarote Kleid mit.

»Oh ja, es sieht wirklich… Wie soll ich sagen… einzigartig aus!«

»Jawohl, Madam, glauben sie mir, das IST es auch!« Er stolzierte damit zur Umkleidekabine und legte das Kleid auf einen Schemel darin. Als Samantha nicht reagierte, meinte er ein wenig verärgert: »Wenn ich Sie nun in die Umkleidekabine bitten darf?!« und wies sie mit einer einladenden Geste ein. Nach wenigen Minuten wurde der Vorhang zur Seite geschoben und Samantha stolzierte heraus. Ich verkniff mir ein Lachen. Das Kleid sah doch wirklich zu lächerlich aus. Doch ich brachte noch ein »Bezaubernd siehst du aus, Mutter!« heraus.

»Oh ja, das finde ich auch!« Sie ging zurück in die Kabine und zog sich wieder ihr blaues Kleid an.

»Junger Herr, wie viel kostet dieses bezaubernde Designerkleid?«

»Mhm… 8599 Schilling.«

»WAS???? Und sowas wollen Sie mir unterjubeln?«

Der Verkäufer verzweifelte. »Aber meine Dame, ich dachte, der Preis spielt keine Rolle!«

»Sie… Sie… Sie Betrüger, Sie!«

»Aber… meine Dame! Das ist doch ein ganz fairer Preis für so ein neues Kleid!«

»Merken Sie sich eines: Ich kaufe niemals Kleider unter 10.000! Leben Sie wohl! Komm, Amadee!« rief sie mir im Vorbeistolzieren zu. »In dieses Haus setze ich nie wieder einen Fuß!« Wieder auf der Straße starb Samantha fast vor Lachen. »Das war astrein! Das war echt astrein!«

David sah aus dem Fenster. Seine Hand schmerzte immer noch und er konnte die Finger nicht abbiegen. Von hier aus hatte er den Überblick über die Kuhweide. Plötzlich sah er Direktorin Hannsen. Die Direktorin? Nein! Das konnte doch nicht sein! Doch sie war es wirklich. Sie trug einen gelben Hut. Nein, es war ein Helm! Wofür sie den brauchte? David schaute angestrengt hinaus. Sie fuchtelte mit ihren Händen herum. Plötzlich kamen von rechts Bauarbeiter, die auch alle solche Helme trugen, gefolgt von Pressereportern. David schwante Übles.

Die Bauarbeiter nahmen Spaten zur Hand und fingen an, in regelmäßigen zwei-Meter-Abständen Löcher in die Erde zu graben. Dann setzten sie Stipfel in die Löcher und schlugen sie fest. Lastwägen fuhren an, die Draht auf Rollen aufgespult transportierten – STACHELDRAHT!

David sprang auf, um Michael und Jakob zu suchen. Die beiden hatten sich gerade geduscht und befanden sich noch am Bubenklo.

»Michael! Jakob! Sie sperren uns ein!« »Was?« Michael sah ihn verständnislos an. »Drück dich verständlicher aus!«

»Sie… sie bauen einen Stacheldrahtzaun rund um die ganze Schule herum!«

»WAS?« Jakob schrie auf. »Das darf doch nicht wahr sein! Dann sind wir sozusagen ‚gefangen‘.«

Ich saß im Wohnzimmer auf der gemütlichen Couch. Wie sollte ich den Brief an meine Freunde beginnen? An manchen Tagen ließ die Direktorin sogar die Briefe an die Schüler aufschneiden, um zu sehen, ob auch nichts ins Internat geschmuggelt wurde. Da fiel es mir ein. Ich würde in Wingdings schreiben. Ich war mir fast sicher, dass keiner der Professoren diese Bilderschrift beherrschte. Doch Michael und ich konnten sie perfekt. Also schrieb ich ihm in Wingdings, doch gerade als ich zu schreiben anfangen wollte, stürmte Samantha rein.

