Dietmar Grimm (14)

Der Rathausbau von Harzgerode

Wer genau hinsieht, wird entdecken, dass das Harzgeroder Rathaus unten grau und relativ schlicht ist, oben aber wie ein Fachwerkhaus aussieht. Und das kam so:

Um 1900 herrschte in der kleinen blühenden Stadt der Bürgermeister Walter Müller mit strenger Hand. Er war sehr genau, sparsam und liebte das Schlichte. Außerdem unterdrückte er die Bauern, die in Harzgerode lebten. Er dachte noch wie im Mittelalter, wenn es um Bauern ging. Er hielt sie für dumm und für die untersten Tiere der Gesellschaft, welche die Oberen ernähren müssten. Müller behandelte die Bauern wie Mist, verweigerte ihnen die Schulbildung und grenzte sie aus der Gesellschaft aus. Er forderte sie sogar auf, die Stadt zu verlassen und aufs Land zu ziehen.

Die Bauern versuchten sich mit aller Gewalt zu wehren. Jedoch schlug Müller alle Aufstände nieder und bestrafte die Bauern hart. So hielten alle Bauern lieber den Mund und lebten weiterhin in der Unterdrückung.

Eines Tages brach im Rathaus aus ungeklärten Gründen ein Feuer aus. Das Rathaus konnte nicht gerettet werden und wurde total zerstört. Der Bürgermeister entschloss sich, ein neues Rathaus zu bauen. Eigentlich war ihm das sehr recht, da das Alte sehr groß, schön und prunkvoll war. Das verschlang erstens eine Menge Geld an Instandhaltungskosten und zweitens weckte das Rathaus den Eindruck, die Stadt würde im Luxus leben und hätte Geld im Überfluss. Müller wollte jedoch ein Rathaus, das für die harte Arbeit und das Schlichte der Stadt stehen sollte. Und so sahen die Anfänge dann auch aus: Graue, monotone Wände mit ein paar kleinen Fenstern und dunklen Gläsern.

Während dieser Geschehnisse versammelte der Bauer Peter Meier viele andere Landwirte vor seinem Haus am Stadtrand. Er sagte, dass er vorhabe, einen neuen Aufstand gegen Müller anzuzetteln. Die Bauern waren sofort Feuer und Flamme: »Ich sorge für Gewehre!« rief einer. »Ich für Munition!« sprach ein anderer. »Und ich für Kanonen!« plärrte noch einer.

Meier brachte Ruhe in die Runde und sprach: »Es ist doch gerade Erntezeit, bringt eure Erzeugnisse jedoch nicht in die Stadt, sondern in die große Höhle hier im Wald. Wir werden einfach für einige Zeit die Arbeit verweigern.«

Die Bauern taten dies, und schon bald wurde dem Bürgermeister Müller berichtet, dass man nichts mehr zu essen hätte. »Die Bauern wollen ihre Ernte einfach nicht in die Stadt bringen!« sprach ein Bote zum Bürgermeister.

»Wenn sie uns das Essen nicht bringen wollen, holen wir es uns eben. Schickt die Polizei!« schrie der Bürgermeister.

Doch die Polizei blieb erfolglos. Sie durchsuchten jedes Bauernhaus, fanden jedoch nichts, und die Bauern wollten einfach nicht sagen, wo sie ihre Ernte hingebracht hatten.

Da die Bewohner von Harzgerode langsam unruhig wurden, überwand sich Müller und lud den Bauernführer Peter Meier ein, um sich seine Forderungen anzuhören.

Als sich die beiden Kontrahenten trafen, begann Meier sofort mit seinen Forderungen: »Also, Müller, wenn Sie wollen, dass wir weiterhin Nahrung für Ihre Stadt produzieren, verlangen wir mehr Rechte. Wenn Sie uns töten oder vertreiben, werden Sie nie mehr etwas Essbares in Harzgerode haben. Dann würden die Bürger auswandern, und das wäre Ihr Ende. Es hängt jetzt von Ihnen ab.«

Müller wurde wütend: »Jetzt reicht’s, das kann doch so schwer nicht sein! Man steckt was in die Erde und zieht es nach einer Weile wieder raus. Wenn ihr euch weigert zu arbeiten, übernehmen wir jetzt die Feldarbeit.«

So trennten sich beide. Müller befahl, dass jetzt jeder nach Feierabend noch zwei Stunden Feldarbeit betreiben sollte. Meier jedoch sagte, dass jetzt erst mal eine lustige Zeit auf die Bauern zukäme. Und er hatte Recht: Jeden Abend standen die Bauern am Feldrand und sahen lächelnd zu, wie der Schlosser versuchte, Weizen zu säen, die Schneiderin sich am Kuhmelken versuchte und der Polizeihauptkommissar versuchte, Rüben zu stecken. Es gelang jedoch natürlich nichts, und auf den Feldern herrschte Chaos.

Jetzt erkannte der Bürgermeister, dass Landwirtschaft nicht gerade einfach ist und dass man viel wissen muss, um sie richtig zu betreiben. Als Harzgerode kurz vor der Hungersnot stand, lud Müller den Bauernsprecher Meier in eine Kneipe ein und gewährte ihm alles, was dieser forderte.

Müller konnte diese Niederlage nicht verkraften und legte sein Amt nieder. Peter Meier wurde neuer Bürgermeister. Als Zeichen des Bauernsieges baute er den oberen Teil des neuen Rathauses im Stil eines Fachwerkhauses. Aber richtig schön farbenfroh, mit vielen kleinen Fenstern und Erkern. So steht das Rathaus noch heute am Harzgeroder Marktplatz und erinnnert an das Ende der Bauernunterdrückung.