Dietmar Grimm (14)

Sturm im Wald

Vor vielen hundert Jahren, im Mittelalter, gab es eine kleine Stadt, die mitten in einem riesigen dunklen Wald lag. Hier lebten vor allem Bauern, Holzfäller und Jäger. Insgesamt führte man hier ein recht idyllisches und sorgenfreies Leben. Ein Problem gab es jedoch. Durch die gigantischen Weiten des Waldes drang kein Wind, und so musste das auf den Feldern geerntete Korn zum Mahlen zu Mühlen gebracht werden, die außerhalb des Waldes lagen. Da der Wald sehr groß war, lagen eben diese Mühlen sehr, sehr weit von der kleinen Stadt entfernt. Tage brauchten die Bauern, um durch den Wald zu kommen und zu den Mühlen zu gelangen. Außerdem mussten sie auch noch sehr viel Geld bezahlen: Einmal, um ihr Korn in den Mühlen mahlen zu dürfen, und dann waren da noch die vielen Wegelagerer und Räuber, die im Wald lebten. Sie verlangten Zölle von den Bauern, damit die ihr Revier durchqueren durften. Man hatte sich jedoch mit all diesen Problemen abgefunden und machte sich keine allzu großen Sorgen.

Das änderte sich schlagartig, als der alte Graf starb und sein Sohn die Macht in der kleinen Stadt übernahm. Der wollte den Räubern unbedingt Einhalt gebieten. Als erstes schickte er Ritter in den Wald, um die Gauner zu jagen und ihre Verstecke zu finden. Als das nicht wirkte, weil der Wald zu groß war, ließ er die Bauerntrecks, die zu den Mühlen außerhalb des Waldes zogen, bewachen. Auch das half nichts, da die Räuber immer so blitzartig und unerwartet angriffen.

Der junge Graf tobte vor Wut, war jedoch fest entschlossen, die Räubereien und die Abhängigkeit zu Mühlen außerhalb des Waldes zu beenden. »Wir brauchen Wind, um unsere eigenen Mühlen betreiben zu können!« überlegte er, und nach einer Weile hatte wer auch eine Idee: Er hatte mal etwas von einem Magier gehört, der mitten im Wald leben sollte. Vielleicht könnte er ihm helfen. Sein Vater war dort immer hingegangen, wenn er gesundheitliche Beschwerden hatte. Kurz vor seinem Tod hatte er seinem Sohn den Standort der Hütte des Magiers gesagt.

Am nächsten Tag also machte sich der Graf auf in den Wald und kämpfte sich auf einem alten Pfad durch das Dickicht. Nach einer Weile entdeckte er eine alte, aus morschem Holz gebaute und mit Moos bedeckte Hütte, die auf einer kleinen Lichtung lag. Der junge Graf klopfte an die Tür, und ein kleiner alter Mann mit langem weißen Bart, Buckel und einem faltigen Gesicht öffnete und bat ihn in einen kleinen, nur schwach beleuchteten Raum.

Als sie sich auf den feuchten Boden gesetzt hatten, erklärte der junge Graf dem Waldzauberer sein Anliegen. Dieser hörte zu, und als der Graf fertig war, schüttelte er grinsend den Kopf und krächzte: »Dein Vater hatte die gleiche Idee, auch er wollte das Korn nicht mehr zu den Mühlen außerhalb des Waldes schaffen, und auch er wollte hier Wind haben, um eigene Mühlen betreiben zu können. Aber höre: Bleibt ihr hier lieber bei der Jagd und beim Holzfällen, oder schafft euer Korn weiterhin in die Mühlen außerhalb des Waldes. Ich selbst kann keinen Wind herbeizaubern, das kann nur ein bösartiger Waldgeist, der in einem Felsbrocken hier im Wald gefangen gehalten wird. Es ist seine Spezialität, gewaltige Stürme herbeizuzaubern, und hatte damals ganze Landschaften verwüstet. Mein Vater schuf diesen gewaltigen Wald und verzauberte die Bäume zusätzlich, so dass kein Windlein hindurchkam. Die Stürme des Geistes zerbrachen an den gewaltigen Bäumen, und er wurde schwach. Daraufhin sperrte ihn mein Vater in einen Felsen ein, wo er auch heute noch gefangen ist. Falls du sein Gefängnis sehen willst, hier ist eine Karte für dich, die dich zum Standort des Steines führt. Aber du siehst: Es gibt keine Möglichkeit, auch nur ein Lüftchen zu euch in die Stadt zu bringen.«

Traurig ging der junge Graf davon und lief nach Hause. Die Beschwerden der Bauern über den langen Weg, die Räuber und die hohen Kosten in den Mühlen veranlassten ihn jedoch dazu, doch das Gefängnis des Waldgeistes zu suchen.

Er machte sich auf in den Wald. Nach einer Stunde Marsch stand er vor einem kleinen Erdhügel, auf dem ein etwa drei Meter großer, eiförmiger Fels thronte.

»Waldgeist, wach auf!« rief der Graf.

»Wer stört mich?« kam es aus dem Stein.

»Das ist nicht so wichtig. Wichtig ist nur, dass ich Wind für meine Mühlen hier im Wald brauche.«

»Ah, da kann ich dir helfen. Um mich zu befreien, musst du den Nachkommen meines Einsperrers töten!« rief der Waldgeist.

Der Graf schluckte schwer und ging langsam.

»Denk an das Wohl deiner Stadt« schrie ihm der Geist hinterher.

Nach dreitägiger Überlegung überwand sich der Graf und erschlug den alten Magier, da dessen Vater den Waldgeist in den Stein gesperrt hatte. Zeitgleich mit dem Mord zersprang der Fels mit einem lauten Knall, und ein Sturm kam auf, der alles verwüstete: Bäume, Häuser, Berge, Menschen, Tiere… alles flog unter einem grausamen Getöse umher.

Nach zwei Wochen solchen Sturmes war der Waldgeist müde geworden und legte sich in den Ruinen der alten Stadt zur Ruhe. Seitdem liegt dort, wo früher einmal die Stadt und der Wald lagen, nur eine zerklüftete Kraterlandschaft. Kein Mensch oder Tier hat sich je wieder dorthin getraut.