»Lass dich nicht stören, ich will nur die Nachrichten schauen!« Sie drehte den Fernseher auf und setzte sich auf den Stuhl neben dem Tischchen. Ich setzte die Kappe auf die Füllfeder und lauschte auch gespannt den Nachrichten. Der Sprecher begann:

»Guten Abend bei der ‚Zeit im Bild‘. Wir berichten heute live über die jüngsten Geschehnisse aus Österreich: Das berühmte Hannsschen-Internat in Kärnten. Gestern Nacht brach in diesem so friedlich aussehenden Internat ein Junge namens Marc Hauser aus. Er seilte sich mit einem Strick vom Fenster ab. Wir interviewten seine Zimmerkameraden und besten Freunde. Ihren Aussagen zu entnehmen, wird im Hannsschen-Internat mit veralteten Lehrmitteln unterrichtet. Mehr darüber jetzt gleich!«

Da wurde ein Interview eingeblendet. »Das ist Michael!« rief ich voller Freude. Michael sagte nicht sehr viel, er meinte nur: »Das war die richtige Entscheidung, Marc! Viel Glück auf deinem weiteren Lebensweg!« Und dann war da noch ein Interview mit David. David sprach weit mehr. Vor allem von Dingen, über die er nichts hätte sagen sollen!

»Ja… Ich bin einer von Marcs Freunden gewesen. Er hatte guten Grund gehabt auszureißen. Ich glaube, das hatten viele in diesem Internat schon vor und haben dann nie den Mut aufgebracht, es zu tun. Ich hätte mit ihm gehen sollen. «

»Warum meinst du, dass er das Richtige getan hat?« fragte der Interviewer.

»Sehen Sie sich diese Hände an.« Er wickelte die Bandage vor der Kamera ab und zeigte seine blutigen, gebrochenen Finger her. Ich hielt den Atem an. »Sehen Sie, das macht die Direktorin mit einem, wenn man nicht genau das tut, was sie will. Sie schlägt uns immer mit einem Bambusstock auf die Finger!«

Samantha stand abrupt auf. »So eine Frechheit! Dann wundert’s die noch, wenn Kinder ausbrechen?« Dann sagte wieder der Fernsehsprecher ein paar Worte und dann wurde die Aufnahme der Bauarbeiter und des Stacheldrahtzaunes und ein Interview mit Direktorin Hannsen eingespielt.

»Ihr Armen!« dachte ich nur. Der Fernsehsprecher erklärte dann noch, dass der Sache mit dem Bambusstock nachgegangen würde und dann fingen die Auslandsnachrichten an. Samantha drehte den Fernseher ab. Das war der erste Moment, in dem ich sie nicht lächeln sah seit unserem ersten Zusammentreffen.

Mit meiner Unterschrift beendete ich den Brief an Michael. Den an Katharina hatte ich schon geschrieben. Dann steckte ich alles zusammen in einen Umschlag, den Samantha mir gab und beschriftete und frankierte alles. Noch am selben Abend lief ich zu einem Postkasten, um den Brief aufzugeben.

Nun lernte ich auch noch eine versteckte Eigenschaft von Samantha kennen. Sie war auch eine außergewöhnliche Köchin. In Sekundenschnelle zauberte sie aus einem ganz einfachen Linseneintopf ein hübsch verziertes á la card-Menü. Nach diesem stärkenden Abendessen schlief ich sofort ein. An diesem Tag hatte ich wirklich genug erlebt!

»Aufstehen, Schlafmütze!« Samantha zog mir die Decke weg. Heute müssen wir einen Job für dich finden! Schließlich kannst du ja nicht immer in Pullover und Jeans schlafen! Und was, wenn dein Gewand einmal schmutzig ist und ich es waschen soll? Dann musst du gar den ganzen Tag nackt herumlaufen!« Sie lachte. Ich reckte mich und setzte mich auf. Für einen Moment wusste ich nicht, wo ich war, doch dann fiel es mir wieder ein. Ich stand auf und verkroch mich im Badezimmer, wo ich mir zuerst einmal das Gesicht wusch. Als ich wieder herauskam, stieg mir der Geruch von Palatschinken in die Nase. Ich liebte Palatschinken! Doch im Internat hatte es so etwas nicht gegeben. Nur meine Großmutter hatte mir immer wieder Palatschinken gemacht, bevor sie dann starb.

Ich strich mir die Haare ein wenig glatt, dann lief ich die Treppe hinunter zum Esszimmer. Samantha stand in der Küche und briet Palatschinken. Wieder trug sie ein altmodisches Kleid, aber diesmal in Rot. Sie hatte eine Schürze angezogen, um ihr Kleid vor Fettflecken zu schützen. Mit einer rauchenden Pfanne kam sie angerannt und servierte mir das Frühstück noch brennend heiß auf den Teller.

»Wie lange braucht ein Brief von hier aus bis zum Hannschen-Internat?" fragte ich sie. »Hm… Normalerweise einen Tag, aber du hast den Brief ja gestern Abend aufgegeben, also dürfte er erst morgen ankommen.« Ich seufzte. Hoffentlich würde ich von meinen Freunden nicht schon für tot erklärt werden.

Die Türe wurde geöffnet. David schreckte auf. Er hatte einen sehr leichten Schlaf und wachte bei dem kleinsten Geräusch auf. Michael und Jakob dagegen schliefen weiter.

»David Bohner?! Folge mir bitte!« Das konnte nichts Gutes heißen. Trotzdem zog David sich den Morgenmantel über und folgte der Direktorin. Sie führte ihn in ihr Zimmer. Dort zog sie die dunkelroten Vorhänge zur Seite. Durch das ungeputzte Fenster konnte man draußen viele Menschen erkennen. David beugte sich vor, um besser sehen zu können. Sie trugen Schilder mit der Aufschrift: »Befreit die Kinder!« Oder »Schließt das Internat!«

Demonstranten! Sie hatten David anscheinend im Fernsehen gesehen und wollten jetzt etwas gegen diese Art von Lehrmethoden unternehmen.

»David Bohner, das ist ganz alleine dein Werk!« Ein gemeines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie zog die Vorhänge zu und hob den Bambusstock. Schreie hallten durch das Internat.

Es war schon acht Uhr. Die Geschäfte hatten wieder geöffnet und Samantha schlenderte mit mir durch die Straßen der Stadt. Bei einem Schuhmacher blieben wir stehen. Da hing ein computergeschriebener Zettel hinter dem Glasfenster mit der Aufschrift: »Schuster Heidemann sucht Arbeitsgesellen, der die fertigen Schuhe einlässt, putzt und imprägniert. Zehn Schilling pro Schuhpaar.«

»Das ist vielleicht das Richtige!« rief Samantha. »Ich kenne den Heidemann. Der könnte da vielleicht was arrangieren, dass du bei ihm schwarzarbeiten kannst!« Sie öffnete die verschnörkelte Eichenholztür, die ins Innere der Schusterei führte. Ein kleines Glöckchen läutete. Aus der Hinterkammer trat ein altes, knorriges Männchen mit langem Bart hervor.

»Ja, guten Morgen, Frau Heuer! Wie geht es Ihnen denn?«

»Danke, gut!« kam die rasche Antwort.

»Und du bist…?« Er musterte mich von oben bis unten. »Hm… Du siehst aus wie der Junge, der aus dem Internat ausgerissen ist!«

»Äh… Nein! Das kann nicht sein!« Ich suchte nach Worten.

»Brauchst dich nicht fürchten! Ich verrat’ dich schon nicht!« Mit seinen ehrlichen Augen sah er mich an. Es schien mir, als würde sein Blick mich anlachen. »Wie darf ich Ihnen helfen?« wandte er sich wieder an Samantha.

»Es geht um einen Schwarzarbeiterjob. Wir haben das Schild da draußen gesehen und fragen uns, ob das nicht möglich wäre, dass er«, sie deutete auf mich, »in der Hinterkammer arbeitet, so, dass ihn niemand sieht!«

Der Mann strich sich über den Bart. »Soso… Hm… Ja, ich glaube, das lässt sich einrichten!« Er lächelte mich an und führte mich in die Hinterkammer. »Viel Spaß noch!« rief Samantha. Ich winkte ihr zum Abschied. Der Schuster war ein netter Mann. Wenn er wieder Schuhe fertig hatte, oder jemand Schuhe zum Putzen brachte, trug er sie zu mir in die Kammer und tratschte ein bisschen mit mir, während ich putzte. Und es machte mir sogar richtigen Spaß, die Schuhe zu säubern.

Im Internat dagegen ging es turbulent zu. Die Demonstranten belagerten es von allen Seiten und weder Schüler noch Lehrer konnten das Internat verlassen. David konnte gar nicht gerade sitzen. Als Michael sich seinen Rücken mal genauer ansah, stockte er. Davids ganzer Rücken, von den Schultern bis zum Steißbein, war übersät mir leuchtend roten Striemen. Bei jeder Bewegung schmerzte es ihn. Michael verarztete David mit Pflastern, doch viel schienen diese nicht zu helfen.

Erschöpft kam ich in meinem neuen Zuhause an. Samantha wartete schon mit dem Nachtmahl auf mich. »Und wie war’s?«

»Ganz lustig!« Es war zwar nicht gerade mein Traumberuf, aber es hätte schlimmer kommen können. Ich hatte nun 200 Schilling in der Tasche.

»Marc, ich habe dir ja erzählt vom ‚Jedermann‘. Morgen um sieben gibt es wieder eine Vorstellung und ich wollte dich fragen, ob du nicht mitkommen magst!« Ich war begeistert. Sogar so begeistert, dass ich ihr um den Hals fiel. In dieser Nacht schlief ich außerordentlich gut.

David wachte auf. Er war sich nicht sicher, ob ich schon ein neues Zuhause gefunden hatte, oder noch irgendwo im Nirgendwo hockte. Er erwartete ungeduldig einen Brief von mir. Unruhig ging er im Zimmer auf und ab. Michael und Jakob schliefen noch. Dann beschloss er sich zuerst duschen zu gehen und dann einen Professor nach der Post zu fragen.

Die Demonstranten waren zum Glück der Direktorin noch nicht aus ihren Betten gekrochen. Um das Internat war es ruhig. Da fuhr ein gelber Wagen vor. Der Mann, der ihn lenkte, hupte. Direktorin Hannsen öffnete die breite Tür zum Internat und ging auf das Auto zu, das nun gehalten hatte. Ein junger Mann in blauer Uniform und mit Kappe stieg aus.

»Morgen, Frau Hannsen!« Sie erwiderte seinen Gruß nicht.

»Hier ist die Post. Ist auch was für sie dabei!« Er holte mehrere Umschläge aus dem Kofferraum des Autos und überreichte sie Hannsen. Dann lüftete er kurz die Kappe, stieg wieder ein und fuhr weiter seinen Weg zu den umliegenden Häusern. Hannsen durchstöberte die Briefe.

»Cornelia Meier, Adelheid Hannsen, Hank Proust, Michael Wester.«

Michael Wester? War das nicht dieser eine Junge aus Marcs Zimmer? Sie nahm den Brief mit in das Lehrerzimmer, wo noch viele andere Professoren ihren Unterricht vorbereiteten. Mit einem Brieföffner schnitt sie ihn auf. Sie stockte. Was war das, was da auf dem Papier stand? Waren das Zeichnungen oder eine Schrift?

»Proust! Hier ist ein Brief für Sie!« schrie Hannsen durch das Zimmer. Professor Proust erhob sich und trottete zu ihr. »Proust, Sie wissen nicht zufällig, was diese Zeichen hier bedeuten?« sagte die Direktorin zu ihm, noch bevor sie ihm den Brief reichte. Natürlich wusste Proust es. Er interessierte sich für ausgefallene Schriften.

Er nahm den Brief und las ihn sich durch. Sollte er der Direktorin sagen, was der Inhalt des Briefes war? Nein! So wie sie immer herumschrie…

»Tut mir leid, Kollegin, aber diese Art von Bilderschrift ist mir unbekannt.«

»Sind Sie sich sicher?« fragte Hannsen, die ihm nicht ganz traute. Doch er nickte nur. Als sie wieder ging, um jemand anderen zu fragen, zückte er jedoch einen Notizblock und notierte darauf eine Adresse.

Alle saßen beim Frühstückstisch, wo es wie jeden Morgen zähe Semmeln gab. Professor Krane teilte die Post an die Schüler aus. Erwartungsvoll beobachtete Michael sie. Sie kam auf ihn zu und… »Wester, Post für dich!« Sie reichte ihm den Brief. Er wusste sofort, von wem dieser war. Doch dann sah er, dass der Umschlag aufgeschnitten worden war. Oh nein… Wenn Marc nun sein Versteck verraten hatte? Er beschloss den Brief erst im Zimmer zu öffnen. Dort angekommen setzte er sich zu David aufs Bett, der noch immer große Schmerzen hatte und entfaltete den Brief. Doch als er den Inhalt gesehen hatte, musste er lachen. Ja, Marc war wirklich schlau. Michael las laut vor:

»Lieber Michael, Lieber Jakob, Lieber David!

Mir geht es wirklich spitze. Eine junge Frau hat mich einfach so vor einem Polizisten geschützt und mich eingeladen, bei ihr zu wohnen. Sie ist einfach wunderbar. Sie ist Schauspielerin von Beruf. Sie spielt mit beim ‚Jedermann‘. Hoffentlich lädt sie mich einmal ein, ihr dabei zuzuschauen. Vielleicht könnt ihr mir mal Briefe an ihre Adresse schreiben, aber mit der Anschrift: An Tante, oder an Taufpatin, oder sowas. Die Adresse ist: Samantha Heuer, Blumenweg 12, EX12RBZ.

Wisst ihr zufällig, wo Exeter ist? Hm, vielleicht könnt ihr mir mal dorthin schreiben. Samanthas Haus ist auch wunderbar. Morgen gehen wir einen Job für mich suchen.

Ich habe euer Interview gesehen. Geht es David schon besser? Ich hoffe, der Staat kommt dahinter, was sich in diesem Internat in Wirklichkeit abspielt. Gib bitte wieder den beigelegten Brief an Katharina weiter.

Marc.«

David lächelte. »Wenigstens einer von uns, dem es gut geht!« Michael lief hinunter zu Katharina. Heute gab es im Internat keinen Unterricht, denn es war Samstag. Katharina lief rot an, als sie den Brief fertig gelesen hatte. Ihrer war zwar in normaler Schreibschrift geschrieben, doch dafür war keine Adresse angegeben.

Ich hatte mich bereit erklärt, auch samstags zu arbeiten. Schuster Heidemann freute das sehr. Dann war er wenigstens nicht ganz so alleine. Dafür arbeitete ich samstags nur vormittags.

»Ähm… Frau Direktor… Darf ich mir den heutigen Nachmittag freinehmen?«

»Aus welchem Grund?« fauchte Hannsen Professor Proust an.

»Weil… Weil meine Schwester schwer krank ist.«

»Gerne, gerne! Dafür arbeiten sie das nächste Wochenende eben auch am Sonntag!«

Hannsen grinste gemein. Leicht gekränkt setzte Proust seinen Hut auf und verließ das Internat. Er setzte sich in sein Auto und sah auf die Landkarte. Exeter war nicht sehr weit vom Internat entfernt. 22 km musste man fahren. Proust fuhr los. Auch die angegebene Blumenstraße 12 hatte er bald gefunden.

Er klopfte an die Tür des blauen, hübschen Häuschens. Eine junge Dame in altmodischer Kleidung öffnete. »Ja?«

Er räusperte sich. »Guten Tag! Sie sind wohl Frau Heuer, nicht wahr?«

»Ja. Und Sie sind…?«

»Professor Hank Proust, Sozialkundelehrer am Hannschen-Internat." Samantha presste sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Ko… Kommen Sie doch rein!« sagte sie zögernd.

Sie kochte ihm einen Kaffee. Dann setzte sie sich zu ihm ins Wohnzimmer. Er sah sich um.

»Hm… Hier scheint es Marc ja ziemlich gut zu gehen!« meinte er.

Samantha sah bedrückt zu Boden. »Bitte… bitte nehmen Sie ihn mir nicht weg! Hier geht es ihm doch viel besser als im Internat!«

»Ja, ich weiß. Aber es ist wohl oder übel meine Pflicht als Mitwisser, ihn zurückzubringen. Wenn sie wollen, sage ich keinem, wo ich ihn aufgestöbert habe.«

»Nein, daran liegt mir gar nicht so viel. Mir tun nur diese Kinder so Leid. Und er, der er es geschafft hat, sich zu befreien, und mir ans Herz gewachsen ist, der wird mir wieder weggenommen.«

Da ging die Türe auf. »Hallo Samantha!« Ich trat ein. »Stell dir vor, heute hab ich 150 Schilling…« Ich stockte und blieb wie versteinert stehen. »Hallo Marc«, sagte Professor Proust. Ich war am Boden zerstört und mir fehlten für einige Sekunden die Worte.

»Pro… Pro… Professor!« Ich war wie vom Blitz getroffen.

»So, Marc! Jetzt muss ich dich wieder mitnehmen ins Internat!«

Ich klammerte mich am Heizkörper fest. »Nein! Nie wieder geh’ ich dort hin!«

»Du musst aber!« Hilfesuchend sah ich zu Samantha, doch diese blickte nur bedrückt zu Boden. Dann sprach sie Professor Proust an. »Kann er nicht wenigstens noch bis heute Abend bleiben?« Sie sah ein, dass es sinnlos war, noch weiter zu versuchen, Proust zu überreden, mich nicht mitzunehmen. »Ich glaube, das lässt sich einrichten.«, antwortete dieser.

Fast doppelt so viele Demonstranten wie am Vortag hatten sich vor dem Hannschen-Internat versammelt. Die Menge teilte sich und ein wichtig aussehender Mann trat vor. Er klopfte an die große Flügeltüre des Internats. Durch das Glasfenster in der Tür konnte man sehen, dass eine Professorin vortrat. Als der Mann von außen eine Überprüfungsbestätigung der Schulbehörde gegen das Glasfenster drückte, sperrte sie auf, doch nachdem er eingetreten war, verschloss sie sofort wieder die Türe, um keinen Demonstranten den Eintritt zu ermöglichen.

»Was wollen Sie?« fauchte die Professorin ihn an.

»Ich wurde von der Schulbehörde gesandt, um zu überprüfen, ob in diesem Internat auch alles im rechten Lot ist. Es gehen ja Gerüchte um, dass auf diesem Internat mit veralteten Lehrmethoden gearbeitet werden soll.«

Die Professorin lief rot an. »Davon ist mir nichts bekannt!«

»Ich würde Sie höflichst ersuchen, mir den Weg zum Direktorenzimmer zu zeigen.« Sie nickte und ging voran. Vor einer hölzernen Tüe blieb sie stehen und klopfte. Eine barsche Stimme lies ein »Herein!« hören. Der Schulbehördetyp trat ein.

»Wer sind Sie und was wollen Sie?«

»Ich wurde von der Schulbehörde gesandt, um den Gerüchten nachzugehen, dass an diesem Internat mit veralteten Lehrmethoden gearbeitet werden würde.«

»Oh… von der Schulbehörde!« Hannsens Stimme war nun zuckersüß. »Ach, Sie wissen doch wie das ist… Gerüchte!«

»Ja und ich bin gekommen, um ihre Unschuld zu beweisen, falls es Gerüchte sind. Oder das Gegenteil!« Ein kaltes Lächeln glitt über seine Lippen. »Bitte führen Sie mich zu diesem Jungen, der in den Nachrichten seine Hände gezeigt hat.«

»Nein! Das geht nicht!«

»Aber wieso denn nicht? Haben Sie etwa Angst, dass ich hinter ein verbotenes Geheimnis komme?«

Hannsen gab nach und führte den Mann mit hängenden Schultern zu Davids Zimmer. Er trat ein. »Wer von euch ist David Ester?« David trat vor. »Zeig mir bitte deine Hände." David wickelte wieder die Bandagen weg und zeigte dem Mann seine Hände. Die Finger waren blutig und anscheinend gebrochen, denn sie waren seltsam gekrümmt.

»Gut, hast du sonst noch wo ‚angebliche‘ Wunden von Peitschen oder anderen verbotenen Lehrdingen?«

David zog das T-Shirt aus und zeigte dem Mann seinen Rücken. Dieser war sehr beeindruckt. Hannsen konnte gar nicht hinschauen. Der Beauftragte zog eilig seinen Notizblock aus der Tasche und notierte sich darauf das Gesehene.

»Und was ist das Tatwerkzeug?«

»Ein Bambusstock«, antworteten Michael, Jakob und David wie aus einem Mund.

»Gibt es noch andere Schüler mit derartigen Verletzungen?«

»Ich bin mir ziemlich sicher«, meinte David.

»Frau Hannsen. Ich würde Ihnen raten, gleich mit der Wahrheit herauszurücken, dann könnten sie sich vielleicht sogar Ärger ersparen.«

Mit gesenktem Kopf führte Hannsen ihn in das Lehrerzimmer. Dort holte sie aus einer Schublade einen Bambusstock heraus.

»Dankeschön!« rief der Beauftragte und notierte sich wieder etwas. Dann lüftete er den Hut und verließ das Internat.

»Um acht Uhr fahre ich mit dir«, meinte Proust. Ich ließ den Kopf hängen. Samantha schaute auf die Uhr. Es war jetzt sieben Uhr.

»Wenn es Sie nicht stört, schalte ich jetzt die Nachrichten ein«, sagte sie zu Proust.

»Aber ganz und gar nicht! Die schaue ich ja selber gerne!«

Sie knipste den Apparat an. Da war auch schon der Fernsehsprecher zu sehen.

»Willkommen bei der ‚Zeit im Bild‘. Und hier mit den News zum Thema ‚Hannschen-Internat‘. Wie wir soeben erfahren haben, wurde vor einer Stunde Martin Sothor beauftragt, im Namen der Schulbehörde Kärnten dem Hannschen-Internat einen Besuch abzustatten. Vor einer halben Stunde erfuhren wir etwas Erfreuliches für die Schüler des Internats: Der Beauftragte bestätigte den Gebrauch von illegalen Lehrmethoden am Hannschen-Internat. Die Direktorin gestand. Das Internat wird noch heute Abend geschlossen. Da wir von von seinen Zimmerkollegen erfuhren, dass Marc Hauser, der Vorgestern Nacht aus dem Internat ausgebrochen ist, noch am Leben ist und sogar schon eine neue Familie gefunden hat, fordern wir ihn auf, zum Internat zurückzukommen. Marc, dir kann nichts passieren, keiner wird schimpfen, ins Internat musst du auch nicht mehr. Wir fordern dich nur auf zurückzukommen.

Außerdem stehen viele Kinder, die von ihren Eltern einfach so ins Internat gesteckt wurden, weil zu wenig Geld vorhanden ist, um für die Kinder zu sorgen, nun zur Adoption frei. Falls Sie daran interessiert sind, kommen Sie hier zum Hannschen-Internat. Und nun zu den Auslandsnachrichten…«

Samantha drehte den Fernseher ab.

»Aber… Aber… Das ist ja unglaublich!« Sie fiel Marc um den Hals.

»So, dann ist meine Aufgabe wohl erfüllt«, meinte Proust. Und gerade wollte er gehen, als Samantha ihm nachrief: »Mister Proust, können Sie uns mitnehmen zum Hannschen-Internat? Ich glaube, ich muss da noch jemanden adoptieren!«

Sie zwinkerte mir zu. Ich sprang auf, fiel ihr um den Hals und rief: »Danke, zukünftige Familie!«